Wenn man zu Hause festgesetzt ist, keine Veranstaltungen, keine Tastings oder Seminare stattfinden, muss der gemeine Weinmensch erfindungsreich sein. Virtuelle Tastings beginnen sich zu etablieren, bei denen man idealerweise den gleichen Wein vor sich hat und dann gemeinsam schlürft und sich austauscht. Ich hatte mir deshalb überlegt, dass es eine gute Idee sein könnte, zwei durchaus interessante gereifte Rieslinge aus dem Keller zu holen und im Facebook-Livestream zu präsentieren. Aber die Technik, sie hakt. Kein Wunder eigentlich, dass unsere Netze nicht dafür ausgelegt sind, weltweit ein Vielfaches an Bilddaten als sonst durchs Weltall zu schicken. Statt in einem zuckelnden Stream möchte ich deshalb die beiden Weine hier noch einmal ganz konventionell präsentieren. Es handelt sich dabei um zwei Rieslinge des Jahrgangs 2008, den Kostheimer Weiß Erd vom Weingut Künstler aus dem Rheingau und den Loibenberg Smaragd vom Weingut Alzinger aus der Wachau.
Riesling-Quertest 2008
Hier auf dem Blog habe ich ja schon relativ viele Rieslinge des Jahrgangs getestet. Dabei arbeite ich mich langsam hoch von den einfacheren Qualitäten bis hin zu Großen Gewächsen und Konsorten. Beim ersten Mal hatte Jean Becker aus dem Elsass gewonnen, beim zweiten Mal lag der kleine Halenberg von Emrich-Schönleber vorn, beim dritten Mal der Eierfels von Diel und schließlich beim vierten Mal der Bopparder Hamm Feuerlay von Florian Weingart. Letzten Dezember war schließlich ein Pärchen an der Reihe, Horst Sauers Escherndorfer Lump gegen Koehler-Ruprechts Saumagen – immer noch die Zweitversionen. Diesmal also das erste Vortasten in höhere Bereiche.
Der Jahrgang 2008 war bei seinem Erscheinen (und ehrlich gesagt noch mehr beim Erscheinen des Nachfolgers 2009) nicht gerade wohl gelitten. Man schmeckte ihm nämlich die naturgegebene Schlankheit an. Da das französische Sprichwort août fait le moût auch bei uns gilt, hier nur ein Vergleich dreier Kriterien für den August:
2007 | 2008 | 2009 | |
Täglicher Sonnenschein in h | 7,7 | 6,5 | 8,3 |
Tage mit Niederschlag | 11 | 15 | 9 |
Niederschlagssumme in mm | 67 | 76 | 57 |
Wie gesagt, es geht hier nur um Indizien; die Werte stammen von der Wetterstation Offenbach. Ganz klar: Der August 2008 war weniger sonnig, dafür aber niederschlagsreicher als in den beiden anderen Jahren. Das war – nur zur Erinnerung – noch zu einer Zeit, als ein sonniger und warmer Jahrgang praktisch immer als besser angesehen wurde als ein frischerer. Hat sich das inzwischen eigentlich geändert?
Wie auch immer, die Vegetationsperiode im Jahr 2008 war extrem lang. Auf einen warmen Winter folgte ein kühles Frühjahr, welches das Wachstum ein wenig stoppte. So ging es mit Ups und Downs weiter, bis die Ernte relativ spät stattfand. Beim Weingut Künstler beispielsweise, dessen Wein ja hier am Start ist, begann die Rieslingernte am 4. Oktober. Und Riesling mag nun einmal eine lange und ausgewogene Vegetationszeit.
Künstler Weiß Erd
Der Kostheimer Weiß Erd vom Weingut Künstler ist ein ganz spezieller Wein im Portfolio. Bevor ich den Wein seinerzeit im Weinladen Schmidt in Berlin gekauft habe, hatte ich von der Lage noch nie etwas gehört. Kein Wunder. Die Lage Weiß Erd ist nämlich nur 7 ha groß und befindet sich unterhalb der Straße von Kostheim nach Hochheim. Außerdem war es damals noch keine Lage für Große Gewächse, die Künstler-Reben noch sehr jung, aber offenbar schon vielversprechend. Der fast weiße Untergrund aus Kalkmergel (daher der Name) ist dabei die Besonderheit.
Die technischen Daten sind eindrucksvoll: 7,8 g Säure und 7,9 g Restzucker. Das kann man allerdings weder riechen noch sehen. Ins Glas fließt ein kräftig gelber Saft der Ausprägung medium lemon nach WSET-Diktion. In der Nase wirkt der Wein zunächst eher hellmineralisch, ziemlich expressiv mit Zitrone und Verveine, die gelberen Pfirsichnoten kommen erst später. Am Gaumen wirken dann die technischen Werte: Die Weiß Erd ist extrem pikant, mit viel frischer Frucht und kaum Alterungsnoten. Da kommen weißer Pfirsich, rosa Grapefruit, gar leicht Erdbeer, alles ist animierend und durchaus hochtourig. Wem karge und verschlossene Weine keine Freude bereiten (und das dürften vermutlich 98% aller Weintrinker sein), wird hier sein Paradies finden.
Alzinger Smaragd Liebenberg
Sehr gespannt war ich deshalb auf den Vergleich des Künstler’schen Fruchtwunders mit diesem Exemplar hier von der Wachau. Ich muss gestehen, nicht immer mit den Spitzenprodukten dieser fantastischen Region einverstanden zu sein. Bei einer fulminanten Probe von 42 großen Rieslingen hatten mich die oft schwerfälligen Österreicher richtiggehend enttäuscht. Aber es geht selbstverständlich auch anders, und dieser Wein sollte ein Beispiel dafür sein. Ohnehin sind die Weine des Weinguts Alzinger als Spätstarter und Langläufer bekannt. Zudem stammen die Reben für diesen Wein aus dem oberen Teil des glimmerschieferigen Liebenbergs, der weitaus kühler ist. Auf der Lagenkarte kann man schön sehen, dass der Weinberg am Donauknie sich von der Flussebene bis hinauf an den Waldrand zieht.
Als ich den Wein ins Glas gebe, bin ich wirklich überrascht. Noch gelber, noch dunkler als die Weiß Erd von Künstler. Deep lemon, sagt WSET. Die Nase ist allerdings weitaus zurückhaltender. Es gibt leicht Honig (2008 war als Jahrgang an der Wachau noch schwieriger als in Deutschland) und kräuterige Noten, auch ein bisschen stärkere Gereiftheit. Am Gaumen liegt der Alzinger sowohl bei der Süße als auch bei der Säure unter dem Künstler. Er kommt deutlich flächiger daher, hat die Frucht weiter hinten geparkt, fächert sich erst ganz langsam auf. Ich habe ein herbstlicheres Gefühl, nicht so exuberant wie bei der Weiß Erd. Bei längerem Schmecken kommen auch pflanzlichere Noten zum Vorschein wie Lindenblüte, Holunder und fast etwas in Richtung schwarzer Rettich. Der Wein ist deep, gar kein Zweifel.
Das Fazit
Müsste ich mich jetzt für einen Gewinner des Duells entscheiden, wäre das keine einfache Sache. Solo macht zweifellos der Künstler Weiß Erd mehr Spaß. Aber zum Essen (und das ist durchaus allgemein zu verstehen) sind natürlich die tiefergelegten Aromen des Alzinger Liebenberg passender. Vielleicht neige ich derzeit im Frühling eher zu der geschmeidigen Frucht aus dem Rheingau, aber das ist eine rein kontextabhängige Entscheidung.
In jedem Fall kann ich als Fazit Folgendes festhalten: Rieslinge sind eine ganz spezielle Sache, eine polarisierende. Ich kenne durchaus einige weinaffine Menschen, die sagen, diese schon ziemlich expressive Kombination aus Süße und Säure wäre nichts für sie. Und als Begleitung für ihr Essen schon gar nicht. Stimmt durchaus, das gebe ich zu. Da sind Chardonnay oder Grüner Veltliner besser aufgestellt.
Andererseits ist es genau dieses Sturm-und-Drang-Hafte, das den Riesling so einmalig werden lässt. Erst recht, wenn es auf dem Niveau der diesmal probierten Weine passiert. Hier findet etwas statt, hier wetteifern Elemente miteinander. Und mal ehrlich, haben wir Deutsche jemals als spannend, funkensprühend, spaßverbreitend gegolten? Falls nicht, sollten wir vielleicht ein bisschen mehr auf den Riesling schauen. Der kann das nämlich.