Food-Trends – TikTok, Gen Z und das Croissant

Food-Trends Paris

Eigentlich sollte es ganz einfach sein. Beautyjagd als ewige Inspirateurin (wie immer vielen Dank!) hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass auf TikTok gerade giant croissants viral gehen. Gekauft in Paris, der Welt-Gourmet-Metropole. Nach einer kurzen Recherche fand ich einen Artikel im Independent, der genau diese riesigen Croissants, Food-Trends generell und den »Fall« von Paris zum Thema hatte. Eigentlich wollte ich das auch nur kurz mit ein paar Fotos untermalen. Aber dann fiel uns auf, dass wir den erstaunlichen Lauf von Food-Trends rund um die Welt ja schon selbst beobachtet hatten. Nicht nur auf TikTok und Instagram, sondern leibhaftig in Ostasien, den USA und eben in Paris. Lest also, welche Systematiken von Food-Trends uns aufgefallen sind und wie man als simpler Hersteller von Backwaren weltberühmt werden kann.

Kurzer Exkurs: Globale Wertintegration

Bevor das konkrete Gebäck die Bühne entert, erst einmal ein kleiner Hinweis auf den Hintergrund. Damit es zu einem weltweiten Phänomen kommen kann, müssen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen nämlich dieselbe Sache toll finden. Oder sagen wir, aus ursprünglich unterschiedlichen Kulturen, denn eines der Kennzeichen der Globalisierung ist ja, dass sich in bestimmten Kreisen diese Unterschiede auflösen. Davon hat schon der Soziologe Thomas Müller-Schneider berichtet, allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang, den globalen Migrationswünschen. Er entwickelte das Konzept der Globalen Wertintegration.

Jenes besagt unter anderem, dass »wir« es im Westen geschafft haben, unsere Vorstellungen davon, was begehrens- und erstrebenswert ist, »traditionelleren« Kulturen überzudäuen. Das hat bereits mit der brutal zur Schau gestellten Behauptung der kulturellen Überlegenheit des weißen Mannes zur Kolonialzeit zu tun. Eine große Schafherde zu besitzen oder ein weiser Medizinmann zu sein, wurde als kulturell minderwertiges Ziel hingestellt. Im 20. Jahrhundert kam dann noch die internationale Marketing-Industrie dazu, die Rolex-Uhren, Gucci-Handtaschen und New Balance-Sneakers auf der Liste der weltweit erstrebenswerten Güter platzierte.

In den letzten Jahren, wahrscheinlich sogar erst mit Nachdruck im letzten Jahrzehnt, haben sich die Mitteilungsmöglichkeiten noch einmal wahnsinnig beschleunigt. Instagram und TikTok erreichen Milliarden junger Menschen weltweit, und man zeigt sich gegenseitig, was man gerade Angesagtes erworben hat. Zusätzlich haben sich diese Insignien der Zugehörigkeit auf ganz normale Alltagsdinge ausgeweitet. Also nicht nur Ferrari, sondern auch Avocado-Toast oder Wassermelonen-Eis. Food-Trends transportieren nämlich ebenfalls Lebensgefühl. Und jetzt kommt Paris ins Spiel.

Paris liefert Inspiration

Frankreich als kulinarisches Vorbild

Die französische Küche, und dementsprechend Paris als Hauptstadt, entfacht Träume von Luxus und Kultiviertheit. Daran haben die Franzosen als Food-Marketing-Experten jahrhundertelang gearbeitet. Woran sie nicht gearbeitet haben: Die Produkte aus ihrem Kontext zu lösen, jünger, bunter, zugänglicher, fusion-mäßiger zu machen. Es scheint mir auch vernünftig zu sein, so beharrlich traditionalistisch zu bleiben, weil damit die Definition des Originals umso fester verhaftet ist. Genau das bietet dann anderen die Möglichkeit, sich vom Original inspirieren zu lassen und es letztlich im Sinne eines Food-Trends umzugestalten.

Croissant Bo & Mie Paris

Nehmen wir als Beispiel das Croissant, definitiv eines der Symbole französischer Backtradition. Auf dem Foto seht ihr ein solches Gebäckstück, original aus Paris von Bo & Mie, einer angesagten Kleinkette. Klar, Bo & Mie machen das Ganze etwas schicker und aufwändiger als euer gewöhnlicher Bahnhofs-Backshop, aber im Grunde ist da nichts verändert. Ein Original halt.

Ostasien als Geburtsort des Food-Trends

Gehen wir nun nach Asien. In Korea und besonders in Japan erfährt die französische Küche als Ausdruck klassischer Meisterschaft eine fast kultische Verehrung. Allerdings erschöpft sich diese Verehrung nicht darin, alles exakt nachbauen zu wollen. Vielmehr wird die Zuneigung noch größer, wenn man die Lieblingsbestandteile verfeinert, herausarbeitet, verstärkt, es dadurch noch besser dastehen lässt.

Brioche Croissant Tokyo

Auf dem Foto seht ihr links eine Brioche von Joël Robuchon und rechts Croissants von Boul’ange. Ja, mit Joël Robuchon ist schon der vor einigen Jahren verstorbene Sternekoch gemeint. Was ihr aber vielleicht nicht wusstet: Neben Restaurants gehört zur Gruppe beispielsweise Le Pain de Joël Robuchon, wo ihr für gutes Geld eure Frühstückswaren erwerben könnt. Teils wie im Original, teils im Geiste nachempfunden. Gleiches gilt für Boul’ange, eine Reihe von Bakery Shops in Japan im Besitz des Modekonzerns Baycrew’s. Bei beiden könnt ihr erkennen, dass die Anzahl der Touren noch einmal erheblich erhöht wurde. Auch schien mir der starke Hefegeruch nicht ausschließlich natürlichen Ursprungs zu sein. Also das Verstärken bestimmter, als edel und prägend empfundener Elemente.

K-Pop, K-Beauty, K-Bakery

Noch etwas freier in der Interpretation als Japan ist Südkorea. Das habe ich besonders stark beim Besuch der COEX Food Week und der Siba in Seoul festgestellt. Bäckereien aus ganz Ostasien (der Schwerpunkt liegt aber eindeutig auf Südkorea) beteiligten sich dort an Contests, unter anderem in mehreren Gebäckkategorien. Da kann man dann Croissants mit Früchten sehen, mit unendlich vielen Touren, mit Himbeergelee oder mit Maple Walnut.

Brot Seoul

Dasselbe gilt übrigens auch für das Baguette, noch so ein französischer Ultra-Klassiker. Formen, Farben, Verzierungen, der Fantasie sind da wenig Grenzen gesetzt. Das liegt wie gesagt am allgemein oft etwas verspielteren Zugang zum Design, der in Ostasien gepflegt wird. Zum anderen kann ich als »fremde« Kultur aber auch einfach freier agieren, weil ich den historischen Kontext weniger beachten muss. Die allermeisten dieser neuen Food-Trends werden also in Asien kreiert. Es gibt dort auch ein junges, Neuigkeiten gegenüber aufgeschlossenes Publikum, das die Trends entsprechend verbreitet, in der Regel über Social Media. Bevor das Ganze global wird, muss allerdings noch eine zwingende Durchgangsstation genommen werden.

Die USA als Verstärker und Supersizer

Die Rede ist vom Motherland der modernen Popkultur, den USA. Deren Eignung ergibt sich wie von selbst. Zum einen sind die USA ein Einwanderungsland, das ganz offensiv junge und kluge Menschen anzieht. Natürlich gibt es Hindernisse und Schwierigkeiten, keine Frage. Aber durch das Vorhandensein aller Kulturen in den USA und dem dortigen Wohlstand können sämtliche Trends, die in anderen Teilen der Welt kreiert werden, aufgenommen, finanziell unterfüttert und dann entsprechend modifiziert global losgeschickt werden.

Supersize Food USA

Eine typisch amerikanische Variante ist zum Beispiel, alles größer, bunter, süßer oder schärfer zu machen. Die Übertreibung als Stilelement der Popkultur. Die USA als Verstärker und Supersizer, was dann natürlich auch großartig auf Plattformen wie TikTok (solange man darf) und Instagram läuft, in denen es schlicht primär um Entertainment geht. Das Supersizing ist mir besonders stark bewusst geworden, als ich in einem Strandcafé in Malibu einen Cheese Cake bestellt hatte. Der war nämlich so groß, dass ich als guter Kuchenesser beim besten Willen höchstens ein Drittel davon schaffte. Für andere Gäste war das völlig normal: entweder Doggy Bag verlangen oder einfach übrig lassen und wegwerfen.

Wieder in Paris – Food-Trends um die Welt

Aber schauen wir noch einmal nach Paris, wo der Trend inzwischen wieder angekommen ist. Ja, genau dort, wo es erst losgegangen war.

Food-Trends Conticini Giant Croissant

Pâtisserie Philippe Conticini, Paris. Der Inhaber, ein gelernter Pâtissier, hat in der Sterne-Gastronomie ebenso gearbeitet wie in New York und Tokio, immer mit Vorn-dran-sein-Attitüde und einer Million Follower auf Instagram. Als ich den Laden im 7. Arrondissement betrete, ist eigentlich Mittagszeit, aber ich kaufe trotzdem ein Croissant, weil es so manieristisch, so latent protzend, so sehr nach Korea und den USA aussieht. Einfach größer und gestalteter als bei Bo & Mie oder Paul. Qualitativ war ich allerdings tatsächlich überzeugt, es handelt sich keineswegs um einen billigen Showeffekt. Mittlerweile gibt es bei Conticini jedoch den dernier cri, natürlich über die USA hineingetragen: Le Giant Croissant.

32 € kostet das halbmetergroße Gebäckstück vor Ort. Aufgegessen wird es allerdings nicht, denn dafür ist es nicht gedacht, sondern um content zu createn, Klicks zu generieren, den Algorithmen der Entertainment-Apps zu gefallen. Das darf man durchaus schrecklich finden, aber zum Glück haben solche Trends ja die Angewohnheit, nicht besonders langlebig zu sein.

Wer sich in der Welt der US-amerikanisch beeinflussten Gastrokultur im klassischen Europa ein bisschen intensiver umtun möchte, der Gstaad Guy (auch eine knappe Million Insta-Follower) hat mit seiner Figur Colton eine passende Parodie kreiert. Da seht ihr dann auch, was in St-Tropez oder in den Restaurants auf den Champs-Elysées mittlerweile gegessen wird: ursprünglich französische Grundlagen mit asiatischen Ideen und amerikanischer Verriesigung oder »neuer Fusionierung« wie Steak mit Avocado und Schmelzkäse. Nur als Beispiel.

Popstar Cédric Grolet

Food-Trends Cédric Grolet Paris

Es gibt im Pariser Bäcker- und Konditorhandwerk auch Menschen, die solche globalen Food-Trends selbst anheizen, die genau wissen, wie man sich medial präsentiert. Einer davon ist Cédric Grolet. Der hat sogar über elf Millionen Insta-Follower, was vor allem an seinen aufwändig produzierten Reels liegt. Grolet ist Pâtissier und ein Spezialist für fruit shapes. Die Pâtissier-Stückchen sehen aus wie die Frucht und beinhalten Bestandteile der Frucht, daneben aber auch Teig und Creme. Gelernt hatte er bei Fauchon, kam dann aber relativ schnell zum Luxushotel Le Meurice. Dort arbeitet er immer noch, hat aber inzwischen auch Shops in der Nähe der Opéra, in London, Singapur und St-Tropez. Im Meurice kann man übrigens nur nach Online-Anmeldung einkaufen (was ich gemacht habe). Für Shop und Café muss man dafür mit einer längeren Wartezeit rechnen. Drei Stunden, wenn man Pech hat.

Cédric Grolet hat begriffen, was man machen muss, um ein Pâtissier-Weltstar zu werden: Erstens solide Ausbildung und echtes Können, zweitens das Talent zur Mediatisierung, drittens ein professionelles Team, das für Realisierung, Kontakte und Kontrakte sorgt. Und schließlich viertens das Gespür für Food-Trends, für Farben, Formen, Texturen und das Prinzip der Verknappung.

Was sich zum Beispiel hervorragend für globale Food-Trends eignet, sind derzeit Dinge, die eine schöne Farbe haben und sich in eine Textur einbinden lassen, die man auf Englisch als sumptuous bezeichnen würde. Also schon ein bisschen soßig-glitschig-üppig. Matcha hat da den Anfang gemacht (Eis, Shake, Latte), dann Pistazie, Avocado (alles dieselbe Farbe übrigens) oder auch Wassermelone. Schnuckelig sind auch die im Independent gezeigten Mermaid Toasts (vor allem der Farben wegen). Süße, Cremigkeit und überraschenderweise auch Schärfe funktionieren in diesem Kontext  – sogar bei uns. Meine Mutter hat fast nie gewürzt, heute gibt’s überall feurige Tacos und koreanische Chili-Snacks. Weiterhin meh bis bäh sind allerdings sauer und vor allem bitter.

Ich und Food-Trends – Avocado Carbonara

Food-Trends Avocado Carbonara

Weil man ja nicht immer nur recherchieren, sondern auch gern mal selbst etwas ausprobieren möchte, haben wir neulich Avocado Carbonara gemacht. Im Internet gibt es dazu unzählige Clips und Rezepte. In diesem Fall hat die authentische italienische Küche dran glauben müssen und wurde einmal rund um den Globus geschickt. Avocado als farbiges und glitschgeeignetes Superfood ersetzt dabei einfach die Sahnesoße (deutsche Carbonara) oder die Käse-Emulsion (italienisches Original). Das Ergebnis: eine Kalorienbombe (obwohl genau das immer bestritten wird) mit rohem Knoblauch und fehlender Mitte. Nichts, was man wegschmeißen müsste, aber auch nichts, was wir noch einmal kochen würden.

Ich komme zum Schluss.

Was würde ich tun, wenn ich Vorstadtbäcker oder Convenience-Koch mit Ambitionen wäre? Ich würde die Hälfte meiner Arbeitszeit dafür verwenden, ein Konzept zu entwickeln, wie ich vorn dran sein kann. Was habe ich de facto drauf? Was sind meine Talente? Welche Food-Trends kann ich auf Insta und TikTok finden? Wie sieht’s real in der Nachbarschaft aus in puncto Konkurrenz und Klientel? Na, und dann kann es losgehen.

Wenn ihr also demnächst in eurer Lieblingsbäckerei riesige Croissants seht, würfelförmige Stückchen wie bei Dominique Ansel oder Dinge, die euch auf den ersten Blick seltsam vorkommen: Da ist schon jemand dran am Trend. Und wer keine eigenen Sachen kreieren mag, hat immer noch die Möglichkeit, eine günstigere Kopie herzustellen. Statt 32 € wie bei Conticini gibt’s das Riesen-Croissant bei Meunier für 20 €.

In diesem Sinne: Good back!

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1 Antwort zu Food-Trends – TikTok, Gen Z und das Croissant

  1. EC sagt:

    😅
    …dazu fällt mir ein, daß wir vor gut 15 Jahren bei einem Italiener in Southbend / Indiana mal ein Bruschetta serviert bekamen, das alleine schon locker als Hauptspeise gereicht hätte. Auf Nachfrage erläuterte uns der original italienische Patrone, daß die Amis ihn an der nächsten Laterne aufknüpfen würden, wenn er ernsthaft Bruschetta in italienischer Originalgröße servieren würde…

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