Ich hocke am Küchentisch der Onozakis. Das heißt, halb hocke ich, halb sitze ich. Unter dem niedrigen Tisch gibt es eine geheizte Ausbuchtung, in die man seine Füße stellen kann. Ich kann mir gut vorstellen, dass man das im Winter dringend benötigt. Die Wände des alten Hauses sind dünn, und wir befinden uns am Rand der Berge. Aber was mache ich eigentlich hier, bei dieser japanischen Familie mitten auf dem Land?
Vom Supermarkt zum Ursprung
Die Lösung des Rätsels führt zurück nach Deutschland. Dort befindet sich der Sitz der Firma Arche. Arche Naturküche, kennt ihr sicher aus dem Regal im Bio-Supermarkt. Dort hatte ich auch das unpasteurisierte Bio-Reismiso von Onozaki gesehen. Ich wollte schon immer mal wissen, wie richtig traditionelle japanische Lebensmittel hergestellt werden. Und Miso ist einer der wichtigsten Protagonisten der japanischen Küche. Diese fermentierte Paste aus Sojabohnen und (meist) Reis wird als Zutat beispielsweise für bestimmte Typen von Ramen benutzt, vor allem aber als Grundlage der Misosuppe. Misosuppe gibt es als Begleitgetränk bei fast jedem japanischen Essen, und traditionell gibt es in Japan zum Frühstück nicht etwa Brötchen und Kaffee, sondern Misosuppe und Reis.
Schon öfter war ich in Tokio, aber bis auf meine eindrücklichen Weingutsbesuche bei Grace und bei der Coco Farm hatte ich vom Landleben bislang noch nicht viel gesehen. Als ich dann dank persönlicher Verbindungen über Beautyjagd in Kontakt mit Stefan Schmidt gekommen bin, dem Geschäftsführer von Arche, dachte ich mir: ein Wink des Schicksals! Da ich wusste, dass ich ohnehin in Tokio sein würde, fragte ich ihn einfach, ob es möglich wäre, die Firma Onozaki zu besuchen. “Firma ist gut”, meinte er, “das ist ein sehr kleiner Betrieb. Aber wenn Herr und Frau Onozaki rechtzeitig Bescheid wissen, wird das sicher funktionieren.”
Und so machen wir uns an einem Novembermorgen mit dem Regionalzug auf in Richtung Yaita, zweieinhalb Stunden nördlich von Tokio. Wir, das sind Gero Plath und ich. Gero arbeitet seit vielen Jahren in Tokio und spricht hervorragend Japanisch. Ganz im Gegensatz zu mir. Er wird heute also für mich übersetzen und mir vielleicht auch dabei helfen, nicht in alle möglichen Fettnäpfchen zu treten. Das erste ist mir nämlich bereits widerfahren: Im Zug merke ich, dass ich mein Gastgeschenk auf dem Hotelzimmer habe liegen lassen. Also besorge ich beim Umsteigen schnell noch …einen Käsekuchen. Nicht perfekt, aber mit viel Wohlwollen kann man es ja für so eine Art Gruß aus Deutschland halten. Ähem.
Auf dem Farmers’ Market von Yaita
Herr Onozaki wartet schon am Bahnhof. Bevor wir jedoch zu ihm ins Dorf fahren, geht es zunächst auf den Farmers’ Market. Das ist ein supermarktähnliches Gebäude am Rand von Yaita. Es gehört auch der Gemeinde, die damit für alle kleinen Produzenten der Region die Möglichkeit geschaffen hat, ihre Produkte zu verkaufen, ohne irgendwo einen eigenen Marktstand unterhalten zu müssen. Herr Onozaki ist fast täglich hier und liefert Miso und Kōji ab. Kōji, den Pilz, den man zum Fermentieren benötigt? “Ja”, sagt er, “es gibt hier viele Leute, die ihre Miso selbst herstellen möchten, und dafür brauchen sie Kōji.” Für meine Augen sehen Obst und Gemüse auf dem Markt sehr appetitlich aus, aber Herr Onozaki interveniert. “Die Yuzus hier, die haben kleine braune Stellen. So etwas würde man in den Supermärkten von Tokio nie verkaufen können, das ist nicht perfekt genug. Aber bei uns geht das zum Glück.”
Onozaki-Miso – handgemacht
Das Dorf ist klein, in dem die Onozakis leben und arbeiten. Mehr als 20 Häuser sind es nicht, darunter ein paar beeindruckende, alte Exemplare in Holzbauweise. Herr Onozaki lacht, als ich vermute, dass es sich bei den kleinen Steinhäuschen auf Stelzen um Tempel handelt. “Nein, das sind Reishäuser. Früher haben hier alle Reis angebaut, und in diesen Häuschen wurde der Reis aufbewahrt.”
Nachdem es jetzt schon Mittag geworden ist, gibt es erst einmal Essen. Frau Onozaki hat vegan gekocht. “Viele Gäste aus dem Westen möchten sich vegetarisch oder vegan oder makrobiotisch ernähren. Und da habe ich gedacht, ich mache einfach ein veganes Essen. So schwierig ist das bei unseren Zutaten ja nicht”, lacht sie. Und tatsächlich, es schmeckt ausgezeichnet! Ich frage sie, wie lange sie schon hier im Dorf sind. “Als Familie mindestens so lange wie das Haus selbst”, sagt Frau Onozaki, “also seit 300 Jahren“. Herr Onozaki ergänzt: “Die Grundsubstanz des Hauses ist immer noch dieselbe. Aber wir mussten baulich ein bisschen verändern. Früher war die Produktion hier direkt an den Wohnraum angeschlossen. Das mussten wir auslagern wegen der hygienischen Bestimmungen. Wir brauchen ja das Zertifikat, wenn wir unsere Produkte verkaufen wollen – auch im Farmers’ Market.”
Wie wird Onozaki-Miso hergestellt?
Nach dem Essen gehen wir in die Produktion, die direkt im Gebäude nebenan ist. Es gibt ein paar Maschinen wie einen großen Dampfkochtopf, um die Arbeit zu erleichtern. Aber im Prinzip findet die Produktion nach vorindustriellen Methoden statt. Viel Handwerk, viel Know-how. Die Rohstoffe bauen die Onozakis allerdings nicht mehr selbst an. In größen Säcken befinden sich Sojabohnen, Reis und Gerste. Dazu kommt noch etwas Salz, und das ist es dann. Mehr ist nicht enthalten im Miso. Oder doch, denn das Geheimnis der Misopaste ist ja die Fermentation, und die findet nicht statt, wenn man trockene Reiskörner einfach an die Luft legt. Der Schlüssel heißt Kōji. Das ist ein Schimmelpilz, der meist auf Reiskörnern gezüchtet wird. Kōji bildet Enzyme, die die Stärke im Reis in Aminosäuren, Fettsäuren und Zucker umwandeln.
Kōji ist eine hochgradig komplexe und individuelle Angelegenheit. Je nach Reisart, Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Mineralgehalt des Wassers kann das Endprodukt ganz anders ausfallen. Normalerweise passiert so etwas industriell, ebenso wie der Miso-Fermentationsprozess in Feststoff-Bioreaktoren stattfindet. Nicht bei den Onozakis. Wir gehen in einen warmen und feuchten Raum mit Holzkistchen an den Seiten und einem Thron aus Decken in der Mitte. “Ich nenne es das Kōji-Bett“, sagt Herr Onozaki, “das ist das Herzstück unserer Produktion.” Decke um Decke lüftet er, bevor ganz unten der Reis sichtbar wird, der von einer Art bräunlichem Staub bedeckt ist. “Wärme und Feuchte sind ganz wichtig, damit Kōji beginnt zu arbeiten”, sagt Herr Onozaki. “Einen Tag lang bleibt der Reis unter den Decken. Dann kommt er noch einmal für einen Tag in die kleinen Holzkisten, die hier am Rand stehen.”
Er zeigt mir den Inhalt dieser flachen Kisten. “Das ist sozusagen die Starterkultur.” Miso besteht ja nicht primär aus Reis, sondern ebenso aus Sojabohnen, und die werden zunächst gewaschen und langsam in einem großen Kochtopf gedämpft. Zwei Typen Miso stellen die Onozakis her, Gerstenmiso und Reismiso. Die “Starterbasis” besteht dabei entweder aus Reis-Kōji oder aus Gersten-Kōji. Sojabohnen, Salz und Wasser sind dagegen bei beiden Typen gleich.
Geduld als Grundzutat
Anschließend werden die Zutaten vermengt und in große Holzfässer gegeben. Alle müssen dabei mithelfen, den Antritt zu erklimmen, denn die Fässer können nur von oben befüllt werden. “Früher waren die Fässer oben offen”, erzählt Frau Onozaki, “denn bei der Fermentation entsteht nun einmal Gas, und das muss irgendwie entweichen.” Mittlerweile sei aber alles mit einer Plastikfolie bedeckt. Das sieht weniger romantisch aus, ist aber in der Tat viel hygienischer.
Ich klettere auch auf den Antritt und schaue auf die beigefarbene Paste im Fass. “An der Farbe kann man erkennen, wie lange das Miso schon reift”, erklärt Frau Onozaki. “So hell ist es nur, wenn es ganz jung ist. Mit zunehmender Reife verdunkelt es sich.”
Weil die Materie im Fass “lebt”, sind außen an den Fässern Ringe aus Bambus angebracht. Auf diese Weise kann man das Fass an bestimmten Stellen verengen. Ein Jahr lang bleibt die Paste in den Fässern und erlebt dabei alle vier Jahreszeiten. Das heißt, vier Jahreszeiten sind es bei uns, in Japan sind es eigentlich noch mehr, denn es gibt im Sommer erst eine Regenzeit, dann eine tropisch-heiße Saison und dann die Taifun-Saison. Das kennen wir alles in Europa nicht. Allerdings auch nicht den Sonnenschein im Winter. Während die Sonne in Deutschland im Januar durchschnittlich keine zwei Stunden am Tag scheint, sind es in Tokio sechs.
Abfüllen und ab nach Deutschland
Nach einem Jahr wird abgefüllt, und zwar in Eimer mit Holzdeckel. Genau diese Eimer werden zunächst nach Yokohama gebracht und kommen dann per Container schließlich in Hilden bei Düsseldorf bei der Firma Arche an. “Arche füllt das selbst in Gläser ab”, sagt Herr Onozaki. “Wir haben hier keine Abfüllanlage und verkaufen unser Miso nur lose, also entweder in großen Beuteln oder in Eimern.”
Zum Abschluss möchte ich noch wissen, warum es so wichtig sei, dass Miso unpasteurisiert ist. Da habe ich offenbar genau die richtige Frage gestellt. “Oh”, meinen die Onozakis unisono, “das ist das Wichtigste überhaupt!” Zwar werde mittlerweile auch in Japan (in anderen Ländern sowieso) fast ausschließlich pasteurisiertes Miso verwendet, aber das sei im Grunde genommen ein ganz anderes Produkt. Da wäre alles entfernt, was Miso so wertvoll mache, zum Beispiel die Enzyme. Um das zu verstehen, müsse man nur einmal den Agar-Agar-Test machen. Den was? “Ja”, sagt Herr Onozaki, “Agar Agar, das Geliermittel zum Festwerden von Süßspeisen. Gibt man Agar Agar zu unpasteurisiertem Miso, wirken die Enzyme auf die Masse ein, und das Agar Agar wird zu Suppe.” Und bei pasteurisiertem Miso? “Da passiert gar nichts!”
Zurück voller Eindrücke
Schließlich ist die Zeit gekommen, das gastfreundliche Haus wieder zu verlassen. Herr Onozaki fährt mich zurück zum Bahnhof. Auf halber Strecke bitte ich ihn, doch noch einmal anzuhalten, damit ich die schöne Landschaft fotografieren kann. Der Tag ist ganz klar, und die Berge heben sich gleichermaßen dunkelblau wie rotlaubig vom Horizont ab. Herr Onozaki hat in der Zwischenzeit bei den Gemüsebeeten noch etwas anderes entdeckt: Hühner. “Oh”, schwärmt er, “so schöne Exemplare! Das sind Ugokei, Seidenhühner, eine ganz alte Hühnerrasse.”
Epilog
Als Abschiedsgeschenk geben mir die Onozakis noch eine schwere Tüte mit. Als ich sie öffne, hole ich zwei Beutel heraus: ein Kilo Reismiso und ein Kilo Gerstenmiso. Handgemacht und unpasteurisiert. Erst denke ich, arigato gozaimasu, vielen Dank, fürchterlich nett, aber was soll ich bloß mit zwei Kilo Misopaste anfangen?! Zu Hause habe ich dann erstmal die Masse in leere Gläser gefüllt, und im Kühlschrank hält sich das problemlos über mehrere Monate.
Mittlerweile habe ich mich aber richtig daran gewöhnt, fast jeden Tag ein kleines Schälchen mit Misosuppe zu mir zu nehmen. Einfach als eine Art isotonischen Drink oder als Begleitung zum Mittagessen. Wenn ich mir die Fotos anschaue, denke ich immer voller Freude an den schönen Tag auf dem japanischen Land zurück. Und jedesmal bekomme ich Appetit auf eine Misosuppe. Da, jetzt schon wieder! Sayonara, liebe Onozakis, und habt bitte noch recht lange Spaß am Misonieren…
Vielen Dank für diesen tollen Artikel! Schon seit Jahren benutze und liebe ich diese Misopaste. Sie schmeckt einfach am besten von allen Misopasten die man so in Deutschland bekommen kann und es ist auch eine der wenigen die unpasteurisiert ist.
Schon oft habe ich mich gefragt, wie es wohl in der Onozaki Manufaktur zugeht, die immer auf dem Etikett erwähnt wird.
Endlich habe ich umfangreiche Informationen dazu bekommen, jetzt bin ich erst recht begeistert!
Das freut mich sehr! Ich war auch sehr beeindruckt, vor allem weil da so viel echter “altjapanischer” Geist mitschwingt 😉 . Schade, dass man gar nicht abschätzen kann, wann für uns gewöhnliche Europäer eine Reise nach Japan wieder möglich sein wird…