Gerallt Gymro, die uns allen geläufige walisische Plaudertasche des 12. Jahrhunderts, wusste genau, welches Wunder der Natur er da gefunden hatte: Mit seinen eigenen Augen hatte er beobachtet, dass eine Nonnengans aus diesem unansehnlichen, hufähnlichen Gebilde geschlüpft war. Die Kunde verbreitete sich rasend schnell über den ganzen Kontinent. Im deutschen Sprachraum angekommen, hatte sich die Gans zur Ente gewandelt, von “Entenmuscheln” spricht man seitdem hierzulande. Dass Gerallt nicht ganz richtig lag, leuchtet uns sicher ein. Nur, was für Dinger sind das wirklich? Kann man sie essen? Und da dem offenbar so ist, warum machen Nordspanier und Portugiesen einen derartigen Kult um dieses rätselhafte Meerestier?
Galizische “Percebes”, so heißen die Tierchen in ihrer Heimat, kosten im Corte Inglés in Lissabon exakt 134,81 € pro Kilogramm. Wie immer bei solchen Preisen kann man davon ausgehen, dass es nicht in erster Linie um den Geschmack geht. “Entenmuscheln” sind im übrigen gar keine Muscheln, sondern Krebse aus der Gattung der Rankenfüße. Sie ernähren sich von Plankton, das sie aus dem Meereswasser filtrieren, schwimmen aber nur im allerersten Larvenstadium frei herum. Wenig später entscheidet sich der Krebs für die Sesshaftigkeit und klebt sich quasi mit seinem Kopf an einem Stein fest. Der Rest des Körpers wird von einer Art Schild geschützt, so dass das Tier wie ein Bein mit einem Huf am Ende aussieht. Was die Percebes so begehrt macht, ist nicht nur ihr seltsames Aussehen. Es ist vor allem ihr Lebensraum, die gischtüberflutete Zone zwischen Meer und Land.
Die Galizier hatten schon immer ein sehr enges Verhältnis zum Ozean. Aus ihm kam das Leben, aus ihm kam aber auch der Tod. Bei den Fischern an der gefährlichsten Küste Europas (und ihrem bitterarmen Hinterland) sind deshalb seit Jahrhunderten die Mythen um Meer und Männlichkeit zu Hause. Aus dieser Kombination heraus wird dann auch verständlich, weshalb die Percebes erst entlang der Atlantikküste und später auch in urbanen Feinschmeckerkreisen derartige Begehrlichkeiten geweckt haben. Neben dem dezenten Grusel ob des seltsamen Aussehens kommt noch ein weiterer Grusel hinzu, wenn man an die gefährliche Arbeit der Percebeiros denkt. Hier gibt es ein sehr beeindruckendes Youtube-Video, ein Ausschnitt aus einer portugiesischen Dokumentation, und hier steigt der spanische Koch José Andrés selbst in die Fluten.
Mittlerweile hat sich die Percebes-Welt ein wenig scheindemokratisiert. Kleinere Exemplare aus Portugal sind schon für 22 € pro Kilo zu haben, und marokkanische oder peruanische Percebes gibt es ungefähr für die Hälfte des Preises. Die Fang- oder besser gesagt Pflücksaison dauert in Galizien nur von November bis März, um den in der Vergangenheit arg gebeutelten Kreaturen die natürliche Reproduktionszeit zu erhalten. Ein Glück, dass sich weltweit außer Spaniern und Portugiesen noch niemand für diese faszinierenden Meerestiere zu interessieren scheint.
Am Fischstand gibt es im Winter eine feine Auswahl verschiedener Größen, Arten und Herkünfte, je nach persönlicher Präferenz in roher oder gekochter Form. Wer sich für die rohe Variante entscheidet, was sicher die bessere Wahl ist, kann die Percebes ähnlich wie Austern auch roh essen – jedenfalls dann, wenn sie wirklich frisch sind. Wesentlich besser sind sie aber selbst gekocht oder vielmehr überbrüht. Dazu gebe man die Percebes wirklich nicht länger als 45 Sekunden in kochendes Wasser, Salz ist unnötig, ein riesiger Topf auch. Nach dieser Prozedur lassen sie sich nämlich wesentlich leichter öffnen, ohne dass das einmalige Meeresaroma verloren gegangen wäre. Es gibt Anweisungen in Kochbüchern, dass man sich erst ein Lätzchen umbinden sollte, weil die Percebes beim Öffnen so spritzen, aber mit einer gewissen Untrotteligkeit geht es auch so. Dabei presse man den Fingernagel des einen Daumens an den Rand zwischen “Stiel” und “Huf”, fasse mit der anderen Hand an den “Huf” und drehe ihn auf diese Weise ab. Innerhalb des “Stiels”, der sich faszinierend wie eine wasserdichte Regenhaut anfühlt, befindet sich der essbare Teil der Percebe. Dieser sieht aus wie eine Mischung aus einem gekochten Pilzstiel und einer kleinen, dunklen Nacktschnecke, schmeckt aber natürlich ganz anders, nämlich wirklich toll nach Muschel, nach Ozean, nach einer wilden Küste.
Ich habe keine Zitrone über die Percebes geträufelt und nur ein frisches Weißbrot mit Salzbutter dazu gegessen. In dieser Form bieten sich eher starke und strenge Weißweine als Begleitung an, ansonsten ist ein Alvarinho natürlich das Mittel der Wahl. Erst später ist mir bei der Betrachtung des Kassenzettels aufgefallen, dass ich beim Kauf entweder enorm charmant oder enorm belämmert gewirkt haben muss, jedenfalls dergestalt, dass die Verkäuferin den Preis irgendeiner Hundsmuschel eingegeben hat und mich die Percebes nur drei Euro gekostet haben. Unabhängig davon wird es aber nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich diese rätselhaften Meerestiere zu mir genommen habe. Nur etwas beeilen muss ich mich, denn außerhalb der Saison würde ich allein aus Gründen des Artenschutzes keine kaufen wollen.
Im Winter (wie gesagt, die “Jagdzeit” ist in wenigen Tagen vorüber) gibt es Percebes im Kaufhaus El Corte Inglés oder in der Markthalle Ribeira zu kaufen. Wer die Tierchen zubereitet essen möchte, kann das zum Beispiel in der “Cervejaria Ribadouro” tun.
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Sehr, sehr interessant! Muchas gracias. 💌
Das ” Caballo Furado” in Tui ist meine Empfehlung. ich fahre im Winter dort hin. Ein kleines Restaurant mit offener Küche und Tresen. Meeresfrücht par excellence. Nicht nur Percebes.. Cocochas con Almejas also Seehechbäcken mit Venusmuschel. Auch genial.