Entschuldigt bitte gleich einmal den ein wenig provokanten Titel. Aber hätte ich geschrieben “Online-Seminarreihe Weinwirtschaft 2022 (Teil 6), Workshop Oenologie“, es wäre (zumal es nicht in die Kopfzeile gepasst hätte) nicht deutlich geworden, um was es an diesem äußerst interessanten Abend gehen sollte. Worum ging es also? Die LWG, sprich die Bayerische Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau in Veitshöchheim bei Würzburg, bietet normalerweise Fortbildungsseminare und auch die Veitshöchheimer Weinbautage an, bei denen neueste Forschungsergebnisse vermittelt werden. Aus nachvollziehbaren Gründen läuft dies seit einiger Zeit online. Diesmal sollte es um gleich drei Sachen gehen: Um stilistische Trends, um extreme Frankenweine und um die Auswertung einer anonymisierten Blindverkostung ebenjener Weine. Ob die LWG die Franken-Winzer damit begeistern kann?
Die LWG im 21. Jahrhundert
Um es vorwegzunehmen: Das Interesse war absolut da. Fast 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die allermeisten wohl aus der fränkischen Winzerschaft selbst, saßen daheim an ihren digitalen Endgeräten und lauschten den Ausführungen. Womit ich bei den Protagonisten des Abends wäre. Hermann Mengler, Weinfachberater beim Bezirk Unterfranken und damit der Experte Nr. 1 in Sachen Frankenwein, hatte seinen Vortrag “Pyrotechnik oder Popcorn” genannt. Felix Baumann vom Institut für Weinbau und Oenologie der LWG folgte dann mit seinem “Frankenwein extrem: Vom Bio- zum Naturwein, Sponti bis Orange”.
Was bei solchen Titeln niemand ahnen konnte: Es ging bei diesem Workshop nicht nur um die Theorie, sondern auch um die Praxis. Viele Weinpakete waren hinausgegangen und wollten nun zur Anschauung verkostet werden.
Zunächst aber zu Hermann Menglers Vortrag. Der hatte nämlich genau die Themen im Fokus, die aufgeschlossene Winzerinnen und Winzer anno 2022 weiterbringen. Ich möchte hier nicht alles wiederholen und empfehle deshalb dringend, sich die Präsentation der LWG im Original auf Youtube anzuschauen. Eine Abbildung aus dem Vortrag möchte ich euch trotzdem zeigen.
Hat sich der Weingeschmack verändert?
Die Frage nach dem Weingeschmack hat Hermann Mengler mit seiner Abbildung (vermutlich die Ergebnisse von Frankenwein-Blindverkostungen) ziemlich eindrücklich beantwortet. Nämlich: Ja, er hat sich verändert. In der Abbildung seht ihr zwei Jahrgänge im Vergleich, 2009 und 2019, die beide in ihrem Verlauf relativ ähnlich waren. Beide waren warm. 2009 hatte mit 2008 allerdings einen kühlen Vorgängerjahrgang, 2019 mit 2018 einen wüstenhaft heißen und trockenen. Das könnte die Entscheidung der Winzer über den Erntezeitpunkt beeinflusst haben. 2019 dürfte im Durchschnitt also früher als 2009 gelesen worden sein.
Dennoch sind die Ergebnisse des Outcomes ganz für sich sehr deutlich. 2009 wurde mehr Wert auf Frucht, Holz und Cremigkeit gelegt, während 2019 eher kühle Einflüsse, Würze, Säure und Gerbstoffe im Vordergrund standen. Es sind also die Winzer, die diese stilistische Entscheidung getroffen haben. Jene wiederum möchten ihre Produkte verkaufen, also entsprechen die neuen stilistischen Schwerpunkte auch der Nachfrage. Soll heißen: Die Weine haben sich verändert, weil wir es so wollen. Gesellschaften verändern sich ohnehin ständig, also sind solche Sachen, die als Trend oder auch etwas abschätzig als Mode bezeichnet werden, Teil eines ganz natürlichen Prozesses.
Chancen für Naturwein?
Einer dieser Trends ist der Naturwein. Analog zu anderen gesellschaftlichen Themen ist vor allem die jüngere Generation (fragt eure Kinder) stark an Dingen wie Nachhaltigkeit und Natürlichkeit interessiert. Zudem darf es für junge Leute insgesamt expressiver sein: lautere Musik, explizitere Ausdrücke, Produkte, die deutlicher den Charakter des Ausprobierens in sich tragen. Auch das ist letztlich same as it ever was, denkt an Sturm und Drang, an die Hippie-Bewegung, an eure eigene Jugend. Anders als früher gibt es aber mittlerweile mit Naturweinen eine Wein-Kategorie, die sich dieses bewusste Ausleben von “roherer” Natürlichkeit und Experimentierfreude zum Markenzeichen gemacht hat.
Faktisch ist es so, dass der höchste Weinverbrauch pro Kopf in der Altersgruppe zwischen 65 und 74 Jahren realisiert wird. Dort wird vor allem Wert auf Bewährtes gelegt, zu dem experimentelle Naturweine nicht zählen. Wir sprechen hier also rein mengenmäßig von einer Nische, von der Spitze des Trend-Eisbergs. Aber: Den Rest des Eisbergs scheinen viele Winzer hierzulande noch nicht richtig wahrhaben zu wollen. Er besteht nämlich beispielsweise auf EU-Regelungs-Ebene aus sichtbaren Bestrebungen, Prozesse und Produkte nachhaltiger und transparenter werden zu lassen (Green Deal!). Naturwein, so trüb er auch sein mag, passt im Prinzip hervorragend in diese neue Transparenz. Felix Baumann sieht am Ende der Chancenkette sogar eine g.g.A. für “derartige” Weine in Franken. Das wäre wahrhaft eine Pioniertat.
Nur: Was müssten diese verbindlichen Regelungen für eine solche g.g.A. enthalten? Anbauvorschriften? Ausbauvorschriften? Geschmacksbilder? Wer die Diskussionen in der Naturwein-Szene kennt, weiß, dass es auch dort Befürworter und Gegner solcher Verbindlichkeiten gibt. Einerseits möchte man zeigen, dass es eben kein Marketing-Gag ist, sondern die Weine unter bestimmten Bedingungen entstanden sind. Andererseits ist es ja gerade die Freiheit der eigenen Entscheidung, welche die pionierhaften Naturwein-Winzer so schätzen. Die Abwesenheit eines Regelwerks. Es bleibt jedenfalls spannend.
LWG-Consumer Study Naturwein
Spannend ist das richtige Stichwort, denn sehr gespannt war ich auf die Auswertung einer anonymisierten Befragung a.k.a. Consumer Study der LWG, die Felix Baumann durchgeführt hat. Ich war selbst Teil dieser Untersuchung, hatte zwölf neutrale Fläschchen mit Naturweinen vor mir, die ich verkosten und bewerten sollte. Wie wirken also solche Naturweine auf die gewöhnliche Konsumentenschar? Das würden selbstverständlich auch die Winzer gern wissen.
Zunächst erstellte Felix Baumann aus den Ergebnissen sogenannte Cluster, also Gruppen von Personen, die sich anhand ihrer Antworten relativ ähnlich waren. Eine dieser Gruppen waren die “Toleranten”, eine die “Meinungsstarken” (ich würde sie vielleicht eher als “Hedonisten” bezeichnen), und eine dritte Gruppe die “Extremisten”, für die es nur falsch und richtig gibt. Jetzt kann man anhand der Präferenzen dieser Gruppen Niveauliniendiagramme erstellen, die in ihrer Aussage ein bisschen den Heatmaps ähneln – kennt ihr vielleicht von diesen neuen Fußballanalysen, bei denen man sehen kann, wo auf dem Platz Thomas Müller herumgelaufen ist. Das, was die Cluster-Mitglieder besonders gut fanden, wird in Rot, das, was sie besonders schlecht fanden, in Blau dargestellt.
Oben auf dem Foto seht ihr einen (zugegeben dürftig aufgelösten) Screenshot, den ich davon gemacht habe. Unten links sind die Toleranten, in der Mitte die Hedonisten, rechts die Extremisten. Die Toleranten haben zwar eine gewisse Vorliebe für “strengere” Naturweine, mögen sogar gerbstoffhaltige Orange Wines, sind in ihren Präferenzen aber nicht so schrecklich festgelegt. Die meinungsstarken Hedonisten mögen hingegen eher einen bestimmten Weintyp, der Substanz und als klassisch wahrgenommene Qualitätsmerkmale im Zentrum hat (letzteres ist jetzt meine Interpretation, Silvaner, you know). Die Extremisten hingegen wollen nur einen einzigen Typus – fruchtig, frisch, trinkig – UND sie lehnen alles andere extrem stark ab. Und genau da sind wir bei der Crux.
Was bedeutet diese Erkenntnis?
Wären wir hier bei anderen politisch-gesellschaftlichen Fragen, das Ergebnis hätte mich sehr erschreckt. Warum? Weil die Toleranten im Prinzip keinerlei Wirkung bei der Gesamtanalyse entfalten. Eine Gruppe hingegen, und sei sie auch relativ klein, die nur richtig und falsch kennt, wird mit dieser extremen Haltung statistisch auf einmal relevant. Zum Glück waren in unserem Fall “nur” zwölf Naturweine im Test, und da geht es ja tatsächlich um das Mehrheitsprinzip, wenn man die Weine verkaufen möchte. Sehr interessant fand ich die stilistischen Erkenntnisse, die Felix Baumann präsentierte, weil sie echte Hinweise für ambitionierte Winzerinnen und Winzern enthalten.
Unsere Testgruppe hatte insgesamt ganz offenbar Schwierigkeiten mit gustativen Elementen wie bitter, braun und Rauch. Ein BSA-Ton wurde hingegen sogar positiv bewertet, ebenso wie (Achtung!) eine wahrnehmbare flüchtige Säure – innerhalb des gesetzlichen Rahmens selbstverständlich. Das erinnert mich an einen Ausspruch des großen Weinkritikers Hugh Johnson, der einmal sagte, die interessantesten Weine würde man dort finden, wo sie gerade noch diesseits der Fehlerhaftigkeit seien. Weinfehler, ein eigenes Thema. Dass Alkohol negativ wahrgenommen wurde, man also frischere und alkoholärmere Weine bevorzugt, deckt sich eins zu eins mit den Ausführungen von Hermann Mengler weiter oben.
Naturwein in Deutschland – meine Favoriten aus der Probe
Ob die fränkischen Winzer Naturwein machen oder gar selbst trinken wollen, das lässt sich so pauschal nicht beantworten. Ein wenig darüber Aufschluss geben werden sicher die Bemühungen in Richtung der angesprochenen g.g.A. Tatsächlich aber gibt es welche, die das schon tun, manche sogar schon seit längerer Zeit. Womit ich bei meinen Favoriten der Consumer Study wäre. Ich hatte ja schon geschrieben, dass wir dabei zwölf Weine blind getestet und bewertet haben. Von meinen vier Favoriten kenne ich mittlerweile auch die Namen.
Einer davon war der Wein links auf dem Foto, Andi Weigands Silvaner. Handgelesen, fußgequetscht, vier Tage Maische, Ausbau im Holz – und 7,5 g Säure bei 0 g Restzucker – hui! Das ist im Jahrgang 2020 ein wunderbar frischer Wein, sehr zitrisch, sehr straight – ideal geeignet für Freunde des Puristischen. Iphofen kann wirklich alles, und Silvaner auch.
Meinen zweiten Favoriten seht ihr rechts auf dem Bild, den Riesling Voodoo Doll von Bianka und Daniel Schmitt aus Rheinhessen. Die beiden haben den Beweis erbracht, dass man sehr erfolgreich weltweit Naturwein von 16 ha Rebfläche vermarkten kann. Ihr Voodoo Doll ist ein “Riesling Szamorodni”. Vier Wochen Maischestandzeit, zwölf Monate unter Florhefe (!) im großen Holz ausgebaut. Weißer Pfirsich, Schwarztee, etwas Balsamisches, die Gerbstoffe vermählt mit einer milden Rieslingnote.
Nicht beim LWG-Workshop dabei, aber in der Blindprobe waren zwei weitere sehr starke Weine: der Silvaner Heimat der 2Naturkinder und der Sylvaner Kalkoven von Collective Z aus der Pfalz. Alle vier Weine kosten zwischen 17 und 32 €, und das ist die Kundschaft auch bereit zu zahlen.
Mein Fazit
Mein Fazit nach einem langen Abend und einem ebenso langen Text lautet: vielschichtig und interessant. Weil der Text aber so lang geworden ist, möchte ich hier einfach noch einmal meine wichtigsten Learnings des LWG-Workshops wiederholen:
- Hermann Mengler zeigte in seinem Vortrag, dass es deutliche geschmackliche Unterschiede gibt zwischen den (fränkischen) Weißweinen der Jahrgänge 2009 und 2019. Mittlerweile sind die Weine leichter, kühler, würziger, prägnanter in der Säure. Die Zeit der dicken Brummer ist vorbei, der Geschmack von Winzern und Publikum hat sich verändert.
- Felix Baumann konnte genau das bei seiner Naturwein-Konsumentenstudie bestätigen. (Zu) hoher Alkohol wird negativ wahrgenommen. Bei den Naturweinen wurden BSA und ein Touch flüchtiger Säure sogar positiv bewertet. Das Interesse am Grenzgängertum wächst.
- Bittere, rauchige und braune Aromen werden hingegen auch bei diesem Typus eher abgelehnt. Maischestandzeit gibt zwar einen gewünschten Grip, lange Maischegärung aber mit typisch strengen Orange Wine-Noten scheint nach dieser Umfrage weiterhin eher etwas für die Freak-Nische zu bleiben.
- Die Chancen für fränkischen Naturwein sind absolut gegeben. Wenn er ein Mindestmaß an Frucht und Frische beibehält, darf er auch trüb sein und mit leicht dissonanten Noten flirten.
- Ich freue mich auf weitere Experimente.
Pingback: Natürlicher Dienstag #126 - Montevertine - Chez MatzeChez Matze
Pingback: Frankenalltag - Chez MatzeChez Matze