Wer Daniel Wagner vom Weingut Wagner-Stempel und seinen Spitzenriesling aus der Lage Siefersheimer Heerkretz als Geheimtipp bezeichnet, wird dafür möglicherweise den Titel “Nicht ganz so großer Kenner” einheimsen. Wer hingegen behauptet, sämtliche der Großen Gewächse aus der Heerkretz zu kennen und auch noch blind den richtigen Jahrgang zu erraten, der erhält mit ziemlicher Sicherheit den Titel “Übermäßiger Protzer”. Weil mir dieser Titel in meiner Sammlung noch fehlt, habe ich mich natürlich sehr gefreut, als mir Christoph Raffelt von Originalverkorkt verraten hat, dass er genau diese zwölf Jahrgänge zusammen mit Daniel Wagner im SchmidtZ&Ko in Berlin präsentieren möchte.
Weil Christoph mir mit seinem Post zuvorgekommen ist und er da wirklich keine Frage offen lässt, möchte ich Euch zunächst einmal empfehlen, genau auf diesen Button zu klicken: ⊗ Da werdet Ihr alles über die Lage und die Hintergründe dieser Probe erfahren.
Wenn Ihr jetzt wieder zurückgekommen sein solltet, werdet Ihr an dieser Stelle selbstverständlich nicht meine Gegenversion lesen können, sondern dasselbe in Grün: die Jahrgänge von “ganz nett” bis “fantastisch” in meiner komplett subjektiven Reihenfolge – und danach noch ein paar allgemeine Erkenntnisse oder vielmehr Aha-Effekte, denn davon gab es bei dieser großartigen Probe nicht wenige.
Damit Ihr Euch auch ein Bild von den wichtigsten Protagonisten machen könnt (falls Ihr sie nicht ohnehin schon kennen solltet), auf dem oberen Bild seht Ihr von links nach rechts Christoph Raffelt, der alle Flaschen aus seinem Privatkeller gezogen hatte, Daniel Wagner, der sich an alle Jahrgänge so wahnsinnig lebendig erinnern konnte, und Jan-Wilhelm Buhrmann, der als Sommelier die Weine ohne zu plempern tiptop in die Gläser bekommen hat.
Bevor es mit Platz 12 losgeht, sollte ich vielleicht noch einmal deutlich machen, dass es bei einem solchen Wein von einem solchen Winzer ehrlich gesagt keine Ausfälle gibt. Nur schmeckt halt jeder Jahrgang anders. Das ist eine ganz bewusste Philosophie bei Daniel Wagner, denn als jemand, der seine Reben liebt und der täglich im Weinberg unterwegs ist, möchte er in die Flasche genau das bringen, was der mehr oder weniger lange Sommer bereitgehalten hatte. Was die Eckdaten anbelangt, haben wir bei Wagner-Stempel mittlerweile Bio-Zertifizierung, komplette Spontangärung und für die Heerkretz ausschließlichen Holzfassausbau (Halbstück) im Keller. Auch das ist alles kein Zufall, sondern die Frucht eines Prozesses von Um-die-Ecke-Denken, Ausprobieren, Testen und Nachjustieren. Und so, wie ich Dabniel Wagner kennengelernt habe, wird dieser Prozess auch noch weitergehen, denn Langeweile oder Selbstgerechtigkeit gibt es hier nicht.
Dass so eine Philosophie und die entsprechende Umsetzung genau nach meinem Gusto sind, brauche ich wahrscheinlich gar nicht besonders zu betonen. Umso gespannter war ich darauf, was die Weine über die Jahrgänge der letzten Dekade zu erzählen hatten.
Sowohl die Originalflasche als auch die Konterflasche waren irgendwie fehlerhaft, weshalb es natürlich nicht so wahnsinnig überraschend ist, den Wein aus dem Jahrgang 2009 hier ganz hinten zu sehen. Ich glaube davon abgesehen aber auch, dass die 2009er Weine ganz allgemein kein gutes Alterungspotenzial besitzen. Ich finde sie häufig – unpräzise ausgedrückt – ein wenig sumpfig und ziemlich anstrengend. Es kann aber auch sein, dass sich größere Weine dieses Jahrgangs gerade in einer schlechten Phase befinden und nachher dann derartig strahlend emporsteigen, dass ich heftig Abbitte leisten muss.
Platz 11: 2005
Dies ist ebenfalls ein heißes Jahr, wobei die im September angeschickerten Trauben offenbar in der Oktobersonne wieder eingetrocknet sind. Während die Nase eine helle Zitronigkeit zeigt, wirkt an der Zungenspitze bereits das süße Glycerin. Der Wein ist enorm dicht und ein wenig bitter-schwer, wenngleich natürlich noch Längen von einem elsässischen Tokay-Pinot Gris desselben Jahrgangs entfernt.
Platz 10: 2003
Hier beginnen bereits die Weine, die ich für wirklich gut halte. Dies nur als kleiner Hinweis auf die Qualität des Dargebotenen. 2003 ist in puncto trockene Weißweine so ziemlich das Ungeeignetste, was ich mir vorstellen kann. Kastilische Sonnenhitze, Trauben mit wenig Säure und so viel Mostgewicht, dass sie bereits Anfang Oktober eingebracht werden mussten, um im Alkohol dann nicht auf 16 Umdrehungen zu kommen. Natürlich ist dieser Wein auch ein Kind seines Jahrgangs, staubig und wachsig in der Nase, deutlich gereift, im Mund dann aber immer noch gut präsent. Das Glycerin ist wieder da, logisch bei knapp 14 vol%, Salz und Lakritz, extrem viel Würze. Ein Wein, der gewaltig dasteht, aber relativ schnell müde macht.
Direkt auf den 2003er folgend, ist dies hier praktisch der Kontrapunkt: Hell und frisch in der Nase, genauso frisch, dafür aber auch leicht grün und sehr pflanzlich am Gaumen. Die meisten Teilnehmer finden den Wein gut, was natürlich auch daran liegt, dass er nach dem schweren 2003er enorm trinkig wirkt. Daniel Wagner gefällt der Wein hingegen überhaupt nicht wegen dieser grünen Note. In der Pfalz sei der Jahrgang großartig gewesen, aber nördlich von Westhofen würde man überall dieses Grün schmecken, vielleicht eine Nachwirkung vom Trockenstress aus dem Vorjahr.
Platz 8: 2011
Ein Wein, der polarisiert, und den ich selbst auch nicht ganz einordnen kann. Dies ist der erste Jahrgang, der komplett spontanvergoren wurde, wobei der Gärverlauf eher schwierig war. Daniel meint, die Trauben hätten fast zu perfekt ausgesehen, „wie im Supermarkt“. Was dabei herausgekommen ist, könnte man als „untypischer Riesling“ beschreiben. In der Nase komplett anders, Traminer-Savagnin-Grauburgunder, am Gaumen Wärme und Mineralik, dazu Zimtwürze, aber wenig Rieslinghaftes. Dadurch passt der Wein wesentlich besser zu einer breiteren Speisenpalette, wirkt aber nicht gerade pointiert oder spannend. Da hier aber längst nicht aller Tage Abend ist, sollten wir einfach noch ein paar Jährchen warten.
Platz 7: 2006
Ehrlich gesagt hatte ich von diesem Jahrgang nicht viel erwartet. In meinem Keller lagern noch einige 2006er, und zwischenzeitlich hatte ich schon sehr bedauert, dass dem so ist. Viel Regen, dünnschalige Trauben und eine Ernte in großer Eile. Der ganze Keller hätte vollgestanden mit Trauben, meint Daniel dazu, sie hätten nachts nicht geschlafen, um möglichst viel noch einbringen zu können. Für diese schwierigen Bedingungen ist der Wein erstaunlich gut geworden, sauber und fast etwas zu gefällig in seiner Art, auf jeden Fall eine angenehme Überraschung.
Der erste Jahrgang aus den alten Reben, die Daniel zwei Jahre zuvor in der ursprünglichen Heerkretz-Kernlage gekauft hatte. Und gleich zeigt sich die ganze Klasse der Lage. Extrem spät am 5. und 6. November mit 100° Oechsle geerntet, wurde seinerzeit noch mit Reinzuchthefe und Stahltankausbau gearbeitet, aber diese Elemente spielen nach so vielen Jahren ohnehin eine viel geringere Rolle als in der Jugendzeit des Weins. Die Nase wirkt schon deutlich gereift, petrolig-firnig. Am Gaumen ist der Wein dagegen wunderbar erhalten, die Säure ohnehin, aber auch die Noten von Aprikose, Minze und Gartenkräutern. Wenn ich nicht denken würde, dass der Wein vielleicht vor zwei Jahren noch schöner gewesen wäre, ich würde ihn noch höher einstufen.
Platz 5: 2013
Ein nicht gerade einfacher Jahrgang, mit 8,6 g Säure auf die Flasche gebracht. Falls ich es noch nicht erwähnt hatte, dieser Wein wird nie ge- oder entsäuert, in keinem Jahrgang. In der Nase jung und hefig, am Gaumen dementsprechend säurebetont, leicht muskatige Aromen und jetzt offenbar im Begriff, in eine stille Phase abzutauchen. Aber definitiv ein Wein, der sich gut entwickeln wird. Daniel fügt noch an, dass man in diesem Jahrgang wie bei 2010 kleine Erträge und eine schnelle Ernte haben musste.
Platz 4: 2008
Ein kühles Jahr, unkompliziert, und – so Daniel – mit einem zu hohen Ertrag. Als es dann schwierig wurde mit dem Mostgewicht, hat er zwei Parzellen ausgedünnt und hätte es eigentlich woanders schon vorher machen müssen. Natürlich, Selbstkritik ist eine gute Sache, aber der Wein ist ehrlich gesagt richtig gelungen – und zwar im Jahrgangsstil: sehr fein und elegant, etwas süßer und schlanker vielleicht als gewohnt, aber mit einer attraktiven rosa Grapefruitnote und gutem Alterungspotenzial.
Eine späte Blüte, ein kühles Jahr, dennoch ganz anders als 2008. Die Trauben schienen gar nicht reif werden zu wollen, der Ertrag wurde immer geringer, und innerhalb der Schalen konzentrierte sich alles. Geerntet wurde ohne Botrytis mit 20 hl Ertrag und 10,4 g Säure im gefüllten Wein. “Sowas kannscht doch net verkaufe!”, meinte der Mitarbeiter, aber er hätte wahrscheinlich nur für den Fall Recht gehabt, dass man den Wein in den ersten beiden Jahren hätte trinken müssen. Heute steht er nämlich prächtig da, die Säure stark, aber reif, viel typischer Kräuteranklang, eine genauso gehaltvolle wie knackige Version.
Platz 2: 2012
Ein entspannter Herbst, ein einfaches Jahr und ein Wein, der alle Anlagen mitbringt, mal ein richtig Großer und Souveräner zu werden. Im Moment schmeckt noch die Primärfrucht durch, Süße und Säure teilen sich am Gaumen in zwei Hälften, aber irgendwie wird alles seinen Platz finden, da bin ich mir sicher.
Platz 1: 2007
Nach dem 2006er-Jahrgang mit seinen Regen- und Fäulnisproblemen waren viele Winzer im Jahr 2007 ein wenig panisch. “Hauptsache in den Keller damit”, war die Devise. Auch bei Wagner-Stempel wollten sie nach dem kühlen und trockenen Herbst möglichst schnell lesen, bevor dann vielleicht doch wieder die große Schüttung herniederkommt. Aber Daniel besann sich dann eines besseren: “Die Lesemannschaft war schon da, als ich mich umentschieden habe und doch noch warten wollte.” Die Erntehelfer wurden wieder für eine Woche nach Hause geschickt, und so wurde Anfang November der Jahrgang mit der längsten Vegetationszeit überhaupt eingebracht – 150 Tage. Das schmeckt man dem Wein an, und zwar nicht wegen einer großen Konzentration oder einer klirrenden Spannung, sondern wegen seiner perfekten Lässigkeit. Die Quintessenz eines erhabenen, aber keineswegs unnahbaren Rieslings.
Erst einmal, und das habe ich ja weiter oben schon angesprochen, die Erkenntnis, dass sich dieser Wein aus dieser Lage bei diesem Winzer immer weiterentwickelt hat, dass eine einzige Vertikale dieser Art ungemein spannend und vielseitig sein kann. Ein großer Dank also an alle, die uns “dirty dozen” diese Probe ermöglicht haben.
Auch wenn ich hier in die Gefahr gerate, ein wenig plakativ und unzulässig verallgemeinernd zu werden, scheinen mir für einen großen trockenen Riesling die folgenden Komponenten entscheidend zu sein:
- Können und Sorgfalt des Winzers, und zwar sowohl im Weinberg als auch im Keller
- die Eignung der Lage
- die Beschränkung des Ertrags
- ein kühles und trockenes Jahr mit einer langen Vegetationszeit
- ein ebenso langsames Vergären im Keller
Dennoch verwischen sich nach etlichen Jahren die Bereitungstechniken, wenn sie nicht allzu extrem waren. Es ist erstaunlich, dass Reinzucht oder Sponti, Stahltank oder großes Holz, solche Sachen nach längerer Zeit gegenüber der Qualität der Trauben und der Charakteristik des Jahrgangs weit in den Hintergrund treten. Das Optimum auch großer trockener Rieslinge scheint mir dabei nach sieben bis höchstens 15 Jahren erreicht. Davor stehen die Elemente gern noch mal nebeneinander, danach spielt sich die tertiäre Ausgezehrtheit langsam in den Vordergrund – es ist ja auch keine Beerenauslese, die den Zucker als zusätzliches Element in sich trägt.
Nun könnt Ihr sagen, “toll, was für neue Erkenntnisse sollen denn das bitte sein!?” Stimmt, das sind natürlich weder neue noch sensationelle Erkenntnisse. Aber dafür lassen sie sich trefflich diskutieren nach der Probe. Denn auch wenn die “Arbeit” bereits Vergnügen bereitet hat, die SchmidtZ’schen Kochkünste beim großen Wagner-Stempel-Begleitmenü tun es ihr gleich. Unten seht Ihr den Gruß aus der Küche, andere Speisen haben sich aufgrund des gemütlichen Schummerlichts einer Fotografierbarkeit entzogen.
Für diejenigen, die jetzt Lunte gerochen haben, möchte ich dringend die Ortsweine von Daniel Wagner ans Herz legen, die die verschiedenen Gänge hervorragend begleiteten. Riesling, Silvaner und Weißburgunder aus Siefersheim, jeweils 15 € ab Hof und etwas früher trinkreif. Ich verrate Euch jetzt ein Geheimnis (“was für ein Geheimnis soll das denn bitteschön sein!?”): So sehr ich die Großen Gewächse schätze, diese Mittelklässler mache ich persönlich weitaus häufiger auf.