Bis vor ein paar Tagen war ich noch nie richtig in China, diesem bevölkerungsreichsten und volkswirtschaftlich größten Land der Welt. Da ging es mir sicher nicht anders als sehr vielen anderen Menschen in unserer Republik. Dennoch kursieren über China – gemessen an der Zahl derjeniger, die wirklich komplett auf eigene Faust etwas vom Land gesehen haben – überproportional viele Gerüchte. Und die meisten davon sind nicht gerade schmeichelhaft: Laut sei es, dreckig, unfreundlich, bitterarm, glitzerreich, gleichgeschaltet, man äße Hunde und verpeste die Luft des restlichen Planeten. Zeit also, selbst mal nachzuschauen, wenn auch nur für wenige Tage. Dafür aber gleich in der verbrieft größten Stadt des Landes und der Welt: Shanghai.Schon bei der Einfahrt vom Flughafen, äh, fühlt man sich in der Moderne angekommen. Im Maglev und mit dem Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige gedenken wir still Edi Stoibers Traum, mit einem, äh, ebensolchen Vehikel zehn Minuten in den Hauptbahnhof direkt zu starten am und, äh, auch egal.
Achtung, Durchsage: Liebe Freunde des umstandslosen Reisens, es gibt mittlerweile unter bestimmten Bedingungen ein kostenloses und visumfreies 144-Stunden-Ticket für Shanghai und Umgebung, schaut beim Auswärtigen Amt nach!
Natürlich lässt es sich kaum vermeiden, wenn man schon die größte Stadt des bevölkerungsreichsten Landes der Welt ist, dass man dann auch ansonsten zu leichten Gigantomanien neigt. Hier seht Ihr den Blick vom Shanghai Tower, mit 632 Metern Höhe derzeit das zweithöchste Bauwerk der Welt. Vor uns die Banken-Hochhäuser von Pudong, dann folgt der Huangpu River und anschließend die Uferpromenade The Bund und der ganze Rest von Shanghai. Übrigens scheint es keine Ausnahme zu sein, dass der Blick relativ ungetrübt bis an den Stadtrand erfolgen kann: Im Vergleich mit anderen chinesischen Städten besitzt Shanghai eine eher geringe Luftverschmutzung.
Das hängt aber auch hiermit zusammen. Wie bitte, mit diesem alten Mofa? Ja, als Teil des großen Ganzen. Wenn Ihr genauer hinschaut, erkennt Ihr nämlich, dass Tank und herkömmlicher Motor hier fehlen. Es handelt sich mithin um ein nachgerüstetes E-Bike. Ich war total überrascht, dass der motorisierte Zweiradverkehr in Shanghai überhaupt nicht mehr mit Knatterbüchsen absolviert wird, sondern praktisch ausschließlich lautlos saust. Vielleicht muss einem das Umweltdesaster auch bis zum Hals stehen, bevor man derartige Maßnahmen erfolgreich durchsetzen kann. Aber wer noch mal behauptet, die Asiaten als solche besäßen einen naiven und rücksichtslosen Fortschrittsglauben, der sollte lieber erst mal ein paar Updates auf seine alte Platte aufspielen lassen. Plastiktüten gibt es in den Geschäften von Shanghai zum Beispiel auch nicht mehr, es scheint einiges in Gang gekommen zu sein.
Natürlich bin ich weit davon entfernt, den chinesischen Gesamtansatz zu glorifizieren. Aber ich finde es immer wieder erstaunlich, wie differenziert sich Dinge gestalten, wenn man ein bisschen genauer hinschaut. A propos Glorifizierung übrigens: In dem Moment, da ich dieses Foto von “unserer Versorgungsstraße” in Hotelnähe schoss, ertönte vom Glockenturm des nicht weit entfernten Customs House eine Melodie. J war sichtlich erstaunt darüber, dass ich sie sofort erkannte. Es handelt sich um das schöne Lied “Der Osten ist rot”. Gebimmelt selbstverständlich, nicht geschmettert.
Dass ich erst jetzt in China gewesen bin, hatte auch etwas damit zu tun, dass ich mir nicht sicher war, ob das Internet funktioniert. Und wenn man beruflich genau darauf angewiesen ist, geht man ungern unnötige Risiken ein. Stand jetzt, also im Oktober 2016, gestaltete es sich folgendermaßen: Was in Shanghai funktioniert hat, das war mein Blog (…), die Yahoo-Emailadresse, die gmx-Emailadresse, Wikipedia, WhatsApp und Bing als Suchmaschine. Was nicht funktioniert, sind Google, Facebook, Instagram und die Seite des U.S.-Weinimporteurs Kermit Lynch. Kann sich aber täglich ändern.
The Bund haben wir ja schon von oben gesehen, aber pünktlich zum Einfall der Dunkelheit muss jeder Besucher dieser Stadt auch direkt dort sein. Die meisten knipsen verwackelte Selfies, aber es gibt auch professionellere Ansätze und einfach größere Gesten der Inszenierung, wie Ihr hier sehen könnt.
Da Ihr Euch hier primär auf einem Foodblog befindet, soll es von nun an ums Essen gehen. Und da kann ich mich wirklich überhaupt nicht beklagen. Es gibt einfach jegliche Stufen des Essvergnügens.
Kürzlich kam der “Guide Michelin” heraus, der allererste für Shanghai, und die Sterne- und Nicht-Sternevergabe hat natürlich einigen Wirbel verursacht. Der Vorwurf, die Tester hätten lediglich eingefahrene Pfade beschritten und nur solche Restaurants besucht, deren Mutterhäuser sie schon von woanders kannten, ist sicher nicht unbegründet. Aber es ist auch ein bisschen schwierig, sich in einer Stadt mit Zehntausenden von Restaurants wirklich auszukennen. Vielleicht gibt es deshalb schon seit der 2012er Ausgabe keinen Michelin für Tokio mehr, da ist das Problem ähnlich gelagert. Die Einheimischen suchen ihre Restaurants übrigens beim Internetportal dianping, hier als Beispiel das mit zwei Sternen am höchsten bewertete Restaurant mit lokaler Küche, das Yongfoo Elite.
Keinen Stern hat der nette Mann auf dem Foto oben bekommen, aber als Vormittags- und eigentlich-immer-Snack eignen sich seine Mantous ausgezeichnet. Es gibt mehrere Sorten, und die Preise sind so beschaffen, dass man für umgerechnet rund einen Euro richtig satt wird. Und diese Preisgestaltung dürfte nicht zufällig sein, sondern mit dem Einkommen der vielen “einfacheren” Leute in der Gegend korrelieren.
Wenn Ihr erst einmal “nur schauen” wollt, dann könnt Ihr in dieses Kaufhaus in der Nanjing East Road gehen. Auf drei Etagen werden in der Shanghai First Foodhall an vielen Ständen eher altmodischere Speisen und Zutaten verkauft.
In der Old City, die man wirklich besucht haben muss (aufgebaute Prachthäuser, großes Gewühle, detailreiche Andenken- und Klimbim-Shops), könnt Ihr Euch entweder in die sehr lange Schlange vor dem Nanxiang Steamed Bun Restaurant einreihen oder auch ein paar Meter weiter in die riesige Kantine in unmittelbarer Nähe des City God Tempels gehen. Das Titelfoto dieses Artikels zeigt das Innere dieses Esstempels, und oben seht Ihr zwei Tabletts mit Tellern, die wir uns dort zusammengestellt haben.
Es geht ganz einfach: Tablett nehmen, an der Theke vorbeigehen und einfach alles draufpacken, was Euch interessiert. Dann geht’s zur Kasse, es wird abgerechnet, und Ihr begebt Euch an einen Tisch. Getränke werden von Kellnerinnen serviert, die mit Wägelchen herumlaufen. Vielleicht würde eine Kombination wie diejenige auf dem Foto die Chinesen ob ihrer Ungeeignetheit umhauen, vielleicht heißt es aber auch “everything goes”. Jedenfalls aßen wir panierte Hühnerfüße, Schwimmkrabben, Tofu in Sojasoße, Eierstich, grünen Spargel, Reis, Osmanthus-Kuchen (Gui Hua Gao) und das hier…
…Xiaolongbao, die vielleicht berühmteste Spezialität Shanghais. Es handelt sich um eine riesige Nudel, gefüllt mit einer Schweinefleisch-Gemüse-Brühe. Genau das hättet Ihr nach einer halben Stunde Wartezeit beim Nanxiang Steamed Bun Restaurant auch bekommen.
Shanghai wäre aber nicht die modernste Stadt Chinas, wenn es dort ausschließlich alteingesessene Dinge geben würde. Westlich der Altstadt erstrecken sich weitaus modernere Einkaufsviertel. In der K11 Mall, einer Kombination aus Kunstausstellung und Shopping-Center, könnt Ihr zum Beispiel auch Kochkurse besuchen.
Und für diejenigen, die nach einem längeren Aufenthalt einfach Sehnsucht nach einer Weißwurst haben, gibt es im schicken Cafébezirk Xintiandi dementsprechende Orte.
Es muss übrigens nicht immer nur importiertes Bier sein. Nachdem der chinesische Staat sein Verbot für Klein- und Kleinstbrauereien gelockert hat, kommen die ersten craft beers aus einheimischer Produktion auf den Markt. Die Bestimmungen sind allerdings immer noch ein wenig kompliziert, wie Ihr beispielsweise hier im Hopfenhelden-Magazin nachlesen könnt. Master Gao, bürgerlich Gao Yan, musste sich auch erst bei einer Großbrauerei einmieten, bevor er letztendlich unabhängig werden konnte. Schöne chinesische Etiketten macht er und mit dem “Baby IPA” genau das, was der Name aussagen soll: eine mildere IPA-Version mit immerhin noch 14,6 ° Stammwürze.
Und auf dem Heimweg noch ein paar Snacks: Dieser Mann macht Fried Mantou, während es heute Vormittag ja Steamed Mantou gab. Dafür werden die gefüllten Dumplings auf einer Eisenplatte noch einmal gebraten und danach ein wenig mit Schwarzkümmel und Lauch bestreut – sehr empfehlenswert. Mehr zur Vielfalt der gefüllten Teigtaschen hier.
Ente geht eigentlich immer. Diese Laden befindet sich direkt neben dem vorherigen in der Nähe des U-Bahn-Ausgangs der Nanjing East Road.
Und noch ein Tipp: Solltet Ihr den Jing’an-Tempel besuchen (was Ihr ziemlich sicher tut, wenn Ihr in Shanghai seid), dann geht doch nebenan in das “Tempelrestaurant” Jen Dow. Da es sich um einen buddhistischen Tempel handelt, gibt es hier – ebenfalls im Kantinenstil, also nicht zu kompliziert für Newbies – ausschließlich vegetarische Küche. Die Jen Dow-“Haussuppe” (auf dem Foto links) ist schön würzig, während die Jing’an-Suppe (rechts) mit einer ungeheuren Vielfalt an Pilzen verblüfft. Pilze, die in Textur und Geschmack Eierstich oder Sellerie oder Hühnchenfleisch oder Knoblauchbaguette oder wasweißich ähneln. Fantastisch. Und sieben Euro umgerechnet für beide Suppen zusammen.
Ich weiß, dass ich nur sehr kurz in Shanghai war und dass es mir deshalb nicht zusteht, irgendwelche allgemeingültigen Dinge zu behaupten. Aber die Stippvisite hat mir wirklich sehr gefallen, zumal sich der lokale Wettergott auch ausgesprochen freundlich zeigte. Und bei so einem Blick aus dem Hotelzimmer gibt es dann endgültig nichts mehr zu meckern.
Erst beim Weiterflug aus der Luft konnte ich ihn schließlich sehen, den (was auch sonst…) zweitgrößten Hafen der Welt. Werften und Lagerhallen am Ufer, Zubringer- und Verteilerboote auf dem Fluss. Unter den zehn größten Häfen der Welt ist übrigens nur ein einziger europäischer, nämlich Rotterdam. Dazu Singapur. Und acht chinesische Häfen. Irgendwie wird es Zeit, sich mal etwas intensiver mit diesem Land zu beschäftigen. Da scheint mir so eine Stippvisite doch ein gutes Startsignal gewesen zu sein…
Jetzt könnte ich gleich mal so eine Haussuppe Jen Dow essen.
Jetzt weiß ich Bescheid. Lasse dir für den Bericht vom Edi Stoiber eine Rose hinrichten.
Moin,
meines Wissens ist Chongqing die größte Stadt der Welt (ca. 33 Mio Einwohner). Oder?
Naja, das ist immer ein Problem der Definition und des Zählerfolgs 😉 . Die größte Metropolregion ist immer noch Tokyo (dazu gehören z.B. auch Yokohama, Kawasaki und Chiba), als die größte Stadt an sich (“city proper”) gilt Shanghai, aber Karachi ist auch vorn dabei, und da gibt es definitiv keinen wirklich funktionierenden Zensus… Definiert als größte Stadtregion (“urban area”) ist dagegen Guangzhou die Nr. 1 (das hattest Du möglicherweise mit Chongqing verwechselt), aber da haben sie dann auch Shenzhen mit reingepackt…, weil es halt eine weitgehend infrastrukturell und bebauungstechnisch zusammenhängende Fläche ist. Alles nicht so einfach jedenfalls 😉
Neenee, Chongqing hat eine Ausdehnung von 82.300 km², Guangzhou ist da deutlich kleiner … Ich habe die beiden nicht miteinander verwechselt (wo ich doch schon in beiden Städten war :-)) Aber Du hast Recht, es kommt auf die Definition an.
Was mir noch zu Definitionen einfällt (hat nur mittelbar etwas mit unserem Thema zu tun, aber okay 😉 ): In U.S.-amerikanischen Werken wird gern mal als größte Stadt Deutschlands genannt…: Essen! Weil die “Ruhr area” die größte urbane Siedlung ist und Essen wiederum der bevölkerungsreichste Kern darin. Diese Statistiker machen es einem schon nicht leicht 😉
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