Wie funktioniert solidarisches Landwirtschaften? Was bedeutet antifragil? Ist Piwis ein schicker Begriff für neue Rebsorten? Gibt es wirklich Menschen, die Mehlwürmer essen? Und was sind das für Leute auf dem Titelfoto? Mit diesen eher lose zusammenhängenden Fragen habe ich mich letzte Woche bei der digitalen BIOFACH 2021 beschäftigt. Lest also in meinem Messe-Wrap-Up, ob ich das mit der gewonnenen Schläue ernst oder ironisch gemeint habe.
Gab es auch Wein auf der BIOFACH 2021?
Nein, zu probieren gab es selbstverständlich nichts. Zu sehen auch kaum, denn anders als bei der Millésime Bio, für die vor ein paar Wochen über 1.000 Winzerinnen und Winzer ihre virtuellen Stände aufgebaut hatten, gab es bei der BIOFACH gerade einmal eine Handvoll davon. Ecovin und seine Mitglieder, sonst immer fester Bestandteil meiner Messerunde, hatte sich diesmal auf die Theorieebene verlagert und bot (wirklich interessante) Vorträge an. Ihr werdet noch davon lesen.
So blieb es bis auf ein paar rühmliche Ausnahmen dem Biowein-Dominator Peter Riegel vorbehalten, seine Partner-Weingüter entsprechend in Szene zu setzen. Und das hat durchaus Spaß gemacht. Auf dem Foto seht ihr beispielsweise Rodolfo Valiente García von Bodegas Vegalfaro, der uns mit Selfie-Stick ein bisschen in den spanischen Vorfrühling mitnahm. Gerade wenn man seit Monaten im Büro festsitzt, ist so eine Live-Tour in die Weinberge eine sehr schöne Sache. Konkret stellte Rodolfo seine Garnacha-basierten Weine vor, die trotz Kraft viel Frische besitzen sollen – wegen der kühlen Nachttemperaturen im Hochland. Klingt auf jeden Fall nicht uninteressant.
Geisenheim rulez
VitiFIT, das klingt, flachste ich mit einem Kollegen, ein bisschen wie ein darwinistischer Trimmdichpfad für Reben. Wer selbst schon mal bei solchen Forschungsprojekten mitgemacht hat, weiß, dass die Namensfindung nicht immer ganz einfach ist. Einerseits wollen alle Beteiligten und Themen genannt werden, andererseits muss die resultierende Abkürzung auch irgendwie aussprechbar sein. So wie hier. Das FIT bei VitiFIT ist nämlich die Abkürzung für “Forschung, Innovation, Transfer”. Es handelt sich um ein von der Hochschule Geisenheim initiiertes Forschungsprojekt mit (endlich mal) genügend Geld, vielen namhaften Beteiligten und insgesamt vier Projektschwerpunkten. Wer die Details wissen möchte, sollte unbedingt auf der VitiFIT-Website vorbeischauen.
Da noch bis Mai 2024 weitergeforscht wird, können derzeit nur Zwischenergebnisse präsentiert werden. Im Bereich Pflanzenschutz zeigt sich aber schon, dass man allein aufgrund einer veränderten Darreichungsform (Mikrokapseln) etwa ein Drittel der (kupferbasierten) Spritzmittel einsparen kann.
Gar keine Spritzmittel braucht man möglicherweise bei den pilzwiderstandsfähigen Rebsorten, auch als Piwis bekannt. Dafür brauchen die Piwis vielleicht einen neuen Namen, denn so richtig begeistert scheint die potenzielle Kundschaft davon nicht zu sein. Momentaner Favorit ist “nachhaltige Rebsorten”, aber ich bin mir da nicht so sicher. Klingt doch ein bisschen lame, oder? Wie wäre es mit Regugunaks? Also “Rebsorten, die Gift und Geld vermeiden helfen und neuerdings auch kuhl schmecken”. Heute schon eine Regugu genakt? [Nein, ich mache mich da nicht lustig, das Projekt ist wirklich superinteressant. Man kann doch auch mal Spaß haben beim Forschen, gell?]
Solidarität rulez auch
Kürzlich hatte ich schon über das sehr schöne und pionierhafte Projekt von Jan-Philipp Bleeke mit seinem solidarischen Weinbau an der Mosel berichtet. Bei der BIOFACH 2021 konnte ich dann noch mehr über die Vielfalt solidarischer Ansätze erfahren. Mona Knorr (WirGarten) und Sophie Löbbering (Christoph Spahn/CSX-Netzwerk) stellten Szene, Prinzipien, Chancen und Herausforderungen vor. Timo Wand von Myzelium überlegte, ob und wie es einen gemeinschaftsbasierten Weinhandel geben könnte. Und dazwischen berichteten Jan und Andreas Dilger von ihren beiden Wein-Solawis – den ersten in Deutschland.
Wie bei allen menschlichen Beziehungen spielen auch bei den Solawis solche Elemente wie Flexibilität und Verlässlichkeit eine entscheidende Rolle. Entsprechend viele Wege führen in die unterschiedlichen Roms. Gemeinsam ist ihnen, dass sie einen Gegenentwurf zu der ich-Ich-ICH-Mentalität bilden. Bei Andreas Dilger in Freiburg sieht das zum Beispiel so aus, dass es den solidarischen Weinberg zusätzlich im Weingut gibt. Von den (vielen) Stammkunden, die Andreas auf diese Weise unterstützen, wird eigentlich keine Mitarbeit erwartet. Aber wie man oben auf dem Foto sehen kann, stehen dann doch ein paar Leute in den Rebzeilen.
Das Weingut Andreas Dilger ist ein Ecovin-Betrieb, und die ganzen Solawi- und VitiFIT-Vorträge und Diskussionen wurden alle von Ecovin organisiert. Eine tolle Horizonterweiterung. Ich glaube, wenn die gesamte Weinszene bei solchen Präsentationen dabei wäre, wäre sie auch besser aufgestellt, was zukünftige Herausforderungen anbelangt. So wie die nachhaltigen Rebsorten. Die Regugunaks, remember?
Im Wald und auf der Heide…
Eine Sache, die bei unseren französischen Nachbarn schon Buchregale füllt, hierzulande aber noch wenig Beachtung findet, ist die Agroforstwirtschaft. Agroforst, ich gebe es zu, ist als Begriff klanglich ebenso geschmeidig wie Viator & Vektor, die slowenische Spedition mit gerolltem R am Wortende. Dennoch handelt es sich um eine verblüffende und verführerische Sache. In den Tropen mit ihren nährstoffarmen Böden wird traditionell Agroforstwirtschaft betrieben, also mehrere Kulturen gleichzeitig auf unterschiedlichen Ebenen. Die Artenvielfalt ist hoch, die Auslaugung gering. Natürlich sehen solche Systeme deutlich anders aus, wenn man sie auf Europa überträgt. Und offenbar gelten definitionsgemäß abwechselnde Acker- und Gehölzstreifen ebenso als Agroforst wie der Anbau schattenliebender Pflanzen unter einem Baumdach.
Christian Böhm vom DeFAF stellte solche Agroforst-Systeme in der Praxis vor. Und Andrea Beste vom Büro für Bodenschutz & Ökologische Agrarkultur referierte darüber, wie man den Boden am besten lebendig erhalten kann. Mit Permakultur und Agroforstwirtschaft zum Beispiel. Interessant fand ich als Weinmensch vor allem ihre Aussage, dass Sonderkulturen per se keine stabilen Systeme seien. Wenig Artenvielfalt, keine Fruchtfolgen, Abhängigkeit von Pflanzenschutzmitteln. Ja, bedenklich, aber komplett nachvollziehbar.
Welches System hat am meisten Widerstandskraft?
Was ist denn dann ein stabiles System in der Kulturlandschaft? Also eines, das für sich allein existieren könnte und das trotzdem eine Ernte bringt, von der Anbauer*innen leben können? Zurück in die Jäger-und-Sammler-Zeit wollen wir ja nicht gehen. Zu der Frage gab es eine interessante Anregung von der Seitenlinie. Mathias Maurerlechner von der TU Berlin ist eigentlich Landschaftsarchitekt, und er gewann einen der BioThesis-Forschungspreise bei der BIOFACH. Sein Thema: Entwerfen antifragiler Landschaften. Antifragil, was soll das sein? Antifragilität ist ein Konzept, das Nassim Nicholas Taleb vor einigen Jahren entwickelt hat. Und das besagt es:
Ein robustes System hält schwierige Bedingungen vergleichsweise lange aus. Ein resilientes System erholt sich nach einem Rückschlag wieder. Ein antifragiles System hingegen braucht sozusagen diese Anfeindungen von außen, um daraus zu lernen und stärker zu werden. Ein bisschen ist das beim menschlichen Immunsystem so, und es gilt auch für künstliche Intelligenz. Trial & Error sind dabei grundlegende Prinzipien, um für das nächste Mal besser vorbereitet zu sein. Dieser Ansatz erinnert mich an das Konzept der Salutogenese aus der Biodynamik. Auch da geht es darum (jetzt mal wieder auf Weinbau bezogen), die Reben langsam so zu stärken, dass sie eigene Abwehrmechanismen entwickeln. Ich gebe zu, das sind zunächst einmal theoretische Überlegungen. Aber Mathias Maurerlechner hat seine antifragilen Landschaften am Beispiel der Vorderpfalz modelliert. Und was in Ludwigshafen funktioniert, das behaupte ich jetzt einfach mal, kann woanders auch funktionieren.
Blind Dates mit Startups
Ganz zum Schluss noch die Auflösung, was es denn mit den Leuten vom Titelfoto auf sich hat. Das sind schlichtweg Teilnehmer*innen am Startup-Matching. Dabei wurden wir Internet-Publisher für jeweils sieben Minuten in einen digitalen Breakout Room zusammen mit jeweils einem Startup geworfen, wo wir uns dann kennenlernen konnten. Zu viele Anglizismen, findet ihr? Ja, so ist es. Aber die Muttersprache des Internets ist nun einmal Englisch. Und das Format dieser Breakout-Sessions halte ich wirklich für sehr gelungen. So etwas kann nächstes Mal ruhig wiederkommen.
In einem dieser Dates habe ich Franzi von Essento kennengelernt. Die werben auf ihrer Website mit dem Slogan “Iss doch mal Insekten!” Ob ich also wirklich die in drei Sorten und Würzrichtungen angebotenen Insekten probieren soll und eine passende Weinbegleitung dazu überlegen? Mehlwürmer for Future? Als antifragiles System würde ich das auf jeden Fall tun.
Fazit: an Schläue gewonnen
Ein abenteuerlicher Parforceritt war das durch meine persönliche BIOFACH 2021. An den teilweise wilden Wendungen könnt ihr sicher erkennen, dass mir dabei überhaupt nicht langweilig gewesen ist. Ganz im Gegenteil, der Terminplan war richtig gut gefüllt, und ich habe von vielen Vorträgen und Konferenzen noch gar nicht berichtet. 13.800 registrierte Teilnehmer*innen waren laut offizieller BIOFACH-Pressemeldung an den drei Tagen zu insgesamt 775 Sessions und über 10.000 Video-Meetings dabei.
Viel viel mehr als in den vergangenen Jahren habe ich dabei das Session-Angebot auch genutzt. Und viel viel weniger als in den vergangenen Jahren bin ich direkt zu den Ständen gegangen. Nicht nur, weil das Filtersystem der Datenbank so mies wie immer war (sorry). Sondern vor allem deshalb, weil dieses Stöbern, dieses Zufallsprinzip, dieses “da ist gerade niemand” oder auch “da ist gerade jemand, den ich kenne” bei einer digitalen Veranstaltung einfach nicht so funktioniert. Hier müssen die Aussteller selbst eine kleine Show machen, um Besucher*innen anzulocken. So wie Sonnentor zum Beispiel, die in bester QVC-Manier live per Video ihre Neuigkeiten präsentierten. Wenn ich da als Aussteller nur passiv am Stand sitze und hoffe, dass irgendjemand vorbeikommt, dann wird genau das vermutlich nicht passieren.
Technisch hat alles viel besser funktioniert, als ich das vorher befürchtet hatte. Die Fortschritte gegenüber der Millésime Bio waren greifbar, und wir lernen in dieser Hinsicht in der jetzigen Krise unglaublich viel dazu. Insofern: Ja, ich bin tatsächlich schlauer aus der BIOFACH herausgekommen. Wegen der interessanten Themen, die auch über den Tellerrand hinausgingen – oder mich zumindest dazu angeregt haben, noch weiter zu recherchieren. Natürlich, eine gute Börse zum Kontakten und wahrscheinlich auch zum Verkaufen ist so eine zweidimensionale digitale Version noch nicht. Aber selbst wenn es im nächsten Jahr wieder zu persönlichen Treffen kommen kann, auf einige der jetzigen Features möchte ich ehrlich gesagt nicht mehr verzichten…
Hallo Matthias
danke für deinen erfrischenden “Wrap-Up” (um die Anglizismen beizubehalten) der Biofach. Es war schön, dich beim Speeddating kennenzulernen. Dein Probierpaket mit Insekten ist unterwegs und wir sind gespannt auf dein Feedback.
Liebe Grüsse
Franzi
Toller Bericht!
ROBUSTE REBEN fände ich einen gelungenen Namen für die Piwis! Aussagekräftiger und wahrscheinlich besser zu vermarkten.
Den Begriff gab es auch zur Auswahl in der Befragung! Ergebnis: Platz 3 im Expertenpanel, Platz 2 sogar bei Konsumenten. Also auch mit oben dabei. Man sieht: Du kennst dich aus mit Kundenwünschen 😉
Pingback: Sauvignon zum Mehlwurm? Insekten-Snacks und Wein - Chez MatzeChez Matze
Pingback: Biofach 2024 - die politische Messe - Chez MatzeChez Matze