[In Kooperation mit der Rebschule Martin] geht es in diesem klassischen long read um ziemlich zentrale Fragen der Weinwelt: Was ist eine Rebsorte? Was ist ein Klon? Wie züchtet man neue Rebsorten? Wie registriert man sie? Was macht man, wenn man ganz alte Rebsorten entdeckt? Und welche Auswirkungen kann es haben, wenn man sich nicht einig ist? Ich habe mich neben viel Literaturrecherche mit einer Reihe von ausgewiesenen Experten zum Thema unterhalten, die hier alle zu Wort kommen werden. Das Ergebnis: außerordentlich spannend, manchmal überraschend kontrovers.
Wie alles begann…
Ulrich Martin ist Rebveredler in Gundheim, nur wenige Kilometer entfernt von den berühmten rheinhessischen GG-Lagen um Westhofen und Flörsheim-Dalsheim. Sein Geld verdient er entsprechend in erster Linie mit der Veredlung und dem Verkauf bewährter klassischer Sorten wie Riesling oder Weißburgunder. Darüber hinaus hat ihn jedoch ein Virus gepackt, dem er schon viel Aufwand und Leidenschaft gewidmet hat. Die Rede ist von so genannten Historischen Rebsorten, also alten, einstmals hier heimischen und dann praktisch wieder vergessenen Sorten, die Rebforscher Andreas Jung im Rahmen eines Forschungsprojekts in uralten oder gar aufgelassenen Weinbergen in ganz Deutschland wiederentdeckt hat. Aus dieser Tätigkeit, und weil ich selbst schon mit großem Interesse diese historischen Rebsorten probiert habe, kenne ich Herrn Martin.
Vor kurzem sprachen wir miteinander, und Ulrich Martin erwähnte, dass ihm trotz 40jähriger Berufstätigkeit als Rebveredler und Winzer erst vor kurzem klargeworden sei, wie wichtig der Themenbereich der Ampelographie tatsächlich ist. Also, wie Wikipedia es ausdrückt, die »Bestimmung und Beschreibung der Rebsorten sowie ihre wissenschaftliche Klassifizierung«. Und dass dieser Bereich in der Weinfachwelt kaum beachtet wird. Mein Auftrag lautet also: einen gut verständlichen Artikel zu schreiben, der den Prozess des Werdens, des Bestimmens und Festlegens von Rebsorten umfasst.
Teil I – Wie neue Rebsorten entstehen
Weinbau wird in der Geschichte der Menschheit seit vielen Tausend Jahren betrieben. Die Pflanzengattung der Weinreben (Vitis) umfasst rund 60 Arten, von denen eine unsere edle Weinrebe Vitis vinifera ist. Von dieser wiederum gibt es zwischen 5.000 und 10.000 sogenannte Rebsorten, obwohl man eigentlich von Kultivaren sprechen müsste, weil es sich nicht um Sorten im botanischen Sinne handelt. Der Grund liegt darin, dass all diese Rebsorten, um entsprechend stabil zu sein, mit menschlicher Hilfe vermehrt werden müssen. Die Natur bevorzugt nämlich die sexuelle Vermehrung und setzt dabei auf maximale Diversität. Aus jedem Traubenkern würde daher eine eigene neue Rebsorte entstehen können.
Um eine solche Rebsorte stabil zu halten, darf sie nicht aus dem Traubenkern gezogen werden, sondern muss vegetativ vermehrt werden. Das geschieht, indem einjährige Triebe (Edelreiser) von einem Rebstock geschnitten und eingepflanzt bzw. auf eine Unterlage gepfropft werden. Diese Art der Fortpflanzung beruht also ausschließlich auf Zellteilung. Es wird kein neues Erbgut hinzugefügt, sondern dasjenige der Ursprungspflanze bleibt bestehen. All unsere Rebsorten, wie sie in Datenbanken wie dem Vitis International Variety Catalogue gesammelt und letztlich dann bei Institutionen wie dem Bundessortenamt zugelassen werden, haben sozusagen diesen Parcours durchlaufen.
Um aber das Procedere bei den Neuzüchtungen genauer zu verstehen, habe ich mich zunächst an Dr. Oliver Trapp gewandt. Er ist Genetiker und stellvertretender Leiter des Julius Kühn-Instituts für Rebenforschung. Nach seinem Standort in der Nähe von Siebeldingen in der Pfalz ist die Einrichtung in Weinkreisen auch unter dem Namen »Geilweilerhof« bekannt.
Wie werden Rebsorten neu gezüchtet?
Neuzüchtungen haben in Kreisen von Weinliebhaber*innen meist keinen guten Ruf. Das überrascht auch nicht sonderlich, wenn man sich die ersten derartigen Versuche vergegenwärtigt. In Frankreich hatte man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts primär ein Ziel im Auge: Ertrag. Und im notorisch kühlen Deutschland ging es ein paar Jahrzehnte später um ein weiteres: Mostgewicht. Dabei besteht zwar kein Zusammenhang mit dem Akt der Neuzüchtung an sich, dafür aber mit dem Zeitkontext. In einer Zeit während und nach Kriegen und Krisen ging es in der Landwirtschaft um stabile Mengen.
Und was ist heutzutage das Ziel von Neuzüchtungen? »Hauptsächlicher Faktor sind Schädlinge und Schaderreger im Weinbau«, sagt Oliver Trapp. »Wir wollen neue Sorten entwickeln, die dagegen widerstandsfähiger sind. Neuerdings treibt uns auch der Klimawandel um.« Kann man da nicht Rebsorten mit einer größeren Hitzetoleranz anbauen? »Ja, natürlich, das passiert auch zunehmend. Aber wir Züchter sagen, wenn es schon eine neue Sorte sein muss, warum dann nicht eine, die auch andere positive Eigenschaften wie Resistenzen hat.«
Tatsächlich gab es Neuzüchtungen mit Resistenzeigenschaften bereits recht früh nach der Reblauskatastrophe und den Erfahrungen mit neuen Krankheiten wie Falscher und Echter Mehltau – vor allem in Frankreich. »Der Bedarf war zunächst enorm«, sagt Trapp. »Bis zu einem Drittel der Anbaufläche in Frankreich waren mit solchen Hybridsorten bestockt. Aber die Qualität ließ oft sehr zu wünschen übrig.« Wie bei unseren Mostgewichtsmonstern. »Das Problem bei den damaligen Hybriden«, erläutert der Genetiker weiter, «waren die oft nicht final durchgeprüften Zuchtstämme. Die hätte man noch mehrfach mit der vinifera rückkreuzen müssen, um dann letztendlich eine Pflanze zu erhalten, die Resistenz und Qualität besitzt.«
Neue Piwis braucht das Land
Die schlechte Qualität vieler französischer Hybriden führte in Frankreich selbst zu einer Radikalreaktion des Staates: Letztlich wurden alle pauschal verboten, weil sie nicht dem »französischen Qualitätsniveau« entsprachen. Selbst solche Sorten, die das Zeug für eine höhere Qualität gehabt hätten. Diese schlechten Erfahrungen mit Neuzüchtungen steckten aber, so Oliver Trapp, auch heute noch im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung. »Die Skepsis besteht oftmals weiterhin. Das Argument lautet, dass unsere neuen Piwis doch nichts taugen können, weil es ja Hybriden wären. Solche Skeptiker muss man erst langwierig von der Qualität überzeugen.«
A propos langwierig: Wie gestaltet sich eigentlich ein solcher Neuzüchtungsprozess? »Schon langwierig«, lacht Trapp, »aber schließlich blühen die Reben ja auch nur einmal im Jahr.« Möchte man eine klassische Sorte wie den Riesling mit einer resistenten Wildrebe kreuzen, brauchen wir zunächst eine gezielte sexuelle Vereinigung. Also genau das, was für die Weitervermehrung der dann genetisch stabilen Rebsorte später nicht mehr erwünscht ist. »Riesling hat ein zusätzliches Problem – eigentlich fast alle in Deutschland im Anbau befindlichen Rebsorten«, erläutert Trapp. »Er ist nämlich zwittrig, könnte sich also selbst bestäuben. Also zupfen zur Blütezeit viele Mitarbeiter*innen die Blütenkäppchen von den Gescheinen ab, entfernen also die männlichen Blütenbestandteile. Dann wird der Pollen der Wildrebe gezielt aufgetragen. Am Ende der Saison bekommen wir so ein paar Trauben. Man kann dann die Kerne auswaschen und hätte mit jedem Kern potenziell wieder eine neue Sorte.«
Im nächsten Jahr werden die Kerne angezogen und auf Resistenzen getestet. »Das kann man sich ähnlich wie bei einem Vaterschaftstest vorstellen. Man schaut also mit molekularbiologischen Methoden in den Sämling, ob die Resistenz von dem Elternteil übernommen wurde.« In der nächsten Saison werden diese »guten« Sämlinge dann ausgepflanzt. Die Pflanzen stehen wurzelecht im Feld, es gibt keinerlei Pflanzenschutz, und so kann jeder Stock noch einmal gezielt angeschaut werden. Auf Resistenz, aber auch auf weinbauliche Eigenschaften.
Das Werden einer neuen Rebsorte
Die weinbaulichen Eigenschaften beschränken sich jedoch nicht nur auf den Wuchs oder den – im Idealfall ausgewogenen – Ertrag. Oliver Trapp beschreibt das weitere Vorgehen: »Wir machen tatsächlich in diesem Stadium teilweise schon Wein daraus – sogar aus einem einzigen Stock. Manchmal ist das nicht mehr als ein halber Liter je Sorte. Unser Forschungsweinkeller unterscheidet sich also durchaus von den normalen Betrieben…« Überzeugen dann Pflanze und Wein, werden die Stöcke diesmal vegetativ vermehrt und schon auf Unterlagen gepfropft. Im nächsten Jahr sind es zehn Pflanzen je Sorte, im übernächsten 50, und wenn das wieder überzeugt – es gibt jedes Jahr im August eine öffentliche Weinprobe, bei der man solche Zuchtlinien probieren und bewerten kann – werden in der nächsten Stufe etwa 1.000 Rebstöcke gezogen. Der daraus gekelterte Wein kommt dann in den Verkauf. »Ab diesem Stadium wollen wir sehen, wie der Markt darauf reagiert.«
Aber das alles läuft noch vollkommen ohne Beteiligung des Bundessortenamts ab? »Ja«, sagt Trapp, »da melden wir die Sorte natürlich erst an, wenn wir wissen, dass wir sie wirklich in den kommerziellen Anbau bringen wollen.« Und wie viel Zeit ist bis hierhin vergangen? »Nehmen wir mal den Calardis Blanc als Beispiel. Der wurde im Jahr 1993 gekreuzt. Im Jahr 2013 oder 2014 haben wir die Entscheidung getroffen, dass wir die Sorte beim Bundessortenamt anmelden wollen. 20 Jahre also.« Muss das so lange dauern? »Wir testen lieber ein bisschen länger«, gibt Trapp zu bedenken. »Die Erfahrung hat nämlich gezeigt, wenn ein Winzer schlechte Erfahrungen mit einer Sorte gemacht hat, dann ist das nicht die Sorte XY gewesen, sondern es richtet sich gegen alle Piwis. Und das wollen wir vermeiden.«
Teil II – Wie Rebsorten registriert werden
Szenenwechsel. Das Bundessortenamt in Hannover wurde im Jahr 1953 gegründet und besitzt zwei große Aufgabenkomplexe: den Sortenschutz und die Sortenzulassung. Eine der sieben Prüfstellen des Bundessortenamts befindet sich im pfälzischen Hassloch und ist für den Bereich Reben zuständig. Ich spreche mit Benedikt Paeßens, der die Prüfstelle seit drei Jahren leitet.
Was ist also der Sortenschutz, will ich von Herrn Paeßens wissen. »Das ist der Schutz des geistigen Eigentums, ähnlich wie ein Patent. Ein Patent selbst kann es allerdings nicht sein, weil Pflanzensorten nicht patentierbar sind. Eine Sorte zu züchten dauert in der Regel viele Jahre und ist teuer. Da liegt es natürlich im Interesse der Züchter, dass sie selbst auch diesen Züchtungsfortschritt, die neue Sorte – eben das geistige Eigentum an der Züchtung – nutzen und letztlich damit auch den Züchtungsprozess refinanzieren können.«
Und was ist dann die Sortenzulassung? »Die Sortenzulassung ist erforderlich, um Saatgut, dazu gehört auch Pflanzgut, zu gewerblichen Zwecken in Verkehr bringen zu dürfen«, erklärt Herr Paeßens. Also den Verkauf der Stecklinge. Da wir ja wollen, dass sich die neu gezüchteten Sorten auch verbreiten, dürfte dieser Punkt nicht ganz unwesentlich sein. In dem Antrag auf Sortenzulassung muss man beispielsweise angeben, ob man die Sorte bereits in einem anderen Vertragsstaat angemeldet hat und ob es sich um eine Rot- oder eine Weißweinsorte handelt. Das erscheint noch recht problemlos. Der Knackpunkt liegt jedoch in der Beschreibung der Merkmale. Wer sich die ganze Zeit gefragt haben sollte, wann es den endlich zu den angekündigten Kontroversen kommt, hier liegt eine davon verborgen.
Die UPOV und die Sortenmerkmale
Dabei sieht es zunächst noch nicht danach aus. Diese Sortenbeschreibung anhand verschiedener Merkmale und ihrer Ausprägungen ist nämlich logischerweise kein freier Fließtext, sondern vielmehr genau reglementiert.
Die UPOV (ausgeschrieben »Union internationale pour la protection des obtentions végétales«) mit Sitz in Genf ist eine zwischenstaatliche Organisation zum Schutz von Pflanzenzüchtungen. 78 Länder sind dort Mitglied, unter anderem Deutschland. Die UPOV arbeitet bezüglich der Merkmale von Rebsorten mit Guidelines ähnlich einer Checkliste, die man sich auch herunterladen kann. 44 Merkmale sind dort aufgelistet, nach denen Rebsorten voneinander unterschieden werden können. Morphologisch, nicht genetisch, also vom Phänotyp her.
Als Beispiel sei hier das Merkmal mit der Nummer 33 aufgeführt mit der Überschrift »Traube: Dichte«. Fünf formulierte Ausprägungen stehen da zur Auswahl, nämlich »sehr locker«, »locker«, »mittel«, »dicht« und »sehr dicht«. Zu jeder Ausprägung wird jeweils eine dafür typische Rebsorte genannt. »Mittel« ist beispielsweise der Chasselas oder Gutedel, »sehr dicht« der Meunier oder Schwarzriesling. Dazu gibt es auch Zahlenwerte auf einer neunstufigen Skala, die so genannten Noten: Eine sehr lockere Traube bekommt eine 1, eine mittlere eine 5 und eine sehr dichte eine 9. Dahinter steckt natürlich keine Wertung, sondern lediglich eine Zuordnung.
Das Bundessortenamt arbeitet nach Richtlinien, die von diesen UPOV-Richtlinien abgeleitet und im Fall der Rebe hinsichtlich der Merkmale identisch sind.
Ist es eine eigene Rebsorte?
Zunächst befüllen die Züchter*innen einen Technischen Fragebogen zur Sorte, der einen Teil der 44 Merkmale enthält und senden ihn an das Bundessortenamt. Dort werden die Angaben mit denjenigen zu anderen, bereits erfassten (= »bekannten«) Rebsorten abgeglichen. Benedikt Paeßens erklärt, warum: »Für die Zulassung muss die Sorte unterscheidbar sein. Eine Sorte kann als solche nur registriert werden, wenn sie von allen anderen allgemein bekannten Sorten unterscheidbar ist. Dabei ist jedes der 44 Merkmale gleichwertig.« Mit Hilfe von Computerprogrammen lässt sich problemlos abklären, ob es im Datenbestand bereits eine Sorte gibt, die identische Ausprägungen besitzt. Oder vielmehr: besitzen könnte, denn jetzt muss im Feld getestet werden, ob dem tatsächlich so ist.
Dafür hat das Bundessortenamt eine »lebende Kollektion« von Rebsorten im Feld stehen. Sie umfasst alle in Deutschland zugelassene Rebsorten, viele europäische, auch ältere Rebsorten, »ein riesiger Rundumschlag«. Paeßens erläutert: »Im Gesetz ist das klar formuliert: ‚Eine Sorte ist dann unterscheidbar, wenn sie sich in der Ausprägung wenigstens eines maßgebenden Merkmals von jeder anderen Sorte deutlich unterscheiden lässt.‘ Ich habe das deutlich jetzt extra hervorgehoben, weil das entscheidend ist. Es muss durch uns festgestellt werden, dass das ein deutlicher Unterschied ist, den jeder sehen kann. Dies zu erkennen und darüber zu entscheiden, ist eine der Kernaufgaben des Bundessortenamtes. Wenn sich alles im Notenbereich zwischen 4 und 5 tummelt, ist das nicht deutlich. Aber letztlich reicht ein einziges deutlich unterscheidbares Merkmal aus, damit es eine eigene Rebsorte ist.«
Die vergleichende Sortenprüfung
Der Prozess ist allerdings damit noch nicht abgeschlossen. »Das war nur der erste Teil der Prüfung, die sogenannte Registerprüfung.« In dieser wird die Sorte daraufhin geprüft, ob sie deutlich unterscheidbar von allen anderen allgemein bekannten Sorten, in der Ausprägung ihrer Merkmale homogen sowie beständig ist, und eine eintragbare Sortenbezeichnung (sprich einen nicht irreführenden Namen) hat. Die Minimaldauer für ein solches Verfahren beträgt vier Jahre.
Dann gibt es noch die »vergleichende Sortenprüfung«. Der Antragsteller muss dafür mehrere Standorte beibringen, wo die Sorte im Vergleich zu einer anderen, bereits vollständig beschriebenen und zugelassenen Sorte steht. Dort werden dann verschiedene andere Merkmale erfasst, zum Beispiel Pilzanfälligkeiten, Mostgewicht oder Säuregehalte. Anschließend werden die Weine verkostet und beschrieben. Die vergleichende Sortenprüfung könnte nach vier oder fünf Jahren abgeschlossen sein, wenn von Seiten des Züchters ausreichend Standorte und Weine bereitgestellt werden können. In der Praxis beim Calardis Blanc sind daraus gute sechs Jahre geworden. Die Sortenbeschreibungen werden anschließend in der »Beschreibenden Sortenliste« des Bundessortenamtes veröffentlicht.
Der Klon in der Rebsorte
Das Bundessortenamt ist aber nicht nur für die Zulassung von Rebsorten, sondern auch für die Eintragung von Klonen zuständig. »Klon« hört sich in der öffentlichen Wahrnehmung oft sehr zweifelhaft hat, weil man damit ethisch problematische Vorgänge in Verbindung bringt. Tatsächlich sind Klone von Rebsorten genetisch identisch. Das gilt aber ohnehin für jeden Rebstock derselben Rebsorte, da es sich ja um Kultivare handelt, sie also unterhalb der Stufe der Arten angesiedelt sind. Zumindest sollten sie es sein, denn Mutationen können im Feld in der Praxis immer stattfinden. Ein eingereichter Klon ist also genetisch identisch mit dem Standardtyp der Rebsorte. Warum gibt es ihn dann überhaupt, warum ist er also gezüchtet worden? Manchmal einfach, um neue Pflanzen desselben Standards verkaufen zu können, häufig aber auch deshalb, weil er eine bestimmte erwünschte Eigenschaft besitzt.
Oliver Trapp sagt dazu: »Ich bin ja Kreuzungszüchter, kein Klonenzüchter, sehe das also ein wenig als Außenstehender. Aber Klone werden ja ähnlich wie Sorten mit einer gewissen züchterischen Absicht entwickelt. Botrytisfestigkeit zum Beispiel. Das beste Mittel dafür ist eine lockere Traube. Der Wind kommt besser durch, es trocknet schneller ab, ist nicht so feucht. Aber sobald es um mehr als eine Note abweicht, wäre es nicht mehr die gleiche Sorte. Und das entspricht natürlich überhaupt nicht den Bestrebungen der Klonenzüchter. Das ist meines Erachtens ein Problem.« Tatsächlich sind schon Klone aus diesen Gründen abgelehnt worden.
Abgelehnte Klone
Benedikt Paeßens sieht das Problem auch, argumentiert aber anders. »Wir können keinen Klon einer Rebsorte als solchen eintragen, wenn er deutlich abweichende Merkmale besitzt. Oder vielmehr: ein einziges Merkmal genügt ja laut Regularien. Sonst wäre der Sortenschutz unterwandert, denn ein Klon muss ja mit dem Standardtyp der Rebsorte identisch sein, sonst wäre es keiner. Minimale Abweichungen sind möglich, aber eben keine deutlichen.«
Welche Lösung könnte es bei diesem Problem geben? Die Klonbeantragung zurückziehen und ihn stattdessen als eigene Rebsorte anmelden? Schließlich ist die Pinot-Familie ja genetisch weitgehend identisch, die Standardmarker von Weiß- und Spätburgunder unterscheiden sich nicht. Aber da das Bundessortenamt den Phänotyp als Unterscheidung heranzieht, sind es natürlich eigene Rebsorten.
»Das kann man theoretisch machen«, sagt Benedikt Paeßens, »es ist aber noch nie passiert.« Das wiederum könnte daran liegen, dass die Sortenzulassung weitaus teurer und langwieriger ist als die Klonenanmeldung (ein Züchter spricht von etwa 5.000 € pro Sorte). Und daran, dass der Klonenzüchter sein Produkt ja als »lockerbeerigen Spätburgunderklon« auf den Markt bringen möchte und nicht als eigene Rebsorte, der er/sie dann noch einen anderen, bis dato komplett unbekannten Namen geben müsste. Eine theoretische Lösung also, die letztlich kaum eine ist. Oliver Trapp dazu: »Für mich ist es wirklich eine Pattsituation. Schade, denn wir haben so gute Klonenzüchtungen aktuell…«
Die innere Logik des Standards
Die Vermehrung von Rebmaterial ist allerdings keine Erfindung der letzten Jahrzehnte. Vor der Zeit der Klonenzüchtung wurden bereits im Weinberg Rebstöcke mit bestimmten erwünschten Merkmalen bevorzugt. Aus deren Edelreisern zog man neue Rebstöcke, von denen man hoffte, dass sie genau diese Merkmale auch zeigen würden. Die entscheidende Frage für Rebsorten (und damit auch Klone) ist also: Wann gab es die »Stunde Null«, wann wurde der Standard der Rebsorte als solcher festgelegt?
Im Fall des Bundessortenamts ist das relativ einfach zu bestimmen: ab der Gründung. Bekannte »klassische« Rebsorten wurden noch in den 1950er Jahren angepflanzt zwecks Beschreibung – und damit Festlegung – eines Standards. Viele Rebstöcke stehen beim Bundessortenamt also schon lange im Feld. Werden sie wieder aufgepflanzt, wird das entsprechende Material nochmals vom Züchter angefordert, wie dies beispielsweise beim Riesling der Fall ist. Wenn nicht, und das dürfte bei einigen der in den 1950er Jahren registrierten Rebsorten der Fall sein, erfolgt die Aufpflanzung mit eigenem Material. Dadurch ist gewährleistet, dass der Sortenstandard, wie einmal festgelegt, stets erhalten bleibt.
In den 1950er Jahren wurden allerdings möglicherweise andere Eigenschaften bei einer Rebsorte in den Vordergrund gestellt. Niedrigertrag und/oder allzu starke Lockerbeerigkeit (wir befinden uns ja in der Nachkriegszeit) dürften nicht dazu gehört haben. Ist es da nicht sinnvoll, gar erforderlich hinsichtlich sich verändernder klimatischer Rahmenbedingungen, den Standard in einem gewissen Turnus immer wieder anzupassen? »Das geht nicht«, sagt Paeßens, »denn das wäre ja nicht mehr dieselbe Sorte, also nicht mehr ‘beständig’ laut Definition. Außerdem sind die Registermerkmale international festgeschrieben. Das zu ändern wäre rechtlich und administrativ sehr schwierig.« Ergo: Die innere Logik der Konstanz bedeutet gleichzeitig, dass sich nichts verändern kann.
Bliebe nur noch eine Möglichkeit, um dem Dilemma zu entkommen: den Interpretationsspielraum erweitern, sprich eine »deutliche« Abweichung erst dann zu erkennen, wenn sie überdeutlich ist. Ich frage Herrn Paeßens, wie das in anderen europäischen Ländern gehandhabt wird, und ob man dort nicht vor denselben Problemen steht. »Wer nach den UPOV-Richtlinien vorgeht und die Regularien der UPOV zur Sortendefinition einhält, müsste es zwingend genauso machen wie wir.«
Teil III – Herausforderung »historische Rebsorten«
Das Bundessortenamt ist wie bereits erwähnt für zwei Bereiche zuständig, den Sortenschutz und die Sortenzulassung. Einer der beiden, nämlich der Sortenschutz, bezieht sich auf das geistige Eigentum des Antragstellers, kann also nur für neue Sorten gelten. In diesem Bereich, in dem Veränderung und Neudefinition ja sinnhafter Teil des Prozesses sind, läuft alles ähnlich (und deshalb auch ähnlich gut) wie am ersten Tag.
Rebsorten, die hingegen bereits bekannt waren, erlebten nach der Gründung des Bundessortenamts, oder vielmehr der ersten Antragstellung, eine Stunde Null. Dadurch wurde ein Standard definiert, der nach der internen Logik nicht mehr verändert werden kann. Das bedeutet, dass von kleinen interpretatorischen Ermessenspielräumen abgesehen ohne grundsätzliche Änderung der Regelungen kaum Bewegung möglich ist. Natürlich war genau das im Jahr 1953 auch nicht vorgesehen, aber allein von der Sinnhaftigkeit her kann man sich schon fragen, ob ein 70 Jahre alter Standard, der ja damals auch gewissen Moden und Rahmenbedingungen unterworfen war, weiterhin und in alle Ewigkeit gültig sein muss.
Es gibt jedoch noch einen dritten Bereich, an den bei der Gründung des Bundessortenamts und vermutlich auch die Jahrzehnte danach kaum jemand gedacht hat. Was ist nämlich mit Rebsorten, die zwar sehr alt sind, die aber bis dato noch keinen Zulassungsprozess durchlaufen hatten? Die Rede ist von solchen Sorten, die Ampelographen wie Andreas Jung oder Josef Engelhart im Feld »wiederentdeckt« und bestimmt haben, und die jetzt vermehrt worden sind zwecks Markteinführung.
Wie wird ein Standard festgelegt bei historischen Rebsorten?
Die Logik des Bundessortenamts ist schlüssig: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Beziehungsweise, legt mit der Zulassung seiner Sorte den Standard (nach derzeitigem Verständnis) für immer fest. Sorten, die es früher schon einmal gegeben hat, sind in alten Unterlagen in aller Regel auch irgendwo schon einmal beschrieben worden. Die große Zeit der Ampelographie, also die Beschreibung von Rebsorten, begann im Grunde mit Abbé Rozier vor der Französischen Revolution und zog sich, besonders in Frankreich, aber auch in Deutschland, durch das gesamte 19. Jahrhundert. Um eine alte Sorte zulassen zu können, müsste ein Rebvermehrer also einen alten Rebstock finden, den entsprechend mit Hilfe alter Quellen bestimmen, ihn vegetativ bis zur Stabilität vermehren und unter dem historischen Namen für die Zulassung anmelden.
Eigentlich ganz einfach, zumal sich die Fachwelt einig ist, dass diese alten Rebsorten genetische Ressourcen darstellen, die es aus biologischer, aber auch aus kulturhistorischer Sicht unbedingt zu erhalten gilt. Ein Beispiel für eine solche alte und wertvolle Sorte ist der Hartblau. Sie wurde in mehreren alten Mischsätzen in Franken gefunden und ist mittlerweile erfolgreich vermehrt worden. Seine Qualitäten zeigen sich nicht nur in der Verkostung, sondern auch im Weinberg.
»Der Hartblau ist resistent gegen die Kirschessigfliege und auch sehr hitzeresistent. Das hat man heuer gemerkt. Die Trauben standen ausgezeichnet da, wir werden also einen sehr guten Wein daraus bekommen können«, ist sich Josef Engelhart von der Bayerischen Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau in Veitshöchheim sicher. Die Frage ist nur: Darf man daraus denn überhaupt Wein herstellen?
Wie kommen historische Rebsorten in den Anbau?
»Ja«, sagt Engelhart ganz schlicht. »Unter einer Anbaufläche von 10 ar [also einem Quadrat mit einer Seitenlänge von zehn Metern] darf man außerhalb der abgegrenzten Weinbaufläche anbauen, was man will.« Darüber kommt es darauf an, was man machen möchte. Wird die Sorte lediglich aus wissenschaftlichen Zwecken und für die Erhaltungszüchtung genutzt, muss sie nicht beim Bundessortenamt zugelassen werden. Will man die Stecklinge vermehren und in Verkehr bringen, muss man das tun.
Allerdings hat die deutsche Regelungslandschaft noch eine andere Ebene eingebaut, die nichts mit dem Bundessortenamt zu tun hat. Die Rede ist von der BLE-Liste der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung. Das ist die »Liste der in Deutschland zugelassenen Rebsorten«, die jährlich aktualisiert wird. Wieso »zugelassene Rebsorten«, ist das nicht dasselbe wie beim Bundessortenamt? Nein, denn in der BLE-Liste geht es um die weinrechtliche Zulassung, beim Bundessortenamt um die saatgutrechtliche Zulassung. Weinrechtlich bedeutet, dass auf der BLE-Liste festgelegt wird, aus welchen Sorten man Wein bereiten darf (= »Klassifikation«).
Michael A. Else klärt auf. Else ist Weinrechtler und stellvertretender Vorsitzender des Vereins zur Förderung des Historischen Weinbaus im Rheingau. »Die Bundesländer sind gemäß § 8 Weingesetz verpflichtet, einmal im Jahr die in ihrem Gebiet zugelassenen Keltertraubensorten an die BLE zu melden, die diese dann in die Liste übernimmt. Diese BLE-Liste gibt es allerdings erst seit Januar 2021. Die Länder haben seinerzeit ganz pragmatisch alle Rebsorten an die BLE gemeldet, die sich bei ihnen im Anbau befinden.«
Auf diese Weise ist eine riesige Liste mit Rebsorten entstanden, die dann wiederum in den anderen Ländern dem Grunde nach ebenfalls angebaut werden dürfen. Das heißt, die historische Sorte Adelfränkisch, von Bayern an die BLE gemeldet, dürfte dadurch auch in Schleswig-Holstein angebaut werden.
Die Rolle der Schutzgemeinschaften
Die Frage ist nur, als was. Eine Eintragung in die BLE-Liste erlaubt für sich allein nur die unterste Stufe der Klassifikation, nämlich erstens den Anbau überhaupt und zweitens die Weinbereitung als »Deutscher Wein«. Will man jedoch, dass auf seinem Wein genauere Herkunftsbezeichnungen stehen, also eine g.g.A. (z.B. Landwein Main) oder gar eine g.U. (z.B. Anbaugebiet Franken), ist man auf die sogenannten Schutzgemeinschaften angewiesen. Jedes Anbaugebiet sollte eine solche Schutzgemeinschaft haben (im Falle Frankens heißt sie Konsortium), die sich aus Mitgliedern der jeweiligen Weinerzeuger*innen zusammensetzt. Dominierend ist in den meisten Fällen der regionale Weinbauverband.
Diese Schutzgemeinschaften, die den Charakter ihrer Region und der typischerweise dort erzeugten Weine ja genau kennen sollten, können aus der BLE-Liste nun diejenigen Rebsorten heraussuchen, die sich bei ihnen für höhere Weihen eignen. Mit dieser Produktspezifikation (das ist der rechtlich korrekte Begriff, umgangssprachlich wird es oft als »Lastenheft« bezeichnet) soll also rebsortentechnisch die Spreu vom Weizen getrennt werden.
Im Prinzip erscheint diese Regelung auch vernünftig. Die Länder melden möglichst alle Rebsorten, die bei ihnen angebaut werden, an die BLE. Der immanente Grundsatz müsste dabei lauten, »pro Diversität« (denn welches Gegenargument sollte es geben?). Die Schutzgemeinschaften wiederum richten sich nach Qualität und Typizität, könnten also historische Rebsorten in ihr »Lastenheft« aufnehmen, die sich nach diesen Maßstäben dafür eignen.
Zugegeben, in der Praxis sind noch etliche Tücken vorhanden. So zum Beispiel deshalb, weil der Gesetzgeber offenbar einige Rechtsgrundlagen »vergessen hat«, wie Michael A. Else es ausdrückt. Aber letztlich ist der Weg damit bereitet.
Die Sache mit dem Arbst
Im Grunde müssten jetzt alle glücklich sein – selbst wenn man sich vielleicht als Außenstehender einfacher zu durchschauende Mechanismen wünschen würde. Tatsächlich gibt es aber wenigstens bei einer Rebsorte Probleme, und das könnte manch anderer »historischer Rebsorte« ebenfalls ins Haus stehen. Die Rede ist vom Blauen Arbst. Andreas Jung hatte einen Rebstock in einem alten verwilderten Mischsatz im Weinberg entdeckt und Rebmaterial mitgenommen, das stabil vermehrt wurde. Nachdem er unzählige alte Bücher gewälzt hatte, in denen historische Rebsorten abgebildet und beschrieben werden, kam er zu der Erkenntnis: Das ist der Blaue Arbst!
Wie jetzt weiter vorgehen? Josef Engelhart erklärt: »Bei Neuzüchtungen ist das relativ einfach, da haben wir ja den Züchter selbst, dann prüft das Bundessortenamt, ob sie sich von allen anderen unterscheidet und ob der vorgeschlagene Name verwendet werden kann. Bei historischen Rebsorten geht das nicht, denn da muss ja erst einmal bewiesen werden, ob es sich bei dem Rebstock tatsächlich um die bestimmte alte Sorte handelt.«
Genau da beginnt das Problem. Der Geilweilerhof war in einem Artikel im Deutschen Weinbau-Jahrbuch zu dem Ergebnis gekommen [Maul, Erika; Röckel, Franco & Reinhard Töpfer 2020: Wiederentdeckte traditionelle Rebsorten sowie die Einordnung ihrer geografischen und zeitlichen Entstehung, S. 137-147; nicht online abrufbar], dass es einen Blauen Arbst gar nicht geben würde, sondern dass es sich um einen Klon des Spätburgunders handelt. Andreas Jung hingegen zählt verschiedene Merkmale auf, in denen Unterschiede bestehen (Lockerbeerigkeit, kreisrundes Blatt, stark überlappende Stielbucht, Behaarung der Blätter, frühere Reife, aber auch bei Überreife kein Faulen).
Genotyp vs. Phänotyp
Genetisch sind Arbst und Spätburgunder tatsächlich identisch – zumindest wenn man sich auf die Standard-Marker beschränkt. Aber genetisch identisch sind in diesem Sinne ja (bis auf die Farbmutation) alle Mitglieder der Pinot-Familie vom Weißburgunder bis zum Spätburgunder, ohne dass man jenen die Anerkennung als eigene Rebsorte verweigern würde. Auch der Schwarzriesling und der Spätburgunder sind genetisch identisch, beide sogar rotbeerig, unterscheiden sich aber morphologisch, also vom Phänotyp her. Da für die Sortenzulassung das Bundessortenamt zuständig ist, entscheidet auf amtlicher Ebene der Phänotyp.
Trapp sieht das prinzipiell auch nicht als Problem an: »Ich denke, da sollte man die UPOV-Merkmale entscheiden lassen. Gleicht es dem Spätburgunder, dann würde ich sagen, der Blaue Arbst ist ein Klon. Ist die Variabilität aber gegeben, dann ist es etwas Eigenes.«
Keine Rebsorte, aber auch kein Klon?
Dass es in der Ampelographie unterschiedliche Ansichten gibt, ist nichts Neues. »Eigentlich haben sich die Ampelographen schon immer gestritten«, lacht Josef Engelhart, »das ist sozusagen Tradition.«. Der Unterschied zu früher ist nur, dass ein solcher Streit heute ganz praktische Auswirkungen haben kann. Andreas Jung wollte den Blauen Arbst eigentlich in das Lastenheft in Rheinland-Pfalz eintragen lassen. Das Ministerium hingegen sperrt sich. Da im Artikel von Maul et al. steht, dass der Arbst keine eigene Rebsorte sei, könne sie auch nicht eingetragen werden.
Nachfrage beim Bundessortenamt. Zum konkreten Fall kann Benedikt Paeßens nichts sagen, da er das Rebmaterial eben noch nicht gesehen hat. »Aber ich wiederhole mich da gern: Nach den UPOV-Richtlinien genügt die deutliche Abweichung bei einem einzigen Merkmal, um nicht als Klon durchzugehen.« Das Dilemma ist vorhersehbar: Was ist eine Pflanze, von der die eine Seite sagt, es sei keine Rebsorte, die andere jedoch, es sei auch kein Klon?
Könnte man die Ablehnung als Klon nicht auch einfach benutzen, um ihn dann automatisch, sozusagen nach vorausschauendem Goodwill in das Lastenheft einzutragen? »Man könnte sagen, wir haben so viel Historie hinter dem Blauen Arbst, das wäre dann praktisch ein Hilfsargument, um ihn als eigene Sorte darzustellen«, sagt Oliver Trapp. »Allein, rechtlich gesehen ist das derzeit nicht möglich.« In Frankreich wird hingegen überlegt, so genannte »Landsorten« mit einem verkürzten Verfahren zu »belohnen« – warum nicht auch bei uns?
Inaugenscheinnahme
Da sich Probieren und Studieren selten ausschließen, fahre ich zum Abschluss noch nach Oppenheim. Auf dem Gelände des dortigen DLR-Standorts befindet sich ein Rebsortiment. Mit einem Schild, auf dem »Arbst« steht und einem Rebstock daneben. Auch ohne von Ampelographie die geringste Ahnung zu haben, erkenne ich, dass der »Oppenheimer Arbst« ein rundes Blatt besitzt und eine lockerbeerige Traube. Beim Spätburgunder ein paar Rebstöcke weiter sieht das deutlich anders aus. Allerdings neigt der Spätburgunder in seiner jahrhundertealten Geschichte durchaus zu unterschiedlichen Ausprägungen.
Was wäre denn, so frage ich mich, wenn es sich bei dem »Jung-Arbst« und dem »Geilweilerhof-Arbst« um unterschiedliches Rebmaterial handelt? Mithin tatsächlich bei dem einen um etwas, das abweichend genug ist, um als eigene Rebsorte durchzugehen, bei dem anderen jedoch um eine Pinot-Mutation, die nicht genügend Abweichungspunkte besitzt? Damit hätten doch beide recht, nur hätten sie aneinander vorbeiargumentiert? Irgendwie erscheint es doch für einen Außenstehenden unlogisch, dass zwei ausgewiesene Fachleute in der Materie hier so unterschiedliche Auffassungen haben.
Haben die Gremien die beiden fraglichen (vermehrten) Rebstöcke eigentlich einmal gemeinsam besichtigt? Vielleicht würde allein so ein Termin die Probleme aus der Welt schaffen können? Oder umgekehrt: Welches Argument spräche dafür, nicht so vorzugehen? Damit könnte man das Verfahren doch noch einmal abkürzen.
Die Durchschlagung des gordischen Knotens
Die Natur, ich sagte es eingangs, legt Wert auf die größtmögliche Diversität. Aus jedem Traubenkern kann wieder eine neue Sorte entstehen, kein Blatt gleicht dem anderen. Diese Diversität, die sowohl die Genetik als auch die Erscheinungsform betrifft, hat auch einen Sinn: eine möglichst schnelle Anpassung an sich ändernde Verhältnisse, eine Robustheit des Systems an sich, eine Interaktion aller Beteiligten.
Nun ist es zweifellos so, dass man im kommerziellen Weinbau praktisch alles auf den Kopf stellen müsste, würde man dieser chaotischen und von Zufällen geprägten Philosophie ebenfalls folgen wollen. Die Weinrebe Vitis vinifera wird seit Jahrtausenden kultiviert und nach verschiedenen Eigenschaften selektiert.
Dennoch setzen sich in der Gesellschaft wie in der Weinwelt zunehmend Auffassungen durch, die eine ausschließlich an »industriellen« Maßstäben orientierte Leistung in Zweifel ziehen. Weil solche Ansätze extrem fragil sind.
Auf Veränderungen reagieren und mitgestalten
Wir wollen weiterhin Reben anbauen. Wir wollen gleichzeitig massiv Pestizide jedwelcher Art einsparen. Wir wollen aber auch der Verbreitung von Krankheiten nicht weiter Vorschub leisten. Und wir wollen bei einer Branche, die teils extrem langjährige Kulturpflanzen benutzt, auch bei den erschreckend plötzlichen klimatischen Veränderungen nicht auf dem falschen Fuß erwischt werden. Was gilt es also zu tun? Welche Werkzeuge sollten die staatlichen Institutionen den Winzer*innen an die Hand geben?
»Was wäre eigentlich so schlimm daran«, fragt sich Michael A. Else laut, »wenn es unser allgemeines Ziel wäre, möglichst viele verschiedene Rebsorten und Klone zur Verfügung zu stellen?« In dieselbe Kerbe schlägt auch Josef Engelhart: »Die Piwi-Rebsorten haben im Moment allein politisch wahrscheinlich mehr Chancen als die historischen Rebsorten im Anbau. Aber erhalten müssen wir sie auf jeden Fall, die historischen Sorten. Da würden wir uns selbst ins Fleisch schneiden, wenn wir die nicht vermehren.« Selbst das Agrarunternehmen Syngenta bringt beide Ansätze bereits in der Überschrift eines Artikels zum Ausdruck: »Wie die Vermehrung historischer und die Züchtung neuer Rebsorten zur Traubengesundheit beitragen«.
Zum Abschluss: Was man tun könnte
So endet dieser Artikel schließlich mit einem Plädoyer oder vielmehr drei Punkten, die mir in diesem Kontext nach all den Recherchen und Gesprächen als besonders relevant aufgefallen sind.
- Weitere Unterstützung der Forschung zur Züchtung neuer, robusterer Rebsorten mit gleichzeitig guter Qualität.
- Zulassen einer großen Vielfalt an Klonen, die gemeinsam unter dem Namen einer Rebsorte angepflanzt werden können, im Sinne einer größeren Widerstandsfähigkeit.
- Bevorzugtes Eintragen hochwertiger historischer Rebsorten erst in die BLE-Liste und dann in die Lastenhefte, damit deren Fortbestand erst einmal gesichert ist. Winzer*innen können sich ja immer selbst entscheiden, was sie dann tatsächlich anbauen möchten.
Wie diese Punkte umgesetzt werden könnten, liegt in der alleinigen Kompetenz der beteiligten Institutionen. Manches mag vielleicht nach dem derzeitigen Regelwerk nicht naheliegend erscheinen. Aber was sich nicht leugnen lässt: Viel ist derzeit in Bewegung.
Das neue Weinrecht in Deutschland wartet noch auf die praktische Umsetzung in etlichen Punkten. Und in Brüssel gehen währenddessen die Uhren immer schneller. Green Deal, Biodiversitätsstategie, Farm-to-Fork-Strategie, der Plan eines kompletten Pestizidverbots in empfindlichen Gebieten, allein diese Stichworte genügen um zu zeigen, was auf uns zukommen könnte.
Wahrscheinlich hilft es wenig, bei all diesen geplanten Maßnahmen in die Defensive zu gehen und zu versuchen ausschließlich das zuzulassen, was man nicht verhindern kann. Denn nur wer »gute Idee, ich habe dazu einen Vorschlag« statt »auf keinen Fall« sagt, bringt sich in die Position, beim Mitgestalten dabei zu sein.
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Annex – Historische Rebsorten sensorisch
Die Weine stammen von den Reben im Muttergarten der Rebschule Martin. Alle wurden am 06.11.22 geöffnet und verkostet, bewusst nur beschreibend und nicht bewertend.
Blauer Arbst 2020, 13,09 vol%, 5,7 g S, 0,4 g RZ
Farbe: Mittleres Rubinrot mit Purpurreflexen. Nase: Mittlere Intensität, sowohl schwarze als auch rote Früchte, etwas eingekochte Schwarzkirsche, leicht Holundermark, ätherischer Touch, offen gehalten. Mund: Mittlerer (+) Säureeindruck, mittlerer, aber fester Körper, mittlere (-) Tannine. Sauerkirsche, rote Johannisbeere, leichte Extraktsüße, Zimt, reifer, intensiver Fruchtkern, kühl beginnend und wärmer ausklingend. Für mich persönlich fester im Körper als ein Spätburgunder und mit dichterer Aromatik (weder Him- noch Erdbeere), ist aber als Angehöriger der Pinot-Familie durchaus vorstellbar.
Hartblau 2019, 12,85 vol%, 6,6 g S, unter 0,5 g RZ
Farbe: Mittleres (+) Rot zwischen Rubin und Purpur. Nase: Mittlere (+) Intensität, geprägt zunächst vom Ausbau, Zedernholz, dahinter dunkle Beeren, Unterholz, Blaubeere, gleichzeitig kühl und würzig. Mund: Mittlere (+) Säureanmutung trotz höherer Werte wegen der dichten Materie, mittlerer Körper, mittlere Tannine. Weiterhin Zederaromatik, sehr kühle, blaue Ader, Schlehe stärker noch als Blaubeere, schwarze Johannisbeere, enorm engmaschig, Lorbeer, leicht Kaminruß, Pfingstrose, deutlicher Säurezug, ungemein eigenständig.
Fränkischer Burgunder 2019, 12,86 vol%, 5,6 g S, unter 0,5 g RZ
Farbe: Mittleres (+) Rubinrot. Nase: Mittlere (+) Intensität, leichte Reduktion, Zündplättchen, dahinter versteckt Brombeere. Mund: Mittlere Säure, eingebunden, mittlerer Körper, mittlere (+) Tannine. Sehr deutlich von Gewürznoten bestimmt, Gewürznelke, Muskatnuss, Muskatblüte, Wacholder, Baumrinde, rote Pflaume, Leder. Mit zunehmender Lüftung bestimmen die Gewürze auch die Nase. Reife Materie, aber keinesfalls heiß, pfeffrige Würze im Abgang, eleganter Fluss, hohes Reifepotenzial. Auch dieser Wein ist vollkommen eigenständig.
Grüner Adelfränkisch 2021, 13,56 vol%, 8,8 g S, 9,1 g RZ
Farbe: Mittleres Zitronengelb. Nase: Mittlere Intensität, noch sehr jung, Orangeat, Mango, gelber Apfel, Jasmin, wirkt fruchtreif, subtropisch, mit einer Ader floraler Schärfe. Mund: Prononcierte Säureanmutung, kontrapunktiert durch eine mittlere, knapp feinherbe Fruchtsüße, mittlerer Körper, der von der Spannung lebt. In der Aromatik weiter viel Orange, Aprikose, Mango, Ananas und ein Touch Hyazinthe und Zitronengras, welche die Fruchtdichte eingrenzen. Enorm hohes Pikanzniveau, wie alle Weine mit deutlichem Reifepotenzial.
Alle vier Weine (und hier kommt zum Abschluss doch noch eine Bewertung) sind sehr individuell und wirken ausgesprochen hochwertig. Wer bereits nach den theoretischen Argumenten dazu neigt, diese Rebsorten als erhaltenswert zu betrachten, wird nach der Verkostung endgültig davon überzeugt sein.
Lieber Matze,
Chapeau ! Eine sehr gute Zusammenfassung. Diese Thematik beschäftigt Slow Food und die Archekommission seit langem und der Post ist hervorragend geeignet auch Nichtfachleuten die Problematik zu verdeutlichen.
@ Fränkischer Burgunder : wird in Franken schon wieder angebaut.
HS
Danke für die Blumen! Ich denke auch, dass wiederentdeckte Rebsorten wie der Fränkische Burgunder gleich dreifach wertvoll sind. Einmal wegen der Kulturerbe-Sache, denn es hat diese Sorten ja hier bei uns definitiv gegeben. Dann wegen des Themas Biodiversität. Und dann natürlich auch noch wegen der weinbaulichen und geschmacklichen Qualitäten. Logisch, dass Letzteres nicht auf alle der wiederentdeckten Rebsorten zutrifft. Aber der Fränkische Burgunder kann schon was… 😉
Sehr lehrreich, danke! Dem Laienleser so zugewandte Sachtexte würde man sich halt viel öfter wünschen.
Ich bin auch sehr froh, dass mich Herr Martin beauftragt hat, sowas zu machen. Man hat nämlich sonst ehrlich gesagt nie genügend Zeit, sich so tief mit einer Materie zu befassen 😉
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Lieber Matthias,
vielen Dank für diesen tollen Fachartikel. (Im letzten Jahr hatte ich ihn glatt übersehen und damit verpasst, ihn früher zu lesen.)
Du zeigst darin u.a. glasklar auf, vor welchen historisch überkommenen und politisch verursachten Dilemmata die Rebenzüchter stehen, die sich mit historischen Rebsorten beschäftigen. Deutlich machst Du auch, wie hemmend die Regularien für eine zeitgemäße Weiterentwicklung des Weinbaus auf mehreren Ebenen sind.
Sprachlich so präzise und logisch so stringent habe ich das noch nirgends sonst gelesen. Mehr davon!!!
Mir erscheint das ganze Hickhack absurd. In etwa so als würde sich das Kraftfahrtbundesamt am technischen Stand der 1950er Jahre orientieren und die Zulassung eines Fahrzeugs mit Katalysator, EPS und Airbags mit dem Argument verhindern: “Das ist kein Automobil! Wir wären längst erstickt.
Es hätte gewiss den Rahmen gesprengt, mal an einem Beispiel wie dem Blauen Arbst (IMHO KEIN Pinot-Klon) darzustellen, welche finanziellen Risiken Ampelographen wie Andreas Jung und Züchter wie Ulrich Martin u.a. auf sich nehmen, wenn Sie versuchen, eine historische Sorte am Markt zu platzieren.
Hanspeter Ziereisen hat z.B. den Blauen Arbst gepflanzt, dann aber vom SORTENreinen Ausbau abgesehen, weil er die weinrechtlichen Querelen fürchtet. Die Trauben verschwinden im Basis-Spätburgunder.
Solche verständlichen Entscheidungen sind aber für die Erprobung der historischen Sorten in der Winzerpraxis an verschiedenen Standorten und damit für die Wahrnehmung dieser Sorten beim Weinhandel und bei den Konsument*innen Tiefschläge.
Umso wichtiger, dass Enthusiasten wie Du immer wieder solche Artikel schreiben!
Herzliche Grüße
Ein grosses Kompliment an den Autor, das ist ein wahnsinnig wertvoller Überblick zur komplexen Welt der Rebsorten und der Rebenzüchtung. Ich denke auch, dass die Rebsorten-Diversität ein unglaublicher Schatz ist, den man unbedingt erhalten muss. Zu diesem Thema habe ich auch einen Beitrag geschrieben bei weinbau-der-zukunft.com
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