Ich befinde mich vor einem Weinstand auf der BioFach, einem Stand mit offenbar hochwertigeren Weinen (es war nicht der Stand auf den Fotos hier, das nur zur Erklärung). Der Standbetreiber schaut rechts an mir vorbei. Dann wendet er den Kopf und schaut links an mir vorbei. Dann wieder rechts. Wie denn die Geschäfte laufen, frage ich ihn, um wenigstens ein wenig Aufmerksamkeit zu erhaschen. Da blickt er mich direkt an: “Gerade war ein Elektrogroßhändler hier, der wollte einen halbtrockenen Müller-Thurgau. Ich wusste nicht, was ich ihm geben sollte. Davor kam ein Supermarkt-Einkäufer. Der war auf der Suche nach einem fruchtigen Roten aus der Mancha, EK unter 3 €. Ich habe hier Große Gewächse. Da ist er wieder gegangen.”
So unglücklich, wie sich der Standbetreiber auch vorkommen mag, der Grund dafür ist schnell gefunden: Nicht die von ihm beschriebenen Klienten stellen die Ausnahme auf der BioFach dar, sondern es ist sein Standangebot. Wein gibt es in rauen Mengen in fast allen Hallen. Individuelle oder höherpreisige Tropfen sind jedoch kaum darunter. Hier geht es darum, möglichst wenig Geld für einen relativ austauschbaren, aber immerhin ökologisch sauber hergestellten Wein zu bezahlen. In aller Regel bedeutet “sauber” dabei mit Reinzuchthefen vergoren, filtriert und kantenberaubt. Die aromatisch spannendsten Entdeckungen habe ich deshalb interessanterweise bei den so genannten “PiWis” gemacht, den Weinen, die aus pilzwiderstandsfähigen Rebsorten bereitet wurden. Das ist im Prinzip gut für den Winzer, weil er damit keine Fungizide spritzen muss (was er ansonsten tun würde).
Wenn ich von “aromatisch spannend” spreche, meine ich das allerdings wortwörtlich. Ein ewiges Rätsel wird mir bleiben, wieso die Rebsorte Regent derartige Erfolge feiert. Ich habe vier Regents auf der BioFach probiert, und alle schwankten um die Untrinkbarkeitsschwelle herum. Wenn ich Pflaumensaft trinken will, dann kaufe ich Pflaumensaft. Anders die vielen roten Cabernet-geleiteten Neuzüchtungen, die oft mit einer so starken Paprikanote vorschmeckten, wie man das in Bordeaux seit der Etablierung höherer Reifegrade (und neuer Vinifikationstechniken) gar nicht mehr finden kann. Manchmal nervt das vorstechende Aroma, manchmal ist es aber auch reizvoll. Insgesamt verdichtete sich bei mir das Gefühl, dass die PiWi-Szene noch viel Luft nach oben hat. Hier meine Favoriten aus der Flaschenbatterie:
- Cabernet Cortis 2011 rosé von Andreas Dilger aus Baden: Nase wenig vielversprechend kräuter-süßlich, am Gaumen dann sehr knackig mit frischer Säure. Hier passt die Paprika, ein Abendbrot-Wein.
- Muscaris 2011 weiß vom Weingut Hirschmugl aus der Steiermark: ein schwerer (14,5 vol%), traubiger, muskatig-orientalischer Saft, leicht fruchtsüß. Der Cocktail-Ersatz zum mediterranen Sonnenuntergang.
- Pinotin 2011 rot vom Weingut Rummel aus der Pfalz: in der Nase eine Mischung aus Pinot und Cabernet, Himbeer-Kräuter, am Gaumen erst ein wenig medizinal, wird dann aber angenehmer; zum Schweinesteak.
PAPAFPA – Tropisches aus dem Golf von Guinea
And now for something completely different. “PAPAFPA”, das ist natürlich eine Abkürzung, und zwar für eine Gesellschaft von der Insel São Tomé, die lokalen Produzenten bei Herstellung, Marketing und Vertrieb traditioneller landwirtschaftlicher Produkte hilft. Ich bin ganz zufällig am Stand vorbeigekommen, der sich in der letzten Ecke der letzten Halle befindet. “Wir sind auch das erste Mal dabei”, sagen Sébastien und Luis Mario, “und müssen uns erst einmal orientieren”. Das bekannteste Produkt von São Tomé ist Kakao, ein Überbleibsel aus der Kolonialzeit-Monokultur und damit Fluch und Segen zugleich. Fällt der Weltmarktpreis für Kakao, hängt gleich der ganze Export in den Seilen. Andererseits gibt es auch einen Meister wie Claudio Corallo auf der Insel, der aus der Kakaobohne die hochwertigsten Schokoladen produziert, die man sich denken kann. PAPAFPA stellt sich deshalb etwas breiter auf und bietet bei der BioFach Kaffee an, scharfe Saucen und Dips – und Gewürze.
Ich erzähle den beiden, dass es bei mir auf dem Blog gern um etwas Besonderes geht, etwas Einmaliges, das eben nicht so einfach globalisierbar ist, sondern eingebunden in den Herkunftskontext. In dem Moment springt Sébastian auf einmal auf, “moment, ich glaube, da haben wir etwas!”, und wühlt in der kleinen Kabine in einigen Tüten. Heraus zieht er einen leicht schlapp gewordenen Zweig mit kleinen, ungeheuer aromatisch duftenden Blättern. “Was ist das?”, frage ich. “Mosquito!”, ruft Luis Mario, “leider etwas mitgenommen vom Transport. Wenn es frisch wäre, könnte man es durch die ganze Halle riechen!” Ich erfahre, dass es sich um eine Pflanze aus der weitläufigen Basilikum-Familie handelt, die man für Suppen und Saucen verwendet, wichtig vor allem für Calulu, ein Gericht mit geräuchertem Hühnerfleisch oder Fisch. “Es gibt so viele Pflanzen sozusagen im Urzustand auf São Tomé und Príncipe, das ist wie ein gigantischer botanischer Garten. Was es da noch alles zu entdecken gibt, kann man sich kaum vorstellen, das muss man selbst gesehen haben!” Das glaube ich aufs Wort. Nächstes Jahr im Februar nach São Tomé? Warum nicht.
Biolinija – serbischer Sauerkohl mit polnischer Empfehlung
Nur zwei Stände weiter von den Saotomeanern (so nennt man die Bewohner auf Deutsch offenbar tatsächlich; ich dachte, das wäre ein Witz…) finde ich mich in einer komplett anderen Gefühlswelt wieder. Produkte aus Serbien werden hier angepriesen – und zwar von einer polnischen Firma. Die Geschichte ist dabei ganz interessant, denn Biolinija produziert selbst gar keine Lebensmittel. Eigentlich sind sie im Bereich Gewässerschutz und Bio-Agrartechnik tätig, ihre Kunden befinden sich auf dem Balkan und stellen dort alle möglichen landwirtschaftlichen Produkte her. Als sie diese Kunden dazu ermunterten, ihre Produkte doch auch zertifizieren zu lassen, um damit auf dem internationalen Biomarkt präsent zu sein, hat sich die Sache ein wenig verselbständigt. Mittlerweile ist Biolinija eine Art Distributeur geworden, der die bunte Mischung vor allem serbischer und mazedonischer Produkte international vertreibt.
Ein Produkt hat es mir dabei besonders angetan. Es handelt sich um eine Art Sauerkohl. Erst sehe ich davon nur die kleinen Spießchen auf einem Tablett, die ich gleich probiere. Der Geschmack ähnelt einem gewöhnlichen Sauerkraut, aber die Textur ist anders, viel fester, elastischer, zusammenhängender. Als mir dann der Kohl selbst vorgeführt wird, weiß ich auch warum. Der Weißkohlkopf wurde nämlich im Ganzen eingelegt, weshalb sich eine Konsistenz zwischen frischer und eingelegter Ware erhalten hat. Mir wird erklärt, dass diese eingelegten Kohlblätter besonders gern für Sarma verwendet werden, eine Art osmanische Kohlroulade. Die Kohlblätter umschließen dabei eine gewürzte Hackfleischmischung, das Ganze wird mehrere Stunden lang gedünstet und später mit angeröstetem Mehl bestäubt. Traditionell wird Sarma beispielsweise am Fest des Familienheiligen gereicht, sozusagen in der ganz großen Runde. Interessanterweise vertreibt Biolinija den Sauerkohl nach Neuseeland, Kanada und sogar nach Indonesien, wo es offenbar auch Sarma-Fans gibt. Westeuropa hingegen ist derzeit noch ein weißer Fleck auf der Komplett-Sauerkohl-Karte.
Neu in der Freiluftsaison – die Bio-Dinkel-Weiße von Unertl
Herzhaftes Essen ist doch eigentlich ein guter Übergang für die Beschäftigung mit einem bierigen Produkt. So richtig viel war ich ehrlich gesagt nicht in den drei inländischen BioFach-Hallen unterwegs. Zu sehr fühlte ich mich bei den Sonnentor-Zwergenwiese-Dennree-Ständen an den Einkaufsalltag der freudloseren Art erinnert (was allerdings nicht gegen die Produktqualität spricht). Also machte ich mit Bierautor Harald Station bei Weißbräu Unertl, einer Brauinstitution aus Mühldorf am Inn. Biergartenträume. Sommer. Blätter an den Bäumen. Okay, demnächst geht es ja los mit dem Frühling. Unertl also ist eine von zwei gleichnamigen Brauereien des Landkreises Mühldorf in Oberbayern, nicht weit weg von Oiding-Nöiding, wie mir eine junge Dame bei einem Musikfestival (schon länger her…) auf meine Frage antwortete, woher sie denn käme; aus Altötting-Neuötting nämlich. Auch meine Oma ist seinerzeit mal mit dem Zug ins falsche Dorf gefahren, nämlich nach Häosen statt nach Håosen (Herrhausen statt Hahausen), weil sie die Namen verwechselt hatte. Zwei Unertls also, bei denen eine Verwechslung zwar ebenfalls peinlich ist, aber nicht gar so schlimme Auswirkungen hat, denn brauen können sie beide.
Allerdings gibt es ein Bio-Bier nur aus Mühldorf. Da nicht alle der traditionellen Getreidelieferanten der Brauerei Spaß an der ökologischen Landwirtschaft haben, haben sie allerdings nur dieses eine Bioland-Bier, die Dinkel-Weiße. Dinkel ist, seinem – pardon – “Körnerfresser”-Image zum Trotz, nicht nur eine alte, sondern auch sehr vielseitige Getreidesorte. Klimatisch widerstandsfähiger als Weizen und auch gegen Krankheiten resistenter, kann Dinkel bis hinauf nach Finnland angebaut werden. Was das Bier anbelangt, existieren zwar ein paar untergärige Dinkelbiere in Deutschland, soweit ich weiß jedoch nur eine einzige obergärige Weiße. In Belgien gibt es mit dem Saison d’Epeautre von Blaugies übrigens auch ein ausgezeichnetes obergäriges Dinkelbier, eines meiner Favoriten, aber das nur nebenbei. Die Unertl-Bio-Dinkel-Weiße wirkt sofort sehr cremig und ähnelt den Weizenbieren nur bedingt. Es gibt nämlich weder den frisch-zitronigen noch den üppig-bananigen Ton der beiden unterschiedlichen Weizen-Typen, sondern eine komplette Mahlzeit: Noten von kandierter Orangenschale, Ingwer und Getreide, in der Mitte schön flüssig ohne Kanten und hinten minimal bitter. Kein Durstlöscher, eher ein Genießerbier.
Treur Kaas – Käse von der Leitkuh
Die Niederländer haben bereits ziemlich früh mit der Industrialisierung ihrer Landwirtschaft begonnen, zunächst einmal, um ihre eigene städtische Bevölkerung in den 1960er Jahren angemessen versorgen zu können. Ähnlich wie bei unseren “Hühnerbaron-Regionen” wie dem Oldenburger Land müssen seriöse und artisanale Produzenten deshalb immer ein bisschen gegen dieses Herkunftsimage ankämpfen. Ein Almbauer aus der Steiermark hat es in dieser Hinsicht irgendwie leichter, auch wenn hinter der Stalltür Industriefutter und Hormonspritzen das Sagen haben können. Dagegen hilft eigentlich nur mein altes Leitmotiv: “Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser.” Miteigentümer Daan steht selbst am Stand von Treur Kaas auf der BioFach. “Wir sind ein Familienbetrieb aus der Nähe von Utrecht”, erklärt er, “und nicht weit von Gouda. Wir machen Käse aus Kuhmilch und aus Ziegenmilch, alles Schnittkäse – jungen, mittelalten, mit Kräutern und auch solchen, den wir im Keller 16 Monate reifen lassen.”
Leider hat Herr Treur seine ganz alten Schätzchen nicht dabei, aber das ist so ähnlich wie bei den individuellen Weinen: eher nicht für Bio-Supermarkteinkäufer gedacht. Ich muss deshalb mit einer Käseart vorlieb nehmen, die ich von selbst nie ausgewählt hätte: einen aromatisierten Schnittkäse. In der Hierarchie caseiner Verfehlungen befindet sich halbweicher Käse mit Ananas oder Paprikastückchen nämlich ganz oben für mich. Aber ehrlich gesagt ist es hier halb so schlimm. Der “Cato” mit Basilikum und Knoblauch schmeckt nämlich sogar richtig gut. Und zweitens geht es auch um die Geschichte dabei. Cato ist nämlich der Name der Leitkuh dieser Herde von Jersey-Rindern. Cato ist leider vor kurzem verstorben, hat aber auch im Alter von 19 Jahren noch täglich Milch für diesen Käse gegeben und vor allem die Kuhherde durch Dick und Dünn geführt. Natürlich war Cato eine Kuh mit Hörnern, und es ist wirklich verblüffend, dass die Wissenschaft erst nach und nach dahinter kommt, welch wichtige Rolle die Kuhhörner bei Verdauung und Stoffwechsel der Tiere spielen. Wahrscheinlich wird man in einigen Jahrzehnten komplett entsetzt darüber sein, wie die Menschen denn auf die Idee kommen konnten, Kühen die Hörner entweder wegzuzüchten oder gar abzusägen.
Marinoë – Algenprodukte aus der Bretagne
Mein kulinarisches Highlight der diesjährigen BioFach habe ich mir ganz für den Schluss aufgehoben. Es handelt sich um den Stand von Marie-Dominique, an dem ich eigentlich erst auf dem Weg zum Ausgang vorbeigekommen war. Da ich ja selbst fast einen Monat lang in Cancale (also ganz “vorn” in der Bretagne) zugebracht und dabei versucht hatte, mir mein Essen aus dem Meer zu holen, war ich natürlich von der Idee von Marinoë sehr angetan. Marie-Dominique und Patrick Plan leben nämlich in Lesconil, was sich in der Nähe von Quimper direkt am Atlantik befindet. Die Küste ist mit ihrem relativ kalten Wasser, dem Nährstoffreichtum, der abwechslungsreichen Felsigkeit und dem beachtlichen Tidenhub wirklich ideal für die Algenwelt. Vor zwölf Jahren fingen die beiden an, Algen aus dem Meer zu ernten und danach aus diesen mehr oder weniger knackigen Meeresbewohnern fantastische Snacks und Aufstriche herzustellen.
Algen sind übrigens keine wirklichen Pflanzen, obwohl sie Photosynthese betreiben, sondern eher eine ganz eigene Gruppe von Lebewesen. Bei Marinoë werden neun verschiedene Algenarten verwendet, und zwar Braun-, Grün-, Rot- und sogar Blaualgen. Nur die Sorte “Wakamé” wird in der Bretagne tatsächlich im Meer “angebaut”, die anderen Sorten stammen aus Wildpflückung. Dabei stehen je nach Jahreszeit ganz unterschiedliche Sorten im Fokus; der leicht schlabbrige Meerspinat beispielsweise im Frühjahr und Sommer, die Meerbohne und die Kombusorten im Sommer, die Wakamé hingegen im Spätwinter. Marie-Dominique stellt als einfachste Variante drei Tartares aus Algen her, die nach ihrer Würzung “Pacifique”, “Arctique” und “Atlantique” heißen. Richtig umgehauen haben mich allerdings die ready-to-eat-Zubereitungen. Die “Mojo Verde” fand ich mit Sardinen, Kreuzkümmel und Koriander fantastisch frisch, und der “Salade Esprit d’Asie” mit den dünnen Reisnudeln, den Sesamkörnern und natürlich den vier Algensorten hätte auch in einem Feinkostgeschäft in Japan nicht besser sein können. Hier habe ich endlich das, wovon ich bei der BioFach immer geträumt hatte: eine exzellente artisanale Herstellung, zertifiziert Bio, und das alles von Menschen mit Sinn für Geschmack. Wie froh wäre ich, könnte ich Marinoë in Kürze in einem deutschen Laden entdecken…
Und zum Schluss: das Bloggertreffen
Ganz zum Abschluss wollte ich Euch noch kurz auf das Bloggertreffen hinweisen. So sehr viele echte “freie Blogger” habe ich dort nicht getroffen. Aber vielleicht ist das Treffen in Bloggerkreisen auch noch nicht bekannt genug, denn eigentlich böte gerade die BioFach mit ihrem thematischen Angebot rund um Nachhaltigkeit, Bio-Zertifizierungen und globale Supermarkttrends genügend Stoff für einen interessanten Austausch. Jenen hatte ich auf jeden Fall mit den Naturkosmetik-Bloggerinnen Julie von Beautyjagd und Sun von den Alabastermädchen, auch wenn es bei beiden um ganz andere Produkte geht als bei mir. Lustigerweise ist ausgerechnet die Organisatorin des Bloggertreffens, nämlich Manja von der Messe Nürnberg, privat in einem sehr schönen Projekt engagiert. Der Stadtgarten Nürnberg sieht zwar irgendwie noch nach ganz schön viel Beton aus, aber so ist Urban Gardening halt. Da fängt man offenbar erst einmal mit sehr wenig Erde an.
Mir hat die BioFach jedenfalls Spaß gemacht, und das nicht nur, weil ich die ganzen interessanten Produkte und die dahinter stehenden Menschen kennenlernen konnte, die ich Euch in meinen beiden Artikeln vorgestellt habe. Es ist mir auch klar geworden, dass Bio nicht eine Modererscheinung ist, die in zwei Jahren wieder vergessen sein wird. Nein, Bio ist ein praktisch unumkehrbarer Trend, bei dem es ganz prinzipiell um etwas mehr Achtung vor der Natur geht. Eine solche Umorientierung haben wir nach den Jahrzehnten der Hemmungslosigkeit und Wurschtigkeit bitter nötig.
Allerdings kann man mittlerweile mit Bio als Marke derartig viel Geld verdienen, dass die Gefahr der Reduzierung der Bio-Idee auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zunehmend real wird. Einerseits begrüße ich Bio ganz prinzipiell, denn die Herstellungsnormen sind je nach Verband doch deutlich strenger als jene im konventionellen Bereich. Andererseits gibt es auch im Bio-Lebensmittelmarkt in Deutschland offenbar nur ein einzig wahres Wettbewerbskriterium, und das ist der Preis (wer diesen Clip gesehen hat, weiß, was ich meine). So etwas zu akzeptieren, fällt mir sehr schwer.
Als städtischer Verbraucher mit einem hohen Bewusstsein für die Idee, aber zu wenig Zeit, um auf dem Land selbst Exklusivverträge mit Kleinproduzenten auszuhandeln, würde ich mir wünschen, dass sich ein ganz gewöhnlicher Bio-Supermarkt mal aufmachen würde, mir a) ökologisch, b) in Kleinserie und c) geschmacksorientiert hergestellte Lebensmittel ins Regal zu legen. Ein zu großer Wunsch?
Huiuiui, dieses Label vom Muscaris ist, ähem, “funky”…? Naja, Geschmacksache. Diese Algensachen aber sehen in der Tat lecker aus!
…und die Muscaris-Flasche ist oben eckig. Ich persönlich würde sagen, sie haben da bei allem übertrieben, Form, Gestaltung, Inhalt – aber naja, manchmal ist pig ja auch peautiful ;).
Hallo Matze,
Wieder mal zu spät von mir entdeckt aber doch mal wieder eingreifend.
Du hast ja im anderen Teil den Kommentator nach seinen Erfahrungen gefragt, was sich denn in den letzten Jahren geändert hat. Und in diesem Teil sprichst Du von vor und vorvorletzten Absatz von deinen Eindrücken über “BIO”. Nur der Eindruck, den Du da gemacht hast, zeigt nicht wirklich was Bio ist. Das ist als wenn die Prowein ein Spiegel für die komplette Weinlandschaft wäre. Diese Großmessen (besonders wenn es die weltgrößten sind) zeigen eine Art Paralleluniversum. Soll heißen : es ist hartes Geschäft und stellt eine Realität dar, aber im selben Bereich gibt es auch immer noch eine subversive Gegenwelt.
Wir hatten ja schonmal wegen des Themas Gaillacweine einige Blog-Ping-Pongs und ich hatte dich ja nach Köln zu Hermann oder zu mir nach Gaillac eingeladen, um mal zu sehen worum es in echt geht. In Gaillac ging es dann nicht nur um Weine sondern eben auch um Bio. Zu erklären was Bio ist oder war oder werden wird geht hier im Blog echt schlecht und würde alles verkürzen. Aber hier gibts jedes Jahr zu Pfingsten sowohl eine der ältesten Biomessen in Frankreich, als auch “Piquenique au Domaine” mit einigen Vin naturel Winzern die alles andere als die von Dir von der Messe beschriebenen Weine herstellen. Und ich könnte Dir aus 35-jähriger Bio-Erfahrung mit 18 Jahren Kölner Bioladen sowie einiger Biofachbesuche einen kleinen Abriss der heutigen Mär von Bio geben und zeigen wo es heute steht und wo es hingehen wird. Es kommt immer eine 6-12köpfige Truppe aus Köln zu der Gelegenheit hier runter die auch von Ihren Erfahrungen berichten könnten. Das Angebot steht.
liebe Grüße
Karl
Ja Karl, ich weiß nicht so recht, was ich Dir antworten soll. Ich meine, Du weißt schon, dass Du mich nicht von der “echten” Bio-Idee überzeugen musst, oder ;)? Strenge Biodynamiker und Non-Interventionisten (nennen wir sie mal so) mit Klugheit, Bewusstsein und Herz sind ohne jeden Zweifel meine favorisierten Winzer. Falls Du in letzter Zeit in Deutschland warst, wirst Du festgestellt haben, dass es diese Leute im Weinbau hier praktisch nicht gibt. Hängt mit vielen Faktoren zusammen, das werde ich jetzt nicht auswälzen. Und die allgemeine Tendenz, die überwältigende Tendenz im ökonomisch lohnenden Bereich geht derzeit in Richtung “Bio ja – aber nicht so streng”. Das zeigt sich in der EU-Biorichtlinie, das zeigt sich im boomenden Bio-Supermarktgeschäft, das zeigt sich bei allen Marktforschungen. Wir, die Freunde des engagierten, mit voller Kraft und Überzeugung praktizierten naturliebenden Risiko-Weinbaus, sind zwar eine qualitativ und innovativ wichtige Bewegung – aber wir besetzen definitiv eine Nische. Schau Dir an, wie viele Flaschen Deine Gaillac-Winzer verkaufen und schau Dir dagegen die Lidl-Bio-Umsätze an.
Genau vor diesem Hintergrund bleibe ich dabei zu sagen: Ja, die Bio-Idee geht tendenziell immer in die gute Richtung, auch wenn es im Massenbereich Konsens-Bio ist. Darüber hinaus, und nicht etwa als echter Kontrapunkt oder Gegenbewegung, sondern als Speerspitze sehe ich die Winzer, die wir beide so lieben. Respektive ihre Produkte ;).
Völlig Recht gebe ich Dir bei der Aussage, dass weder die Prowein noch die BioFach die gesamte Bandbreite dessen darstellen, was Wein oder was Bio bedeutet. Dafür sind die Stände einfach zu teuer, und die Nischenwinzer hätten das Gefühl, dass sie nicht schwerpunktmäßig unter ihresgleichen wären. Das ist bei der “Dive Bouteille” oder bei Euch in Gaillac ganz anders.
Was mich aber wirklich interessieren würde, denn dieses Thema beschäftigt mich ja auch: Was glaubst Du, in welche Richtung (oder Richtungen) sich die Biobewegung mit welchen Zielgruppen hinbewegen wird? Global und in unseren beiden Ländern. Ich glaube, dass in einigen Jahren ca. 70% der jungen Leute Bioprodukte kaufen werden. Es gibt bei den ganzen Skandalen und der immanenten Philosophie der Ausbeutung (von Mensch, Tier und Natur) keine Alternative. Und das allgemeine Unbehagen über Zustände und sichtliche Verlogenheit innerhalb der Gesellschaft nimmt zu. Die hochwertigen und/oder individuelleren Sachen werden allerdings 1. eher von älteren Kunden und 2. von Leuten gekauft, die von der artisanalen Idee kommen und nicht vom Labelling. Und da haben die Franzosen gegenüber den Deutschen einen traditionellen Vorteil.
Hallo Matze,
Die ersten drei Absätze denke ich sind wir auf einer Länge und es wäre im persönlichen Gespräch schnell klar wo jeder die Schwerpunkte setzt.
Letzter Abschnitt :
als ich 98 “ausgestiegen” bin und den Laden verkauft habe um hier runter zu gehen gabs in Köln ja immer noch die Viertelläden und wir hatten monatiliche Zusammenkünfte um die Lage zu diskutieren. Von 95 – 98 gings natürlich und hauptsächlich darum, abzuschätzen was die EU-Übernahme von Bio bedeuten würde. Und die Erfahrungen die ich dabei gemacht habe veranlasten mich in Köln aufzugeben. Selbst unter den alten Hasen, die es damals noch gab, wagte sich fast keiner an das zu denken, was ich als ewiger Pessimist unkte. Mit EU-Bio werden die erste dicken Skandale kommen, in 20 Jahre wird die EU verkünden :”Dank der guten Agrarpolitik ist jetzt die gesamte Landwirtschaft auf Bio umgestellt. Alle Hersteller erfüllen die Richtlinien und keiner überschreitet die Grenzwerte.” Hurra! Das bis zu dem Zeitpunkt alle Grenzwerte höher gesetzt werden oder gar erst eingeführt werden (Siehe 1% Regelung wegen gentechnischer Verseuchung) ist da ja auch kein Wunder. Eine große Rolle spielen da auch die privaten Kontrollfirmen, die mit Sonderkonditionsangeboten für die Kontrollen oder avisierter Augenzwickerei versuchen, sich Kunden an Land zu ziehen. Die Skandale die wir in der letzten Zeit hatten sind nicht durch Demeter oder Bioland oder Nature et progres verursacht worden. Und wenn man sich mittlerweile die Halbwertszeit des Empörens ansieht (siehe vor weinigen Wochen die Zucht und Haltebedingungen mit Mißachtung jeglicher Richtlinie(und wie kann das übersehen werden bei Kontrollen? doch nur deshalb weil die EU-Kontrollen sich meist nur im Büro mit den Büchern befassen)) dann sieht man, welche Resistenz sich da schon entwickelt hat. Schlechte Nachrichten will keiner hören, besonders nicht Kunden, die sich sowieso ein ziemlich wackeliges Beruhigungs-Wohlfühlgebilde aufgebaut haben.
Nun gut – noch ist die gesamte EU nicht Bio, aber vielleicht würde dann ja auch der Grund höherer realisierter Preise wegfallen.
Eine Sache ist allerdings wichtig. Das starre Verweigern, die Schuldigen und Verursacher von Skandalen beim Namen zu nennen. So trifft es immer in die Kerbe, “siehste – Bio ist auch nicht besser”.
Auf jeden Fall hättest Du hier auf der Messe Spass ohne Ende weil sie die Gelegenheit zu einer Zeitreise in die Vergangenheit -oder eventuell eine Zukunft- zu machen gibt. Und da gehts nicht nur um Wein. Du bist ja auch anderen kulinarischen Genüssen über nicht verschlossen.
Vielleicht klappst ja mal woanders. Eventuell im Juni bei Drunkenmonday zur Probe.
So jetzt gibt lecker Essen und lecker Wein.
In dem Sinne chiao
Karl
Doppel-Ja ;). Vielleicht ist es tatsächlich so, dass sich das “Bio der zwei Arten” künftig wieder spalten wird, also noch stärker als jetzt. Zu dem, was Du schreibst, passt die kleine Geschichte, die ich vor kurzem erlebt habe.
Ich hatte mich mit einem französischen Winzer unterhalten, der bislang schon ganz streng bio gearbeitet hat, aber eben nicht zertifiziert. Sein Importeur für Deutschland hat ihn dann gebeten, eine Zertifizierung vornehmen zu lassen, weil sich der Wein dann auf dem deutschen Markt besser verkaufen ließe. Gesagt, getan. Welches Zertifikat es jetzt sein sollte und welche private Zertifizier-Firma, weiß ich gar nicht mehr. Jedenfalls meinte der Winzer, dass dann die Kontrolleure gekommen seien, “die wollten aber gar nicht raus in den Weinberg und bei mir im Keller waren sie auch nicht. Die haben nur in meinem Einkaufsbuch nachgeschaut, ob ich vielleicht eine Rechnung für ein verbotenes Produkt da drin habe.” Hatte er natürlich nicht, also kam das Zertifikat, “war auch gar nicht so teuer, ich mache ja nur zwei Weine”. Jetzt fragte er sich natürlich, ob das auch woanders so ist, auch in anderen Branchen und auch in Betrieben ganz anderer Größe und Marktbedeutung. Das weiß ich natürlich auch nicht, und ich weiß auch gar nicht, ob dieses Beispiel einer extrem laxen Zertifizierung bei ohnehin schon nicht so strengen formellen Auflagen gut ist. Demeter scheint da wesentlich konsequenter zu sein.
Eigentlich sind die Labels ja als Vertrauensbildner für die Fälle gedacht, in denen sich Hersteller und Käufer nicht gegenseitig kennen. Aber wenn es tatsächlich so ist, dass laxe Zertifizierungen, Schmu und Betrug zu Skandalen auch im Bio-Bereich führen (mit der von Dir beschriebenen Konsequenz, dass dann wieder gegen Bio im Allgemeinen gewettert werden kann) – dann ist es vielleicht für den Verbraucher erforderlich, dass es noch ein Zwischengremium gibt.
Im Prinzip sehe ich da “uns Blogger” in der Pflicht, als Selbsttester und Multiplikatoren zu wirken. Denn ganz zweifellos gibt es ganz großartige Hersteller und Produkte, die man sowohl von den Produktionsprinzipien als auch vom Gustativen her empfehlen kann oder sogar sollte. Okay, wenn man mal herumschaut, findet man schon etliche Testblogs, aber bei vielen geht es darum, kostenlos Produkte abzustauben, weshalb es mit dem ernsthaften Recherchieren, Ausprobieren und Beschreiben nicht so weit her ist. Vielleicht muss ich da selbst einmal schauen, auf welchen Blogs wirklich gute Produktkunde und “Berichterstattung” betrieben wird – unabhängig von der untersuchten Materie. Ich glaube, da läuft noch viel im Verborgenen ab (oder zumindest ist es mir verborgen, so wie ich denen vielleicht auch verborgen bin). Aber gut, ein ganz anderes Thema ;). Jedenfalls fällt es im Internet viel leichter als im Print, so etwas zu realisieren. Denn ich muss hier nichts investieren (außer das Produkt zu kaufen – und Zeit natürlich), während ein Printmedium den finanziellen Invest seiner Realisierung irgendwie erst einmal kompensieren muss – mit den entsprechenden Constraints und gegebenenfalls Verpflichtungen.
Da bist Du genau auf dem Punkt. Infos zu bekommen die relevant und vertrauenswürdig sind bei der Überflutung mit Infos. Und das wird ja in letzter Zeit extrem verschärft durch professionelle Säuberungsfirmen. Firmen die engagiert werden, im Internet positive BIlder zu malen und alles negative zu löschen oder zu relativieren. Gezielte Kommentare auf Foren oder Blogs, oder auf eigens für ein zu malendes Positivbild geschaffen Internetseiten. Damit wird zur Zeit viel Geld gemacht.
Zu deinem Beispiel muss ich nochmal was ergänzen. Die Frage welches Zertifikat es sein soll/muß, stellt sich nicht wirklich. Das war ja der anfängliche 1995er-Skandal. Bioproduzenten die jahrzehntelang Vorreiter waren, Demeter, BIoland, Naturland, Biokreis Ostbayern, Nature et Progres …. waren gezwungen, damit sie ihre Waren noch als “Bio” verkaufen durften, sich zusätzlich durch die EU-Kontrollstellen kontrollieren zu lassen. Sonst hätte sie bei ihren Produkten nicht mehr von “Bio” reden dürfen. Pervers – oder? Meine erste Reaktion war : lasst uns die Bioläden umbennen in Demetershop. Damit hätten wir nochmal für Verblüffung gesorgt und uns scharf gegen EU-Bio abgrenzen können und schon damals die Diskussion über “wo ist denn jetzt der Unterschied” entfacht und nicht die Verwirrung zusätzlich geschürt indem Demeter neben EU-Bio im Laden nebeneinander stehen und so der Abglanz auch auf die EU-Produkte fällt. Wie oft habe ich in den späteren Supermärkten von vom Angebot überwältigten Kunden gehört “und alles Bio!”.
Das wirklich verheerende der ersten Jahre war allerdings die Verödung durch finanzielles Ausbluten. Die engagierten Produzenten waren ja meist keine Großverdiener. Nun waren sie gezwungen 2 Kontrollen zu bezahlen. In den ersten nach-95er-Jahren standen dadurch etliche vor einer entscheidenden Frage : wenn mir rechtlich nur die EU-Kontrolle erlaubt, weiter Bio zu verkaufen, was nützt mir die andere zu bezahlende Kontrolle noch? Viele entschieden sich doch dazu, den Anbauverband zu verlassen.
Warum ist wohl die EU nicht auf die Idee gekommen, direkt die Anbauverbandskontrollen anzuerkennen, deren Kontrollen ja entschieden strenger sind und deren Grenzwerte bei Zusatzstoffen niedriger liegen? Wäre doch logisch gewesen oder? Das Argument war : es wäre nicht gut wenn derjenige die Kontrolle durchführt, der auch die Kriterien erstellt hat. Das wäre ein Interessenskonflikt und nicht neutral. Ich frage mich natürlich wo die Neutralität bleibt, wenn ich als privatwirtschaftliche Kontrollstelle Einnahmen generieren muss, bzw ich ideologisch mit der ganzen Sache nichts am Hut habe.
Auch hier muss ich wieder auf die vom Bloggerkern schon angedachte Gaillacreise kommen. Hier könntest Du Dir von verschiedensten Produzenten den Unterschied verdeutlichen lassen, weil hier die meisten sowohl N&P bezahlen und EU erdulden. Der Tenor ist überall gleich. Trauer und Lächerlichkeit über die EU-Kontrollen. Oder ein Gespräch mit Michel Issaly. Du hast seinen Braucol ja auch schon erwähnt und 18 Punkte für einen naturel sind ja nicht ohne. (Wobei ich immer noch denke, dass es mehr sind und nur die relative Unkenntnis der Macharten von Braucol eine höhere Benotung verhindern.) Beim Piquenique erläutert er auch schön die Folgen der in den 60er Jahren massiven Einführung von Traktoren und der dafür notwendig gewordenen Flurbereinigungen. Die Schäden, die damals verursacht wurden sind nach 20 Jahren Wiederherstellungsarbeit noch nicht wieder rückgängig gemacht. Oder ein Gespräch mit der ehemaligen Präsidentin der N&P-Verbandes im Tarn, die auch Winzerin ist (Cantalauze) und den Unterschied gut deutlich machen kann.
So viel heute – jetzt gibts hier im Südwesten einen guten Röttgen-Terassen-Riesling von Knebel.
Pingback: Was kaufe ich im Bio-Supermarkt in Frankreich? | Chez Matze