Plage des Catalans. Eine Reisegruppe steht ein bisschen verloren unter einer Wendeltreppe. Niemand zückt das Handy, um den berühmten feinsandigen Strand zu fotografieren. Leise tropft der Regen herab, so fein, dass er überhaupt keine Spuren im Sand hinterlässt. Draußen zieht ein einsamer Schwimmer seine Kreise. Der Club des Nageurs ist direkt nebenan, und so stetig, wie mein Großvater morgens mit seinem Hund eine Runde ums Dorf gedreht hat, dürfte auch dieser Schwimmer jeden Tag hier sein. Ich denke einen Satz, der sich fast wie ein Zitat anhören könnte: „Man wird eine Stadt erst wirklich lieben, wenn man sie auch im Regen erlebt hat“. Im Moment stelle ich diese Annahme auf eine harte Probe. 22.000 Schritte durch Marseille, jeder einzelne davon umgeben von permanenter Nässe.
An der Corniche
Ich war aus der Innenstadt geflohen an die Corniche, die Küstenlinie, die ansonsten wie ein Reißverschluss die weiße Stadt mit dem blauen Meer verbindet. Ganz sicher war ich mir nicht, ob das eine gute Idee ist, ausgerechnet bei einem solchen Wetter die sichere Nähe von Fußgängerzone und Metrolinie zu verlassen.
Als ich das Restaurant Peron erreiche, ein ockerfarbener Klotz, der sich allein zum Meer hin öffnet, fängt es auch noch an zu donnern, und ein Windstoß krempelt meinen Schirm um auf die falsche Seite. Zwei Küchenjungs sitzen rauchend am Hintereingang. Genau hier wurde ein Empfang zu Ehren von Staatspräsident Macron gegeben. Der zufällig günstigen Sitzordnung direkt gegenüber dem Präsidenten, so vermutet es die Lokalzeitung, sei es geschuldet gewesen, dass mittlerweile der Vorsitzende der örtlichen Industrie- und Handelskammer als Spitzenkandidat für die anstehenden Wahlen gehandelt wird.
Hier an der Corniche ist Marseille nicht die Stadt, in der nachts Autos brennen. Es ist auch nicht die Stadt, durch die Gruppen kurzhosiger älterer Touristen strömen, die alle von den Kreuzfahrtschiffen an der Mole stammen. Und es ist auch nicht die Stadt, in der Vin Naturel-Bars eine Klientel anziehen, die ein bisschen mehr soziale Freiheit genießen will. An der Corniche gibt es Beach Clubs und Sternerestaurants. Und es gibt einen einsamen Wanderer, dem jetzt zum zehnten Mal der Schirm umklappt.
Das Vallon des Auffes
Das Vallon des Auffes ist für mich das Highlight der Corniche, gleichzeitig aber auch eine völlig unwahrscheinliche Enklave inmitten der Stadt. Die Brücke führt den Küsten-Boulevard über eine Bucht, und plötzlich sehe ich das Meer nicht nur rechterhand, sondern auch links in die Stadt hineinschwappen. Wie aus einer Drohnenperspektive fotografiere ich von der Brücke aus in die Bucht hinein. Zahllose kleine Boote liegen aufgereiht am Ufer, dahinter Restaurants wie das Chez Fonfon, in dem es die berühmteste echte Bouillabaisse von Marseille gibt. Auch hier rauchen die Bedienungen vor dem Eingang, während sich die letzten Gäste nach den vielen Gängen langsam von ihren Plätzen erheben. Unten an der Bucht hört man nichts vom Autoverkehr, der über die Brücke perlt, und tatsächlich vermittelt diese tropfende Nachmittagsstunde den Eindruck, weit außerhalb der Saison an einem kleinen Hafen am Mittelmeer zu stehen.
Um wieder in die Innenstadt zu kommen, nehme ich die nächstbeste Straße direkt in Richtung Norden. In den Fels gehauene Tunnel wechseln sich ab mit kleinen Läden und schmucklosen HLM-Hochhäusern. Schließlich spürt man, irgendwie in die Nähe des Vieux Port geraten zu sein. Es gibt wieder kurzhosige Touristen, die sich in eine Seitenstraße verirrt haben, und es gibt die ersten Restaurants mit zweisprachigen Speisekarten am Aushang. Genau an der Grenze zwischen Wohnviertel und den Nobelboutiquen der Rue Grignan befindet sich der Cave des Papilles, die Zweigniederlassung der bekannten Pariser Weinhandlung. Gern würde ich hier einmal hineinschauen, aber Süden, das bedeutet Siesta. Um halb fünf soll es hier weitergehen.
Am Vieux Port
Am Ende des Hafenbeckens hat sich unter der Ombrière von Norman Foster, einem hohen, sich spiegelnden Überdach, eine größere Gruppe von Menschen zusammengefunden. Erst weiß ich nicht, worum es sich handelt könnte, aber als sie anfangen zu skandieren und sich neongelbe Schutzwesten überzuziehen, wird mir klar, dass dies der Treffpunkt der Gelbwesten ist. Ob es an ihrer Präsenz liegt oder doch eher am schlechten Wetter, weshalb in der Fußgängerzone an diesem Samstag Nachmittag weitaus weniger Menschen unterwegs sind als sonst üblich? Wahrscheinlich wird es draußen, in den riesigen Einkaufszentren vor den Toren der Stadt, umso voller sein.
Gut besucht ist auf jeden Fall das Kaffeegeschäft Debout in der Rue Davso. Seit 1932 werden hier verschiedenste Kaffeesorten aus aller Welt geröstet, gemahlen und entweder im Päckchen oder aufgebrüht in der Tasse verkauft. Ich entscheide mich für einen Yirgacheffe aus Äthiopien „en grains“ und für eine gemahlene Mischung namens „Vieux Port“. Während die Verkäuferin abfüllt, versucht hinter unseren Rücken ein Mädchen aus dem Laden zu rennen, „wie eine Diebin!“, regt sich die Verkäuferin auf. Es stellt sich heraus, dass die junge Frau eine Touristin aus Spanien ist, die überall verzweifelt nach einer öffentlichen Toilette gesucht hatte. Da sie kein Französisch spricht, hatte sie sich gar nicht erst getraut, jemanden zu fragen und es lieber so versucht. Die Verkäuferin seufzt, „das passiert ständig“, knöpft dem Mädchen einen Euro für den Klobesuch ab und entlässt mich wieder in die weiterhin nässelnde Straße.
Noailles – der Bauch von Marseille
Richtig viel Betrieb ist auf dem Marché des Capucins im Innenstadtviertel Noailles. Es gibt zwar nicht allzu viele Marktstände, die den dreieckigen Platz umschließen, aber dafür findet man in den Seitenstraßen überall interessante Läden.
Das Angebot reicht dabei von ungeheuer altmodischen Boutiquen mit Gewürzbehältern, Kräutertees und aufgehängten Luffa-Schwämmen über Snackbars bis zu Cafés im Bobo-Style.
Ich habe Appetit nach einem kleinen Häppchen und gehe deshalb ins Marsa, eine orientalische Backstube, die wunderbare kleine Gebäcke anbietet und dazu Minztee reicht, komplett un-boboisiert.
Weinläden in Marseille
Zwei Straßen weiter den Berg hinauf komme ich dann aber in eines der Epizentren der alternativen Ausgehkultur. Am Cours Julien und der Rue des Trois Rois reiht sich ein angesagter Laden an den nächsten. Ich gehe ins „Plus Belle la Vigne“, um Wein zu kaufen. Nicht zu viel allerdings, ein bis zwei Flaschen nur, denn meine Tasche ist nicht allzu groß, und die andere Hand brauche ich ja für den Regenschirm. Ich frage den Besitzer nach einem roten „Vin de Soif“. Der Rote wird dann doch ein Rosé, und zwar ein ganz spezieller. Olivier Cohen vergärt Syrah und Grenache zusammen mit viel Chenin. Das Witzige an dem Wein wäre, so der Caviste, dass man ihn sowohl kalt wie einen Weißwein oder auch gemäßigt temperiert wie einen leichten Rotwein trinken könnte. Je nachdem, würden dann andere Aromen im Vordergrund stehen.
Auf meinem Weg zurück zum Bahnhof mache ich noch einen winzigen Schlenker ins Panier-Viertel. Das war glaube ich der erste Bereich von Marseille, der zumindest teilweise gentrifiziert wurde. Die Rue de la République am Rand des Viertels ist mittlerweile richtig schick. Eigentlich dachte ich, dass ich noch in einen zweiten Weinladen schauen konnte. Les Buvards ist eine legendäre Weinhandlung und Bar, die immer erst nachts schließt. Dafür sind ihre Öffnungszeiten, wie der Inhaber auf einem Zettel korrekt ausdrückt, „approximativ“. An diesem tristen Samstag scheint noch nicht die rechte Zeit zu sein, den Laden aufzusperren.
Auf der Suche nach der vergangenen Zeit
Ich gehe durch die Rue Francis de Pressensé zum Gare St-Charles. Vor zehn Jahren waren wir schon einmal hier. An einem Stand mit CDs und Kassetten trafen wir einen Popsänger algerischer Herkunft, der offenbar in der Nachbarschaft wohnte. Wir machten ein Foto mit ihm, kauften seine CD, lachten mit dem Verkäufer, und ich aß in einem tunesischen Restaurant das beste Brik à l’oeuf meines Lebens.
Heute sieht die Straße seltsam verwaist aus. Das Restaurant von damals ist geschlossen, vielleicht nur für heute, vielleicht auch für immer. Auf der anderen Straßenseite gibt es aber noch eins, ich gehe hinein. An fünf einzelnen Tischen sitzen fünf einzelne Herren, essen etwas, trinken Tee und sinnieren im Allgemeinen vor sich hin. Alle sind um die 80. Die Neonröhre strahlt, der Fernseher läuft, und der Wirt hat kein Brik. Man kann sich aber aus der Theke etwas Vorgekochtes für sehr kleines Geld aussuchen, das er dann aufwärmt.
Erst wundert es mich ein bisschen, dass die seinerzeit pulsierende franko-maghrebinische Szene hier vollkommen ausgestorben ist, reduziert auf ein paar Rentnertreffs. Andererseits kann ich mich natürlich auch fragen, wonach ich eigentlich suche. Die Kinder der Chebs und Chebas der 90er wollen keine exotischen Speisen „ihrer Heimat“ mehr haben. Sie sitzen unten in der Innenstadt im McDonalds, kaufen Parfum bei Sephora und fahren mit dem Auto in das Mega-Einkaufszentrum Marseille Grand Littoral. Oder sie gehen zum Barber Makaze, wo Vintage-Rennräder an den Wänden hängen und trinken Craft Beer oder einen Drink mit Chia-Samen. Das kann man Globalisierung nennen, man kann aber auch einfach allgemein akzeptieren, dass sich Dinge verändern. Vielleicht, denke ich, sollte man deshalb etwas vorsichtig sein, „alten Zeiten“ oder einer wie auch immer gearteten „Ursprünglichkeit“ hinterherzutrauern. Man sagt damit nämlich implizit aus, es wäre vielleicht besser gewesen, hätten die Menschen nicht die Chance bekommen, sich weiterzuentwickeln.
Ein nächstes Mal bei Sonnenschein
Natürlich gibt es ganz viele Orte, die ich heute nicht besucht habe. Es gibt ganz viele Dinge, die bei schönem Wetter angenehmer gewesen wären, vielleicht auch, weil dann einfach alles farbenfroher, südlicher wirkt. Trotzdem sind mir die 22.000 Schritte von Pfütze zu Pfütze überhaupt nicht schwer gefallen. Woran könnte das liegen? Wahrscheinlich hat es auch mit dem Blick aufs Meer zu tun, den ich heute von so vielen Ecken aus hatte. Marseille lebt von diesem Meer, vom Licht, das es ausstrahlt, von der Weite, das es bietet. Seit 2.500 Jahren bewegt sich etwas in dieser Stadt am Meer. Und es steht anzunehmen, dass ein kleiner Regenguss, selbst wenn er wie diesmal geschlagene zwölf Stunden anhält, nicht allzu viel daran ändert.
Im Peron hatte ich eine moderne Form der Bouillabaisse, die war unbeschreiblich gut.
Marseille ist einfach eine tolle Stadt.
Das mit der guten Bouillabaisse muss ich tatsächlich noch nachholen!
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