Wenn am Freitag Nachmittag zum Feierabend die Pendlerzüge vollgestopft die Stadt verlassen, sind die Brüsseler wieder unter sich. Jedenfalls in den untouristischen Gegenden, und in eine solche nehme ich euch heute mit. “Die Brüsseler” sind übrigens mehrheitlich außerhalb Belgiens geboren, stammen aus 179 verschiedenen Ländern, und die größte ausländische Gruppe sind die, na, falsch, sind die Französinnen und Franzosen. Und zwar mit einem beachtlichen Vorsprung. Kommt also mit ins Stadtviertel Schaerbeek und schaut, was ich an diesem Abend so alles gemacht habe.
Pâtisserie Herman Van Dender
Als Tourist wird man sich wohl kaum in Stadtviertel deutlich außerhalb des Zentrums begeben. Genauso ging es mir bislang auch. In Brüssel war ich zwar schon oft, aber niemals bei Herman Van Dender. Auf diese Pâtisserie-Chocolaterie bin ich ehrlich gesagt erst vor ein paar Tagen aufmerksam geworden, als ich in der wunderschönen Buchhandlung Tropismes durch Pierre Marcolinis neues Buch über Bean to Bar-Chocolatiers in Belgien blätterte. Van Dender ist eigentlich schon lange am Start, war Pâtissier-Weltmeister und arbeitete nicht nur im familiengeführten Laden, sondern auch im Auftrag von Spitzenrestaurants.
Aber erst im Jahr 2013, als er gemeinsam mit seiner Frau Kakaoplantagen in der Côte d’Ivoire besuchte, machte es plötzlich klick. Danach wollten sie für ihre Produkte selbst den Kakao anbauen lassen, aussuchen, verarbeiten, zu Schokolade machen. Bean to Bar halt. Ein Jahr später gab es die erste kleine Werkstatt, und seit 2016 gibt es “Van Dender Chocolates”. Wer sich aus dem großen Sortiment etwas aussuchen möchte, es dauert gar nicht lange mit dem Bus vom Zentrum aus. Sechs Buslinien halten am Place Dailly praktisch direkt vor der Haustür des Ladens, unter anderem die 29 von De Brouckere und die 61 vom Gare du Nord.
Spitzenköche im Delhaize
Seitdem ich mir an meinem ersten Tag in meiner kleinen Wohnung/Loch in Berlin mit 19 Jahren eine Dose Cevapcici im Penny Markt gekauft hatte (die Freiheit!), habe ich eine gewisse Faszination für Fertiggerichte. So etwas gab es bei uns zu Hause wirklich nie, dem großen Garten sei Dank, und auch in Nürnberg esse ich ehrlich gesagt kaum welche. Jetzt aber fällt mein Blick beim Einkauf im Supermarkt Delaize Chazal auf diese Reihe von konzentrierten Antlitzen vor Kartoffelbrei und Hackbällchen. Wer verbirgt sich wohl hinter den Namen?
Nun, es sind Spitzenköche aus Belgien. Ich stelle vor: Peter Goossens, Hof van Cleve, 3 Sterne. Mit zwei Sternen sind gleich vier dabei: Bart Desmidt, Bartholomeus; Sergio Herman, The Jane; Lionel Rigolet, Comme Chez Soi; Yves Mattagne, Sea Grill. Einen Stern besitzt Arabelle Meirlaen mit ihrem gleichnamigen Restaurant. Und schließlich das Schlusslicht: Wout Bru, gar kein Stern mehr (er hatte mal zwei), dafür seit neuestem mit einer 25 Jahre jüngeren Freundin. Es ist immer gut, Ziele im Leben zu haben, fällt mir dazu ein. Ich entscheide mich aber für das fischige Gericht von Peter Goossens und bin gespannt, was so ein Drei-Sterne-Mann kann.
Der Markt zum Feierabend
Was ich bislang auch noch nie so richtig realisiert hatte: Es gibt in Brüssel wirklich viele Märkte, wahrscheinlich deutlich über 20, wenngleich oft nur einmal pro Woche. Gut, die riesigen Sonntagsmärkte am Gare du Midi und am ehemaligen Schlachthof von Anderlecht kannte ich natürlich, aber auch auf den zentralen Plätzen der Wohnviertel gibt es wirklich ausgesprochen nette Wochenmärkte. Denjenigen am Place du Châtelain in Ixelles (MI Nachmittag) hatte ich schon besucht, den am Place Flagey ganz in der Nähe auch (FR-SO). Jetzt komme ich auf dem Weg zum Bus zufällig am Markt auf dem Place des Chasseurs Ardennais vorbei. Ein extrem angenehmer Ort für den Feierabend. Es gibt vielleicht 20 Stände mit allem, was man braucht, und dazu noch ein paar mehr mit den Dingen, die man nicht braucht, die das Leben aber angenehmer machen. Foodtrucks, Weinbars, Orte zum Sitzen und Plaudern.
Am Rand des Markts fällt mir noch ein kleines Piaggio-Wägelchen in Rosa auf. Das ist das Nata Mobile der Pâtisserie Wooly. Obwohl sich der Name der wolligen Konditorei ganz und gar nicht danach anhört, handelt es sich um einen tollen Ort für portugiesische Spezialitäten. In ihrem Laden gibt es nicht nur Gebäcke, sondern auch Wein, Fisch, Öl, Bio-Seifen, alles Mögliche. Da muss ich auch mal hin, denke ich mir.
Konzert im Botanique
Das Bota, wie es in Brüssel genannt wird, ist einer der besten Orte für Konzerte in der Stadt. Ich spreche hier wohlgemerkt nicht vom Sinfonieorchester, sondern von der Popkultur. Das gilt umso mehr, als hier von der Orangerie bis hinunter zur im Keller gelegenen Witloof Bar verschieden große Räumlichkeiten zur Verfügung stehen, die auch unbekannteren Künstler/innen einen Auftritt vor ausverkauftem Haus ermöglichen.
Wir entscheiden uns für das Konzert von Tawsen (hier Ms Pop’s Konzertnachschau), das gleichzeitig sein erstes in diesem Rahmen und Schellack Release Party sein sollte. Der in Brüssel lebende Künstler, soweit die Infos vorher, ist 21 Jahre alt und macht eine Mischung aus Rap und Raï. Ich erwartete also eine stark Community-zentrierte Veranstaltung mit einem primär männlichen Publikum – aber nichts da, ganz anders. Das Publikum ist jung, schwerpunktmäßig Anfang 20, und so bunt gemischt wie Brüssel als Ganzes. Als Tawsen die Bühne betritt, schallt ihm kreischender Jubel entgegen, und die Begeisterung wird bis zum Schluss nicht nachlassen. Wirklich alle kennen seine Lieder und singen sie textsicher bis zum letzten I-Tüpfelchen mit.
Tawsen selbst macht dieser Empfang sichtlich gleichzeitig verlegen und glücklich, und das sieht man ihm auch die ganze Zeit an. “Wahnsinn, was mir hier passiert”, das kann man seinem Gesichtsausdruck entnehmen. Irgendwie, denke ich mir, ist es schön, bei einer Sache dabei zu sein, die wirklich das Gegenteil von abgehangen und routiniert ist.
Musikalisch gibt es dann mehr Anleihen an R’n’B als erwartet und weniger Rap, dazu ein paar Raï-Schnipsel, alles unterlegt von diesen luftigen Offbeat-Rhythmen, die aus dem Zouk stammen und die mittlerweile in der französischsprachigen Popmusik weit verbreitet sind. Denn darum handelt es sich zentral: um modern arrangierte Pop-Balladen. Am Ende des Konzerts sieht man nur strahlende Gesichter, und bevor alle auseinandergehen, bedankt sich der Künstler noch für die Unterstützung. Unter anderem beim Floristen Guillaume, der die beeindruckende Wand aus Rosenblüten gehäkelt hat.
Im Flur des Botanique dann eine Avenue of Flowers, mit der an besondere Konzerte erinnert wird, die hier stattgefunden haben. Hey, Lebensältere, sagt euch das noch was? dEUS? Suds and Soda? Auch schon wieder ein ganzes Weilchen her…
Im Âne Fou, Schaerbeek
Schaerbeek ist nicht gerade bekannt für seinen unglaublichen Reichtum an schönen Kneipen und Cafés, aber diese zählt sicher dazu: Im Âne Fou, das denselben Leuten wie das Restaurant Âne Vert zwei Häuser weiter gehört, hängt man gern beim Bier ab. Es gibt eine gemischte Käse- und Wurstplatte und Spaghetti Bolognese, aber deswegen kommen die ganzen Anwohner sicher nicht primär hierher. Vermutlich ist es einfach die relaxte und unangestrengte Atmosphäre, die ein Altersspektrum von 20 bis 60 anzieht.
Bier gibt es natürlich auch, und ich entscheide mich für das Papegaei von Adam Verstraete, das sich mittlerweile einen gewissen Kultstatus erworben hat. Tim Webb und Joe Stange loben in ihrem Good Beer Guide Belgium ausdrücklich, dass der Brauer, anstatt sein Portfolio auszuweiten, sich entschlossen hat, lieber sein einziges Bier weiter zu verfeinern. Ungefiltert, nicht pasteurisiert, nur Hopfendolden, Nachgärung in der Flasche – viele Dinge, die bekanntere belgische Biermarken nicht mehr vorweisen können.
Home, sweet home
Nach einem langen Feierabend freue ich mich dann wirklich auf die gemütliche Matratze. Allerdings bin ich auch weiterhin verblüfft wie ein Tawsen vorm mitsingenden Publikum, welch weirde Location wir uns da angemietet haben. Dies ist beispielsweise unser Hausflur.
Ein kleines Betthupferl noch von Van Dender, dann kann der Rest des Wochenendes eigentlich beginnen. Allerdings gestaltet sich jenes in Wirklichkeit ein bisschen anders als erhofft. Den Samstag verbringe ich nämlich mit Fieber im Bett, und auch am Sonntag kann ich nicht rausfahren zur Flandern-Rundfahrt, wie ich es eigentlich vorhatte. Mittlerweile, das könnt ihr euch beim Lesen dieser Zeilen sicher denken, bin ich aber wieder wohlauf. Vielleicht wollte mein Körper ja auch, dass ich die kaum vergangenen Erlebnisse erst einmal ein bisschen verarbeite und nicht schon wieder in neue Welten hineinstolpere…
Vielen Dank für diesen Bericht! Ich habe vor einer Ewigkeiten in dieser Stadt studiert und gehöre seitdem auch zu den Fans dieser Stadt 🙂 Ich habe damals auch in Schaerbeek in einer WG gewohnt. Es waren wichtige Erfahrungen, die ich da gemacht habe. Seitdem hat sich die Stadt ziemlich verändert. Ich war vor einem Monat dort und habe die Buchhandlung Tropismes in den Gallerien nicht mehr gefunden. Ist sie denn komplett weg?
Nein, die gibt es noch, ich war letzte Woche noch da. Ein wunderbarer Ort nach wie vor. Allerdings ist der Eingang nur noch in der “Querachse”, nicht in der Hauptpassage.
Danke schön! Beim nächsten Mal suche ich besser 😊