Die durchschnittliche Verweilzeit eines Touristen in Tokio beträgt ein bis zwei Tage. In dieser Zeit gilt es das Nationalmuseum aufzusuchen, den Meiji-Schrein, dann wahlweise einmal durch Harajuku zu bummeln, zum Tsukiji-Fischmarkt zu gehen, den Asakusa-Tempel anzuschauen, zu einem Automatenrestaurant oder einem Maid Café in Akihabara und dann noch auf einen Ausguck, Rathausturm, ein Hochhaus in Roppongi oder vielleicht sogar auf den Skytree. Ach, und ein paar Luxusboutiquen auf der Ginza, den Park Shinjuku-gyoen und in die Foodabteilung eines Kaufhauses, eine Depachika. Da bleibt nicht viel Platz für Dinge außerhalb des beaten tracks. Genau so eine Runde folgt dafür hier, quer durch Asagaya, einen der wirklich interessanten westlichen Stadtteile von Tokio.
Natürlich, Tokio ist ein fast uferloser Großstadtkessel von 35 Millionen Einwohnern, in dem zu jeder Zeit irgendwo etwas los ist. Ein Tokioter Journalist, den ich vor ein paar Tagen traf, meinte dazu, “life’s convenient in Tokyo, that’s true – but it’s not healthy”. Für Menschen, die innerhalb einer halben Stunde mitten im Großstadtgetümmel sein wollen (die Bahnen fahren hier fast im Minutentakt), die aber auch die Atmosphäre einer kleineren Stadt mit netten, inhabergeführten Lädchen mögen, könnte Asagaya genau der richtige Standort sein.
Kaum hat man den Bahnsteig verlassen, steht man auch schon in einer kleinen Einkaufspassage, die baulich sehr nach 60er Jahren wirkt, dafür aber alles bietet, was man braucht. Und noch ein bisschen mehr: Die Produktauswahl im angeschlossenen Supermarkt ist nämlich sehr beachtlich. Wer möchte, kann sich sogar Anago kaufen (= Meeraal, wisst Ihr ja jetzt).
Direkt an den Bahnhof schließt sich ein kleines “Fressviertel” an mit geschätzt 200 verschiedenen Esslokalen, die meisten davon eher klein und gemütlich, dazu bierlastig – eher etwas fürs Abendessen also.
Ein paar dieser Lokale deuten in ihrem Angebot aber an, dass man sich hier nicht nur die verschiedenen japanischen und westlichen Essmöglichkeiten beschränkt. Es scheint nämlich in Asagaya eine nepalesische Community zu geben, und das ist doch mal eine Küche, die man nicht alle Tage bekommt. Okay, zu all der Auswahl, die es hier ohnehin gibt. Aber Tokio ist halt kein Ort, den man mit vollem Magen besuchen sollte.
Am Bahnhofsvorplatz beginnt unter dieser schönen Kuppel die Shotengai von Asagaya. Shotengais sind Einkaufsstraßen, Fußgängerzonen zumeist, oft sogar überdacht. Letzteres ist im japanischen Klima durchaus von Vorteil: Im Sommer ist es nämlich heiß und regnet oft, im Winter ist es dafür zwar sonnig, aber kalt. Der Halloween-Kürbis im Eingangsbereich deutet schon ein bisschen an, wie komplett verrückt die Japaner nach Halloween sind. Sie haben es quasi erfunden, Hokkaido-Kürbis inklusive. Es gibt keinen Laden ohne Halloween-Deko, wobei die Angestellten meist verkleidet sind. Heute lief in etlichen Geschäften “Gruselmusik”, U.S.-amerikanische Serienmusik der 60er, “The Munsters” und Konsorten.
Mitten in der Einkaufspassage hängt ein großes Schild, das darauf hinweist, dass man hier nicht mit dem Fahrrad fahren darf. Und wenn Ihr meint, darauf käme doch sowieso niemand, dann täuscht Ihr Euch. Es gibt neben Halloween nur noch zwei andere Gelegenheiten, bei denen sich die Japaner komplett unzurechnungsfähig verhalten: Einmal zur Zeit der Kirschblüte, wenn auch der älteste Greis beim Anblick eines blühenden Kirschbaums durch frische Blumenbeete trampelt. Und dann noch, richtig geraten, beim Fahrradfahren. Dabei wird nicht geklingelt, das wäre unhöflich. Lieber bügelt man auf dem Bürgersteig die Passanten um. Mir wäre vor ein paar Tagen eine Achtzigjährige beinahe mit vollem Schwung in die Waden gefahren. Schlimmeres verhinderte die dämpfende Einkaufstasche.
Ein ähnlich krasses, aber völlig anders gelagertes Phänomen in der weit entwickelten und entsprechend schnell gelangweilten japanischen Gesellschaft heißt Entertainment. Dies hier ist ein wahrhaft gesättigter Markt, und wer reüssieren möchte, muss das schnell und animierend tun. In den Foodabteilungen der Kaufhäuser gibt es Flächen für Hersteller, die eine Woche lang die Möglichkeit haben, sich zu präsentieren. Läuft es nicht gut genug, gehen sie wieder. Können sie das Publikum in den Bann ziehen, haben sie die Chance auf ein längeres Engagement. Ohnehin wird hier nicht Essen verkauft, sondern es geht um Food-Entertainment. Fantastisch für mich als Besucher, nicht gerade unanstrengend für die Betreiber. In der Asagaya-Shotengai gibt es ein ähnliches Konzept, nur eben noch kürzer: die One Day Shops. Heute Lackschüsseln, morgen Wellensittiche, übermorgen Unterröcke.
Was für mich das Leben in Japan so interessant macht, das ist auch das Nebeneinander von ultramodernen und ultratraditionellen Dingen. In diesem Geschäft könnt Ihr beispielsweise Stempel kaufen, und ohne eigenen Namensstempel geht eigentlich gar nichts in Japan.
Auf dem Bild oben seht Ihr einen Laden, den ich hier niemals erwartet hätte. Es handelt sich um den Antenna-Shop der Insel Kumejima, in tropischem Klima fast schon in Richtung Philippinen gelegen. Fast. Aber Strände gibt es hier, Wellenreiter, Bier unter Palmen und für mich zwei kleine Packungen Süßkartoffel-Cracker.
Schöne Stahlrahmen-Rennräder könnt Ihr übrigens in Tokio bewundern. Dieses hier von Alfredo Gios besitzt geschätzt Rahmenhöhe 37. Das ist einer der wenigen Nachteile für uns ausgedehnte Mitteleuropäer: Auch Hemdenärmel der Größe XXL enden weit vor dem Handknöchel, und in der U-Bahn besetzt man immer anderthalb Plätze.
Flugs aber zu den praktischen Dingen: Beim Mittagessen – immer noch in der Shotengai von Asagaya, und zwar bei einer Filiale von Isomaru Suisan – sehe ich diese braune Computermaus auf dem Tisch. Genau gesagt auf jedem Tisch. Man klingelt damit nach der Kellnerin, und sie kommt zuverlässig. Klingelt man nicht, muss sie nicht ständig durch die Tischreihen gehen. So gewinnen wir beide.
Ich hatte Euch ja schon bei meinem letzten Tokio-Besuch vom Essen in dieser Meeresfrüchte-Braterei berichtet. Deshalb jetzt keine Fotos von Krabben und Tintenfischen, dafür von diesem hier, das ich aus Spaß auf Abwechslung bestellt hatte: getrocknete Rochenflügel. So für sich sind das unheimlich zähe Dinger, aber wenn man auf dem Tischgrill die richtige Temperatur hat und ganz genau den Zeitpunkt zwischen Gummisohlen- und Holzkohlenmoment abpasst, werden die Flügel zu knusprigen Biersnacks.
Von links nach rechts: Hokkigai (Große Sachalin-Trogmuschel, Spisula sachalinensis), Sazae (Gehörnte Turbanschnecke, Turbo cornutus) und Hotate (Asiatische Jakobsmuschel, Patinopecten yessoensis). Unten und oben Pilze und Paprikaschoten, rechts unten der Rochenflügel in seiner optimalen Phase (finde ich).
Wenn es drei für die japanische Esskultur wahnsinnig wichtige Dinge gibt, über die ich bislang noch kein Wort verloren habe, dann sind das Sake, Reis und Tee. Jeder Mensch, der an den schönen Dingen des Lebens Gefallen findet, ist sich dessen bewusst, dass es in Japan den besten Grüntee der Welt gibt. Und zwar mit riesigem Abstand, denn ich weiß nicht, warum die Hausmischungen dieser Läden nicht exportiert werden oder aber im Verlauf des Flugzeugtransports zu Heu mutieren. Dieser sehr ansprechende Teeladen, in dem ich auch ein Schüsselchen erstanden habe, befindet sich einige Meter nordöstlich der Shotengai in einer weiteren netten Straße, die ins Nachbarviertel Koenji führt.
Und daneben ein Reisladen ganz traditioneller Art. Weshalb ich bislang nichts über Tee, Reis und Sake geschrieben habe, hat übrigens einen Grund: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Und das schreibe ich nicht aus falscher Bescheidenheit, sondern weil ich es weiß. Japan ist in diesen Dingen so ungeheuer detailreich, so ungeheuer kunstvoll und versiert, getragen von einer mehrere tausend Jahre alten Tradition, da geht nicht mehr als ein Kratzen an der Oberfläche.
Beim nahegelegenen Shinto-Tempel Shinmeigu komme ich unverhofft in den Genuss eines shintoistischen Hochzeitsrituals. Mit Sicherheit eine altehrwürdige, besser gestellte Familie.
Was hier in Japan übrigens prima zusammenpasst, das sind alte Traditionen und eine nach unseren Maßstäben eher unkonventionelle Haltung zur Moderne. Neben dem Tempelaltar steht nämlich gleich dieses Kästchen. Wenn man seine 200 Yen in den Schlitz geworden hat, kann man sich ein wunderbar geschmackvoll gefaltetes Papiertütchen herausholen, in dem sich – ein Glücksaufkleber fürs Handy befindet. Einen Glück wünschenden Scheißhaufen in Camouflage-Farben habe ich auch schon erstanden.
Und mit einem Ausblick, der typisch ist für die weniger hektischen Tokioter Stadtteile, verabschiede ich mich von Asagaya. Rechts auf dem Bild die oberirdischen Stromleitungen, die wegen der Erdbebengefahr die Weichbilder der von niedrigen Häusern gesäumten Straßen bestimmen. Links auf dem Bild ein Kakibaum, denn es ist gerade Kakizeit in Japan. Ich muss übrigens zugeben, dass ich bislang knapp wusste, was eine Kakifrucht überhaupt ist. Beim Besuch einer Obsthandlung konnte ich dann feststellen, dass es – wie eigentlich immer – eine ungeheuer große Variantenzahl gibt. Irgendwie kein Wunder, denn was musste ich bei Tante Wiki lesen? “Die seit über 2000 Jahren genutze Kaki gehört zu den ältesten Kulturpflanzen.” Ich sagte es ja schon, mehrere Leben wären erforderlich, um Japan in seinem ganzen Detailreichtum zu begreifen.
Wie hoch sind die Chancen, dass man ohne Japanischkenntnisse aus diesem Stadtteil zurück zum Hotel findet?
Meine Erfahrung ist: Drei von Vieren ist es zu peinlich, in rudimentärem Englisch zu antworten aber einen findet man immer.
Eigentlich braucht man ja noch nicht mal jemanden zu fragen. Der öffentliche Nahverkehr ist perfekt organisiert, alle Schilder, alle Ansagen auch in Englisch. Und Google Maps in Japan ist noch mal einen Zacken schärfer als in Europa. Da sind sogar die einzelnen U-Bahn-Ausgänge eingezeichnet.
Und wenn man wirklich nicht mehr weiterkann, einfach den Koban fragen. Das ist so eine Art Viertelspolizist, der wirklich jedes Hotel, jedes Geschäft und jedes Restaurant im Viertel kennt – auch das im achten Stock. Auf Karten ist so ein Koban immer mit einem schwarzen X eingezeichnet, denn er läuft nur manchmal frei herum. In der Regel hockt er in seinem Blechhäuschen und wartet (und spricht auch ausreichend Englisch).
Was ich damit sagen will: Ich glaube, man stellt sich Japan immer irgendwie komplizierter vor, als es tatsächlich ist. Wenn jemand in den Urlaub nach Thailand fliegt, fragt ja auch keiner, ob man da überhaupt zurechtkommt. Wahrscheinlich sind die Japaner selbst nicht ganz unschuldig an dieser Einschätzung, weil sie gern betonen, wie anders und speziell ihre Kultur doch ist…
Das hatte ich mir in der Tat schwieriger vorgestellt. Wahrscheinlich dachte ich, es wäre so wie mit der KVB fahren, nur auf Japanisch.
Gegrillten Trockenfisch gibt’s ja nicht nur in Japan – mir auch bekannt aus Thailand und Vietnam Tintenfisch, Thunfisch, Lachs … der Tintenfisch wird nach dem Grillen nochmals ordentlich geklopft oder die Mini-Mangel gedreht).
Und auf den richtigen Punkt gegart ist das auch ein wirklich super Snack, aber Rochenflügel war mir neu. Muss ich für getrockneten Rochenflügel jetzt nach Tokyo reisen?
Nein, den getrockneten und gegrillten Rochenflügel fand ich zwar interessant, aber meine Snack-Nummer-Eins wird er sicherlich nicht. A propos Tintenfisch in der Mangel: In Enoshima habe ich auch gesehen, wie Tintenfisch als Snack fast papierdünn geplättet wird. Schmeckt sehr zart und crispy, allerdings nicht mehr so stark nach Tintenfisch wie nur gegrillt (okay, mag mancher ja als Vorteil sehen 😉 ). Am selben Stand werden laut Foto auch Quallen auf dieselbe Weise zu einem platt-knusprigen Snack verarbeitet, aber leider war gerade keine Saison.
Qualle getrocknet, geplättet (und gegrillt?) – klingt sehr interessant. Qualle kannte ich bis dato nur getrocknet und dann wieder im Wasser ‘gequollen’, z.B. als ‘Salat’, bzw. Beilage.
Schade, dass nicht Saison ist – du hättest sicher nicht widerstanden und dann berichtet 😉
Das stimmt 🙂 . Das mit der Qualle fand ich ganz interessant, weil Qualle in Japan im Gegensatz zu China ja eher selten gegessen wird. Wenn ich mich recht erinnere, gab es aber letztens eine staatlich unterstützte Kampagne nach dem Motto “Esst mehr Quallen!”. Denn erstens gedeihen die Quallen in den Weltmeeren offenbar ein bisschen zu sehr, was die Fischerei in Schwierigkeiten bringt, und zweitens kosten Quallen nicht gerade viel. Mal abwarten, ob wir in Europa auch noch zu Quallenessern werden 😉
Noch eine Frage zu Qualle, aber in anderer Sache – welchen Nährwert haben die eigentlich 😉
Naja, wenig Kalorien, paar Schwermetalle, nehme ich an 😉