Ferienzeit in Deutschland. Da dachte ich mir, vielleicht wäre es eine gute Idee, hier auf diesem schon über zehn Jahre alten Blog auch einmal etwas über die Gegend zu berichten, aus der ich eigentlich stamme. Ich spreche vom Westharz. Erst war ich mir gar nicht sicher, ob das überhaupt der geeignete Terminus ist. Aber nachdem es im Bereich der Regionalentwicklung ganz offiziell die LEADER-Region Westharz gibt, dürfte das als abgesichert gelten. Mein Westharz ragt allerdings nur zum Teil in den großen Wald hinein, umfasst dafür aber auch das westliche Harzvorland. Ihr werdet also Goslar ebenso besuchen wie Einbeck (kleiner Vorgeschmack auf dem Titelfoto), ihr werdet Fachwerk sehen und Schiefer, Harzkäse probieren und Bier. Los geht es aber mit dem Reich der Bäume.
Harz = Wald
Der Name Harz bedeutet dasselbe wie Haardt, nämlich bewaldeter Berg. So unpräzise, wie sich das zunächst anhören mag, hat es dennoch seine Berechtigung. Immerhin gibt es im Harz wirklich viele Bäume, und mit über 1.000 Metern Höhe ragt der Harz für die Flachländler des Nordens auch schier unglaublich in den Himmel.
Einen Nationalpark gibt es im Harz, drei Naturparks und ein Biosphärenreservat. All das konnte allerdings nicht verhindern, dass der Wald nicht überall so prächtig dasteht wie auf meinem Foto aus Bad Grund. Als ich letzte Woche im Westharz unterwegs war, sind mir so viele kahle Stellen und Baumgerippe aufgefallen wie noch nie. Zwar gab es zu meiner Jugend schon die Diskussion um den Sauren Regen. In den letzten Jahren hat das Zusammenspiel von Trockenheit, Stürmen und Borkenkäfern allerdings zu rekordverdächtigen Problemen geführt. Die Fichte, einstmals als “Brotbaum” in Monokultur angepflanzt, mag für die würzige Luft und den fotografischen Anblick so harztypisch wirken wie nichts anderes. Im Hinblick auf Biodiversität und Wehrhaftigkeit des Waldes ist sie aber nur mäßig gut aufgestellt. Soll heißen: In Zukunft muss und wird es wieder bunter werden im Harz.
1. Okerteich, Altenau
Ein Erbe der Bergbauzeit sind nicht nur Stollen, Museen und allerlei illustre Namensgebungen im Harz, sondern auch der kunstvolle Umgang mit Wasser. Der Kleine Okerteich bei Altenau, im Jahr 1715 angelegt, ist mittlerweile nicht nur UNESCO-Weltkulturerbe, sondern auch eine der nettesten Badestellen im Westharz. Seit dem Ende des Silberbergbaus vor gut 100 Jahren wird der Teich als eintrittsfreies Waldschwimmbad genutzt. Das ganzjährig frische Bergwasser ist durch das eisenhaltige Gestein leicht rostrot gefärbt. Ob das der Grund dafür sein kann, dass es hier auch an heißen Sommertagen nie überfüllt ist?
2. Goslar, die Hauptstadt
Goslar ist die Haupstadt von Westharz, Nordharz, Harz insgesamt. Die größte Stadt am Waldesrand und eine der ältesten. Hier vereint sich der Fachwerkbau des Harzvorlandes mit den Schieferhäusern des Gebirges. Für mich war Goslar lustigerweise früher überhaupt nicht attraktiv. Mit der Stadt verbanden sich nämlich so garstige Begriffe wie Kieferorthopäde oder Kreiswehrersatzamt. Tatsächlich war ich bei meinem diesjährigen Besuch sehr angenehm überrascht. Die historischen Gebäude sind natürlich großartig wie eh und je. Aber auch die Fußgängerzone ist durchaus belebt, was man nicht von jeder Mittelstadt behaupten kann. Egal ob Einheimische oder Urlauber, ob Stadtbummel mit Cafébesuch, Kirchenbesichtigung oder gezieltes Shopping – alles möglich. Ich erstehe in einem Fachgeschäft ein neues Paar Schuhe und schaue mir anschließend den Romanischen Garten der Neuwerkkirche an. Echt schön und heutzutage ohne Schrecken, ich komme wieder.
3. Die Wunder von Clausthal-Zellerfeld
Clausthal-Zellerfeld ist das Wunder auf der Hochfläche. Hier im Oberharz gibt es eine Technische Universität mit Campusatmosphäre, die vielleicht genau deshalb viele ausländische Studierende anlockt. Hier gibt es auch Hundeschlittenrennen im Winter und alles andere im Frühlingherbst, denn damit haben wir schon sämtliche Harzer Jahreszeiten aufgezählt. Die blaue Holzkirche wurde während des Dreißigjährigen Krieges ganz aus Eichen- und Fichtenholz errichtet, das Dach mit Bleiplatten gedeckt. Ein echtes Wunder.
Zellerfeld hatte ich früher ehrlich gesagt nie größere Bedeutung geschenkt. Die Holzkirche und fast sämtliche Uni-Einrichtungen befinden sich nämlich in Clausthal. Dabei ist Zellerfeld zum Leben eigentlich viel netter. Bummelt einfach mal durch die baumbestandenen Straßen des schachbrettförmig angelegten Ortes und schaut euch die beeindruckenden Holzvillen an. Nebenbei befindet sich in Zellerfeld in den Gebäuden der ehemaligen Münzstätte auch die Brauakademie. Kurse gibt es da zu Coronazeiten zwar nicht, aber die Biermünze verkauft das Helle und Dunkle der Brauakademiker in großen Bügelflaschen. Ich komme weiter unten noch darauf zurück.
4. Die Wahrheit über mich
I plead guilty – falls ich den Eindruck erweckt haben sollte, dass ich direkt aus dem Westharz stamme. In Wirklichkeit nämlich bin ich ein paar Kilometer entfernt vom Harz aufgewachsen. Seine Hochzeit hatte diese Region mit Dörfern, Felder und bewaldeten Höhenzügen wahrscheinlich vor über 1.000 Jahren. Roswitha von Gandersheim, die Ottonen, Stadtgründungen, Klostergründungen, Dombauten, viel Historie, aber ehrlich gesagt bis heute relativ wenig Tourismus. Eine traditionell scharfe Grenze trennt die Harzberge von ihrem Umland. Im Gegensatz zum kulturreichen Ackerland drum herum war der Harz ja im Frühmittelalter eine dunkle Ecke. Mit dem Bergbau drehte sich das dann um, und der große Zuzug in die Harzer Bergstädte begann.
6. Gandersheimer Land
In dem Gebiet zwischen Harz und Weser gibt es keine richtig großen Städte und auch kein Zentrum, das alles überstrahlen würde. Bad Gandersheim selbst besaß seiner historischen Bedeutung entsprechend früher einen Landkreis. Aber der wurde im Zuge der Kreisreform 1977 aufgelöst. Danach fand man das Landkreis-Logo immerhin noch auf Mülltonnen, das Kennzeichen GAN noch an alten Treckern. Mittlerweile darf zwar die alten Kennzeichen wieder verwenden, aber an der Dreistelligkeit von GAN, NOM, EIN und ALF kann man irgendwie schon erkennen, dass es sich primär um einen ländlich geprägten Raum handelt. Wie ich es geschafft habe, mit 19 Jahren ohne allzu großes Kulturschockempfinden aus meinem 600 Einwohner-Dorf direkt nach Berlin zu wechseln, ist mir bis heute ein kleines Rätsel.
Schönheiten am Wegesrand: Hier die romanische Kirche des ehemaligen Klosters Clus. Um sie zu erreichen, muss man über einen privaten Pferdehof gehen.
Und hier nun endlich auch eine der kulinarischen Spezialitäten – der Harzkäse. Jener ist Ausdruck eines landwirtschaftlichen Denkens, bei dem alles seinen Wert besitzt. Grundbestandteil ist entrahmte Sauermilch, sozusagen als magerer Rest der Butterproduktion. Eines der aktuell besten Exemplare ist meiner Meinung nach der Bauernhandkäse der Käserei Schneider aus Bodenfelde. Leider (für alle Auswärtigen) gibt es den Käse nur bei regionalen Edeka-Märkten.
7. Einbeck
Einbeck hat vielleicht die meisten und schönsten Fachwerkhäuser der Region und vielleicht auch die größte kulinarische Bedeutung. Ein Sterne-Restaurant gibt es zwar im gesamten Gebiet nicht, aber immerhin kann die Genusswerkstatt, die ein bisschen in Richtung Edelgrill geht, einen Bib Gourmand vorweisen. Zünftiger geht es im Brodhaus zu, und der Begriff Zunft passt auch noch komplett. Ob es sich, wie über der Tür geschrieben steht, um eine 650-jährige Gaststätte handelt, ist vielleicht doch eher eine Interpretationsfrage. Auf jeden Fall wurde das Gebäude der Bäckerzunft bereits im Jahr 1344 erwähnt.
Herzhaft im Zusammenhang mit Einbeck bedeutet meistens irgendwas mit Bier. Kein Wunder, denn schon zur Zeit der Hanse war das Ainpöckisch Bier, sprich Bockbier, weitberühmt. Da der obergärige Sud teilweise bis nach Italien exportiert wurde, entschied man sich zwecks besserer Haltbarkeit für ein Bier mit sehr hoher Stammwürze und entsprechend gehobenem Alkoholgehalt. Als im Jahr 1794 alle Einbecker Bürgerbraurechte zusammengeführt wurden, entstand eine einzige Stadtbrauerei. Und das ist bis heute so geblieben.
Biere aus Westharz und Harzvorland
Bier, Harzkäse, Mettwurst, Salz und Senf – das sind bis heute nach meinem Dafürhalten die wichtigsten kulinarischen Errungenschaften im Land zwischen Harz und Solling. Die schlimmen Jahre des Brauereiniedergangs konnten allerdings nur drei alte und unabhängige Brauereien überleben: Einbecker als die mit Abstand größte, Bergbräu in Uslar und Altenauer direkt aus dem Westharz. Zum Glück kommen seit einiger Zeit wieder Neugründungen dazu.
Links auf dem Foto seht ihr beispielsweise die Großflasche der Brauakademie Zellerfeld, die ich weiter oben schon vorgestellt hatte. Hier werden nur zwei Sorten gebraut, nämlich Hell und Dunkel. Beide sind, das bringt die craftbeerige (oder auch echt traditionelle) Herstellung ohne Tricks so mit sich, auch nur drei bis vier Wochen auf der Flasche haltbar. Noch nicht probiert, aber an dieser Stelle gern erwähnt: die Kleinstbrauereien aus Förste und Dorste.
Der Biertest
Wie ihr oben sehen könnt, habe ich mich (außer beim Münzbräu) im Praxistest auf die Pilsener konzentriert. Und es ist in der Tat verblüffend, wie individuell jene ausfallen. Das Einbecker Brauherren Pils, der Klassiker der Region, zeigt sich hellfarbig, sehr blütig in der Nase und am Gaumen frisch und feinhopfig. Fast denkt man, die Hanse existiert noch, so norddeutsch kommt es mir vor. Das Harzer Pilsener aus Altenau wirkt dagegen erst ein bisschen müde und stark kräutermalzig. Tatsächlich geht es im Trunk eher in die böhmische Richtung und bietet sich primär als süffiger Speisenbegleiter an. Noch dunkler in der Farbe ist das Rammelsberger Pils vom Brauhaus Goslar, noch dazu naturtrüb. Geschmacklich sind da Cookies und eine leicht bittere Orange. Ich persönlich mag solche Interpretationen ja, aber wer sich ein hell-herbes Pilsbier erwartet, wird möglicherweise böse Leserbriefe schreiben.
Die Biere aus Zellerfeld sind dann endgültig feinstes fränkisches Handwerk. Anders lässt es sich glaube ich nicht beschreiben, denn das Helle ist dunkel wie ein Fässla, cremig, mildmalzig, nusswürzig. Und es schmeckt.
Mein Fazit
Was lässt sich als Fazit festhalten, wenn jemand seine Heimatregion beschreibt? Kann ich so etwas überhaupt unvoreingenommen machen? Natürlich nicht. Aber es ist andererseits ja auch nicht so, dass ich in meinem Leben jetzt noch nichts anderes gesehen hätte.
Westharz und Harzvorland sind Gegenden, die definitiv eine große Historie vorweisen können. Interessanterweise wirkt das Ganze aber oft ein bisschen versteckt oder vielmehr eingebettet in den Alltag, wenig exponiert. Der Harz-Tourismus im Sinne längerer Aufenthalte hatte vermutlich in der Periode der Kuraufenthalte und Sommerfrischen seinen Höhepunkt. Das Harzvorland hingegen kam nie wirklich auf die touristische Landkarte der größten Baedeker-Sehenswürdigkeiten. Trotzdem handelt es sich beileibe nicht um Ecken, die visuell und strukturell vernachlässigt erscheinen.
Was mir an meiner alten Heimat gefällt, ist dann auch dieses Prinzip der Schönheit am Wegesrand. Wer sich mit Dörfern und Kleinstädten einverstanden erklärt, wird sich hier wohlfühlen. Es gibt abwechslungsreiche, kleinteilige Landschaften, viele Wege zum Spazierengehen oder Radfahren. Eine romanische Dorfkirche, eine tausendjährige Linde, ein Kaugummi-Automat aus den Sechzigern, eine frisch aufgemachte Kaffeerösterei.
Hört sich das verlockend nach einem einwöchigen Kurztrip in den Herbstferien an? Ich finde schon.
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