“Nein”, sage ich zu Frank, “so kann das nicht weitergehen.” Frank und ich kommen aus demselben Dorf und kennen uns schon seit der ersten Schulklasse. Jetzt – wir schreiben das Jahr 1992 – sind wir unterwegs in Italien. Und zwar mit dem Zug. “Interrail” heißt das Zauberwort, das uns mit einem einzigen Ticketheft für 600 Mark einen Monat lang freie Fahrt in ganz Europa ermöglicht. Viele haben das damals gemacht. Aber wir müssen uns jetzt etwas anderes überlegen, denn: So kann das ja nicht weitergehen.
Interrail als Leidensweg
Ich erinnere Frank an die erste Nacht in Verona. 200 Jungs in einem taghell erleuchteten und zehn Meter hohen Schlafsaal. Ein Kommen und Gehen und Lachen und Schnarchen die ganze Nacht. Wir haben kein Auge zugetan. Dann die zweite Nacht in diesem Provinznest. “Quattro Strade” hieß die Pension, wir im Erdgeschoss zur Straße raus. Nein, zu den vier Straßen. Wieder nichts mit Erholung. Dann in Florenz. Diesmal nur 16 Mann im Schlafsaal der Jugendherberge, aber unzählige Stechmücken, die sich im Gegensatz zu uns offenbar pudelwohl fühlten. Drei Tage sind wir erst unterwegs in Italien, aber wir sind kaputter als nach dem Abi. Damit muss jetzt Schluss sein.
Immerhin trage ich ja das formschöne Aldi-Zelt mit mir herum. Also raus aus den Städten, der Hitze, dem Lärm und hin zum Land, auf den Campingplatz. Schwimmen, Pizza essen, gutes Leben haben.
Auf unserer Karte ist der Lago di Bracciano eingezeichnet. Am Ufer des Sees gibt es einen Campingplatz, und vom Bahnhof von Bracciano aus sind wir in einer dreiviertel Stunde in Rom. Das ist doch ideal! Draußen die Camping-Datscha als Standquartier, und immer rein in die Ewige Stadt, wenn wir Lust dazu haben.
Endlich am Ziel
Was uns die Karte nicht verriet: Zwischen dem Bahnhof und dem Seeufer liegen viele viele Höhenmeter. Der See hatte sich nämlich erst gebildet, als eine riesige Magmakammer des ehemaligen Vulkans eingestürzt war. Deshalb also die steilen Ufer. Immerhin soll es unten auf dem Platz eine Pizzeria geben, und wir haben nichts weniger als Bärenhunger. Also zuckeln wir mit unseren vollgepackten Rucksäcken runter zum See. Wie prächtig er mit seinem blauen Wasser daliegt! Und wie schön, schattig und ruhig die Parzelle ist, auf der wir unser Zelt aufschlagen können. Wir sind wahrhaftig im Paradies angekommen…
Nur bedeuten italienische Essenszeiten auch auf dem Campingplatz, dass jetzt um vier Uhr nachmittags schlichtweg gar nichts geöffnet hat. Also warten wir mit knurrendem Magen, bis endlich die Pizzeria öffnen möge. Dann aber der nächste Schreck, und diesmal ein richtiger: Ein Mann teilt uns mit, dass die Pizzeria leider geschlossen sei. Die Saison ginge doch nur bis zum 31. August, und heute hätten wir den 1. September. “Ferragosto ist vorbei, Jungs!”
Oh nein! Aber was hilft’s. Kein Bus ist weit und breit zu sehen, noch nicht mal ein Taxi. Also schnaufen wir den Berg hoch bis zur Stadt. Vermutlich war es gar nicht so weit, aber in unserer Erinnerung gibt es da einen everesthohen Berg, eine sengende Sonne und uns wie kleine Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren, die vor lauter Schwäche kaum einen Meter weiter gehen können.
Endlich kommen wir an, setzen uns in die erstbeste Pizzeria und verspeisen eine Calzone, die derartig schmackhaft ist, wie man das nur als hungriger junger Mann auf Interrail in Italien empfinden kann. Glücklich. Und der See sieht noch prächtiger aus als vorher. “Mensch Matze”, lacht Frank mit vollem Mund, “du immer mit deinen Ideen! Jetzt müssen wir jeden Tag den Berg hoch. Besser, wir essen hier jedesmal auf Vorrat.” Gesagt, getan.
Die italienische Woche:
- Montag: Weinläden in Bari
- Dienstag: Pasta Senatore Cappelli
- Mittwoch: Ein Tag bei der “Slow Wine” in München
- Donnerstag: Hungrig auf Interrail
- Freitag: Ab wann gilt man als einheimisch?
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