Was Parker meint…

100 PPRobert M. Parker Jr. gilt wahlweise als Gott oder Antichrist. Jeder, der sich ein bisschen für Wein interessiert, wird bei der Erwähnung des Namens „Parker“ automatisch Position beziehen (könnt Ihr im Freundeskreis ruhig einmal ausprobieren). Die einen weisen darauf hin, dass er uns die massiven, überreifen Roten beschert habe, in denen ein Löffel stehen kann (in diesem Sinne ist auf dem Foto ein 100 PP = Parker-Punkte-Wein abgebildet). Die anderen halten dagegen, er habe uns aber auch gezeigt, wie ein einzelner Mensch mit seinem individuellen Geschmack die Welthoheit der Werturteile im Weinbereich erringen kann – ohne dass sein Name mit Begriffen wie „Bestechlichkeit“ oder „Gunstbepunktung“ in Zusammenhang gebracht werden würde.

Was mich bei dem Phänomen Parker besonders fasziniert, ist die Vehemenz, mit der über ihn und seine Punkte diskutiert wird. Wie das manchmal so ist, habe ich auch bei diesem Thema das Gefühl, dass man sich gelegentlich im Dickicht der Sekundärliteratur verheddert. Also habe ich mich daran erinnert, dass ich ein altes Buch von Parker besitze, in dem er schreibt, was er denkt. Und das ist wirklich interessant.

Damals, in nachgerade historischen Zeiten, besaß ich genau zwei Weinbücher: das Weinlexikon von Horst Dippel, das ich als Mängelexemplar aus Neugier in einer Studentenbuchhandlung gekauft hatte, und den Kleinen Johnson. Parker (auf Deutsch in den 1990er Jahren von Heyne verlegt) „musste“ ich mir dann als nächstes kaufen, weil ich doch wissen wollte, was die am höchsten bewerteten Weine der Welt sind. Zum Glück war das noch die Zeit, in der Parker ohne großes Team unterwegs war. Das bedeutet, dass er zum einen alle beschriebenen Weine tatsächlich selbst probiert haben dürfte. Zum anderen ließ er es sich nicht nehmen, den umfangreichen Länderkapiteln erst einmal 46 Seiten dicht bedruckten Einführungstext voranzustellen, in dem er seine Motivation, sein Vorgehen und seine zentralen Kritikpunkte an der Weinwelt as it were mitzuteilen.

Da liest man dann voller Verblüffung, dass eines seiner wichtigsten Motive, im Jahr 1978 mit „Füllfederhalter und Notizbuch“ ausgestattet mit der Beschreibung und Bewertung von Weinen zu beginnen, die „Philosophie der Unabhängigkeit des Verbraucher-Anwalts Ralph Nader“ gewesen sei. Parker selbst war ja auch Anwalt, und es ging ihm in den „Stiftung Warentest“-losen USA in der Tat zunächst darum, die Verbraucher vor Betrug zu schützen. Dieser Duktus des „alle lügen Euch an (= Winzer, vor allem Händler und die Lobby der tief verstrickten Weinkritiker), aber ich werde Euch die Wahrheit sagen“ nervt dann im weiteren Verlauf ein ganz klein wenig, aber ich denke, wer Parker richtig interpretieren will, darf diesen Ansatz nicht unter den Tisch fallen lassen.

Der wesentlichste Kritikpunkt, der Parker heutzutage entgegengebracht wird, ist sicherlich derjenige, dass er einen einheitlichen Weinstil propagiert habe, der ausschließlich das dicke Schwarzrot in den Fokus stellt. Aber was sagt er eigentlich selbst dazu?

„In Amerika und Australien ist die Weinbereitung stark von der Technologie beherrscht. Während eine Handvoll Winzer noch der handwerklich geprägten Art der Weinherstellung nach europäischer Tradition anhängt, behandeln die meisten ihre Weinberge als Fabrik und die Weinbereitung als einen Fabrikationsprozess. Demzufolge werden Techniken wie übermäßiger Zusatz von Säure, brutale und traumatische Zentrifugierung und verstümmelnde sterile Filtrierung routinemäßig angewandt, um blitzsaubere, simple, schwebstofffreie, brillant polierte, vollkommen stabile, aber harmlose Weine mit Analyseprofilen herzustellen, die sich bestens in streng technische Parameter einfügen. Doch gerade diese Techniken berauben den Wein seiner Geschmacksnuancen, seiner Aromen und Genuss spendenden Eigenschaften. Darüber hinaus offenbaren sie einen tief greifenden Mangel an Respekt für den Weinberg, die Rebsorte, den Jahrgang […].“

„[Über die] zunehmende internationale Nivellierung der Weinstile: Obwohl die Technologie den Weinmachern die Mittel an die Hand gibt, Wein von immer besserer Qualität zu erzeugen, führt das besessene Streben nach technischer Perfektion dazu, dass die Weine ihres eigenen Charakters beraubt werden. […] Jedenfalls ist es tragischerweise immer schwieriger geworden, einen italienischen Chardonnay von einem in Frankreich, Kalifornien oder Australien hergestellten zu unterscheiden. Wenn die vereinigten Weinmacher der Welt alle beginnen, Weine auf dieselbe Art und Weise zu erzeugen und sie so zu gestalten, dass sie damit die geringste Anzahl von Leuten vor den Kopf stoßen, wird der Wein zweifellos seine faszinierende Anziehungskraft und Individualität verlieren und nicht viel besser sein als die meisten Whiskys, Gins oder Wodkas. Man darf nicht vergessen, dass der große Zauber des Weins darin liegt, dass er ein einzigartiges, unvergleichliches, faszinierendes Getränk ist, das sich jedes Mal, wenn man es trinkt, anders darbietet. Weinproduzenten und die Besitzer von Weinkellereien müssen lernen, den individuellen Charakter ihrer Weine zu erhalten, selbst um den Preis, dass sie sich denjenigen Verbrauchern entfremden, die diese Produkte bizarr oder merkwürdig finden mögen. Es ist die besondere Beschaffenheit des Weins, die seine Zukunft sichert.“

„[Zum Thema] Hefen: Wenngleich viele Weinmacher sich auf die natürlichen, im Weinberg vorhandenen wilden Hefen verlassen, um den Gärungsprozess in Gang zu setzen, wird es nun immer üblicher, Hefekulturen zu diesem Zweck einzusetzen. Hierin liegt kein Gesundheitsrisiko, doch da man sich weltweit auf denselben Hefetypus verlässt, führt dies zu Bukett- und Geschmacksnuancen, die einander immer mehr ähneln.“

Aus den Argumenten, die Parker selbst vorbringt, lässt sich ohne große Eigenleistung herausfinden, welche Weine er sich zukünftig in der Welt wünscht:

  • Weine, die aus einem mit Sorgfalt und Respekt behandelten Weinberg stammen.
  • Weine, bei denen Überertrag im Weinberg oder risikoarm frühe Lese kein Thema sind.
  • Weine, die im Keller möglichst wenig behandelt werden, sei es durch Entzug oder Zugabe von Stoffen sowie moderne önologische Verfahren.
  • Weine, die ihre Individualität nicht verstecken, sondern als Markenzeichen präsentieren.

Dabei ist er sich durchaus dessen bewusst, dass ein Weinkritiker – und wenn er noch so viel Erfahrung hat – keine Maschine sein kann: „Niemand wird bestreiten, dass das Verkosten eine subjektive Tätigkeit darstellt. Der Maßstab, an dem ein tüchtiger Weinkritiker gemessen wird, sollte in der rechtzeitigen Vorlage einer klug zusammengestellten Liste bestehen, die Beispiele für die verschiedenen Stilarten der Weinbereitung in verschiedenen Preiskategorien nennt. Dass der Kritiker in verständlicher Sprache ausdrückt, aus welchen Gründen er die betreffenden Weine reizvoll oder tadelnswert findet, ist selbstverständlich […] wichtig. […] Gibt er […] einem Wein eine schlechte Beurteilung, so sollte er seine Argumente dafür offen mitteilen. Mir zum Beispiel wird es nie gelingen, meine Abneigung gegen vegetabil schmeckende Cabernets aus der Neuen Welt, deutlich krautige rote Weine aus dem Tal der Loire oder übermäßig mit Säure angereicherte Weißweine aus der Neuen Welt zu überwinden.“

Parkers subjektive Vorstellung, was für ihn ein vollständig gelungener Wein ist, macht er dann mit seinen 100 Punkten für den Châteauneuf-du-Pape „Hommage à Jacques Perrin“ von Beaucastel deutlich. Oftmals habe ich gelesen, dass Parker Bewertungen „mit einer kalifornischen Zunge“ vornehmen würde, die ihm (das steckt implizit in dieser Behauptung) den Zugang zu klassischen europäischen Weinen verwehrt. Das würde ich so nicht sehen.

Parkers emotional bevorzugter Wein ist für mich eindeutig der Typ Châteauneuf, ein durchaus europäisches Gewächs. Das hat ihn für mich und vielleicht auch für die damalige Weinwelt angenehm berechenbar gemacht. Obwohl ich gern zugebe, dass mir auch ein Châteauneuf gefallen kann (den 1990er Beaucastel fand ich beispielsweise sehr beeindruckend), bin ich ansonsten eher ein Freund „nördlicherer“ Stile: also mit Frische, Eleganz und weniger Alkohol. Dennoch empfand ich Parker seinerzeit immer als guten Ratgeber, weil er eben nicht nur Punkte verteilte, sondern den Wein umfassend beschrieb. Ich wusste also einigermaßen, ob mir der Wein gefallen könnte oder nicht. Unabhängig vom Geschmack würde ich die meisten seiner oben zitierten Punkte auch heute noch unterschreiben. Wer also ein pauschales Parker-Bashing betreibt, dürfte den Meister schlichtweg nicht gelesen haben.

BuchregalWeshalb für mich die ganze Parker-Sache gekippt ist, hat interessanterweise überhaupt nichts mit Parker als Weinverkoster zu tun. Oder jedenfalls relativ wenig. Vielmehr waren es Entwicklungen, die durch Parkers Erfolg ausgelöst wurden.

Ein Grundproblem habe ich schon mit der Annahme, dass ein Wein (ebenso ein Gemälde, ein Musikstück oder auch eine Naturschönheit) nach objektiven Kriterien bewertbar sein könnte. Dass man also einem komplexen Gebilde glaubt gerecht zu werden, indem man es mit einem einzigen (Zahlen-)Wert belegt. Und zwar ausnahmslos, denn es gibt in den entsprechenden Weinpublikationen keinen einzigen Wein ohne Punktzahl. Wer so etwas „gerecht“ findet, glaubt auch an die Wahrheit.

Das zweite Problem entstand durch die für mich weiterhin komplett verblüffende weltweite Marktmacht, die sich Parker erwerben konnte. In Verbindung mit Punkt 1 (der Wahrheit der Punkte) und seinem bevorzugten Weintyp ergab sich dadurch eine folgenschwere Konstellation: Weinberater wie Michel Rolland hatten verstanden, welchen Wein Parker am liebsten mag. Ergo wurden nach dieser Façon auch in ganz anderen Anbaugebieten Südrhône-Typen kreiert, und zwar groteskerweise teils mit Hilfe önologischer Verfahren, die der frühe Parker rundweg abgelehnt hätte. Parker hat hingegen keine Zeit mehr für Kleinigkeiten, ihm gefällt demnach ein solcher Wein geschmacklich, er gibt 100 Punkte. Die Welt glaubt an die Wahrheit dieser Punktzahl, die Preise schießen in den Himmel. Andere Winzer und Önologen anderer Weinbaugebiete wollen das auch erreichen, und schon haben wir überall dieselbe (meinetwegen sogar hochwertige) Pampe, die Parker doch mit seinem individualistischen Ansatz einst verhindern wollte.

Mein persönliches Fazit: Ich fand Parker früher sehr hilfreich und gut (okay, „edel“ vielleicht nicht…). Er hatte ein klares Leitbild, machte Selbiges transparent, und unabhängig schienen seine Urteile auch zu sein. Sein Geschmack deckte sich zwar nicht mit meinem, aber Information und Orientierung kann man ja auch von Leuten erhalten, die nicht auf derselben Wellenlänge sind.

Mittlerweile sind Parker-Punkte für das spekulative Spitzensegment wie für den Massenmarkt nur noch ein reines PR-Instrument. Für den Wein-Mittelbau und die Individualisten wie mich haben sie deswegen kaum noch Bedeutung. Zum einen werden die wirklich interessanten Sachen kaum getestet, zum anderen sind die reinen Punkte für mich mittlerweile weniger relevant als die Diskussion mit einem Weinfreund. Und schließlich muss ich zugeben, dass mich das Parker-Team irritiert. Alles großartige Weinkenner, kein Zweifel, aber die stringente Linie, die ich früher bei Parker himself geschätzt habe, ist einfach nicht mehr gegeben. Da hat beispielsweise der Guide der RVF („Les Meilleurs Vins de France“) ein viel schärferes Profil, obwohl es sich auch um ein Autorenteam handelt.

Wie steht Ihr zu Parker? Und wie geht Ihr mit seinen Punkten um?

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6 Antworten zu Was Parker meint…

  1. Sehr guter Beitrag, vielen Dank!

    Für mich ist und bleibt die größte Absurdität in Sachen Parker-Punkte die Tatsache, dass genau diejenigen, gegen die Parker ursprünglich implizit ins Feld gezogen war, sich jetzt bereitwillig von ihm mit Expertisen beliefern lassen: Händler und Winzer. Man möchte meinen, dass man einem selbsternannten Aufräumer der Branche skeptischer gegenüberstünde.

    • Matze sagt:

      Ja, das finde ich auch sehr interessant.

      Vielleicht ist der Lockruf des Geldes letztlich für keine Seele gut. Vielleicht aber hat Parker auch einfach übersehen, dass er nie dauerhaft außerhalb einer Szene stehen kann, aus deren Mitte er berichten möchte. Und letztlich möchte man wahrscheinlich eher geliebt als gehasst werden, zumindest wenn man kein totaler Misanthrop ist. Es wäre mal interessant zu erfahren, wie Parker selbst darüber denkt. Ob (und wenn ja, wo) er aus seinem jetzigen Erfahrungsstand eine Weiche anders gestellt hätte.

  2. Charlie sagt:

    Seine Punkte, aber auch Beschreibungen sind für mich wie Oscars und Kammerpreise: sie sagen mir wenig.

    • Matze sagt:

      Schöne Vergleiche ;). Vor die Wahl gestellt, würde ich wahrscheinlich den Kammerpreisen die geringste Relevanz für mich zumessen, aber die Oscars haben mich ehrlich gesagt auch noch nie interessiert. Wo wir schon bei Weinprämierungen sind: Die Medaillen von Decanter und Mundus Vini finde ich persönlich auch in erschreckendem Maße unzuverlässig. Drei Minuten mit einem Weinhändler meines Vertrauens (der mich übrigens vorher nicht kennen muss, ansonsten genügt eine Minute ;)), und ich habe ein weitaus spannenderes Exemplar in der Hand.

  3. Jens sagt:

    Irgendwie passt das Polizeifachhandbuch nicht in Dein Bücheregal…….Ich hoffe Du bist aktuell und hast immer fleißig die Nachträge einsortiert….. 😉

    • Matze sagt:

      Band 4 müsste eigentlich ganz gut passen, da sind doch auch Gewerbe- und Lebensmittelrecht drin ;). Aber ob Du’s glaubst oder nicht, in dem Ordner befinden sich leider nicht die fleißig einsortierten Nachträge, sondern Klarsichthüllen mit abgelösten Weinetiketten. Beim Sortieren der Nachträge habe ich irgendwie nicht so das Talent, die Seiten sind zu dünn für meine dicken Finger ;).

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