Das Anjou ist vielleicht meine Lieblings-Weinregion an der Loire. Nirgendwo sonst gibt es ein derartig vielfältiges Spektrum an Weinen. Nirgendwo sonst gibt es derartig viele individualistische, witzige, engagierte und auch schrullige Winzer. Aber, und das gebe ich gern zu, nirgendwo sonst gibt es auch derartig viel kompliziertes Zeug. Ich kann mich noch genau daran erinnern, als ich das erste Mal den „Coulée de Serrant“ probierte, den (das darf man glaube ich so sagen) „Kultwein“ von Nicolas Joly. Dunkelgelb bis leicht bräunlich in der Farbe, geschmacklich spontan eine Mischung aus Bimsstein wie im Bad meiner Großeltern, Waldhonig, trockenbraunen Zweigen, Wurzelgemüse, indischen Gewürzen und Aprikosenschale. „Aha“, sagte ich mir.
Kommt Ihr von Nantes, der letzten Station des dritten Teils dieser Serie, die Loire flussaufwärts gefahren, erreicht Ihr nach zwei Stunden Kurvelei schließlich Angers. Angers, die alte Hauptstadt des Anjou, bestand als „Juliomagus“ bereits zur Römerzeit, wobei die Spuren der Ansiedlungen an dieser Stelle noch viele weitere Jahrhunderte zurückreicht.
Neuere Spuren hingegen, die das Attribut „kompliziert“ nur unzureichend charakterisiert, könnt Ihr auf den schiefernen Abschlussplatten der Schlossmauern finden. Am 30.10.1940 hatte sich da beispielsweise ein Gustav Herrmann aus Nürnberg verewigt. Ehrlich gesagt war mir überhaupt nicht bewusst, wo unsere Vorväter überall ihr Unwesen getrieben haben. Ich weiß, das passt nicht unmittelbar in diesen Kontext hier, aber wie froh bin ich, mit Neugier auf andere Kulturen in fremde Länder gehen zu können, anstatt Teil einer Spirale des Verderbens zu werden, weil ich von irgendwelchen Kriegstreibern missbraucht worden bin. Manchmal tut es mir ganz gut, auf diese Weise zu realisieren, wie gut ich es jetzt habe und wie wertvoll solche Errungenschaften wie Frieden und Demokratie sind.
Aber wenden wir uns erfreulicher klingenden Ereignissen der Geschichte zu. Bereits im Mittelalter waren die Weine aus dem Anjou hoch angesehen, aber die Blütezeit folgte erst mit dem Erscheinen niederländischer Händler im 16. Jahrhundert. Die reich gewordenen Bewohner der Tuchmacherstädte verlangte es insbesondere nach süßem Wein, und die Händler sahen im Anjou ein großes Potenzial für dessen Bereitung. Im 19. Jahrhundert gab es wiederum durch den Aufschwung von Paris eine neue Hochzeit, bevor die Reblausepidemie dem Massenerfolg ein jähes Ende setzte. Im weiteren Verlauf wurden zwar im Anjou verschiedenste Rebsorten und Stile ausprobiert, was den britischen Weinjournalisten Tom Stevenson wegen der großen Vielfalt dazu veranlasst, vom Anjou als dem „Mikrokosmos der Loire“ zu sprechen. Dennoch waren es auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin die Süßweine, die für die Reputation der Region sorgten.
Das mag theoretisch zwar immer noch so sein, aber die Nachfrage nach trockenen Weinen als Speisenbegleiter ist seit den 80er Jahren bei weitem höher. Vielleicht eine Frage der Geschmacksmode, vielleicht aber auch eine Frage veränderter sozialer Gepflogenheiten, denn die süßen Weine waren immer stärker mit vielgängigen Menüfolgen und geselligen Abenden am Kamin verbunden. Und so kommt es, dass die erfolgreicheren Weine des Anjou in den letzten beiden Jahrzehnten eigentlich die trockenen waren, wobei die großen Weißweine des Anjou eigentlich die trockenen Versionen der süßen sind: gern mit Botrytis geerntet, dicht, komplex, sehr lagerfähig.
Um Euch erst einmal einen Überblick über diese vielfältige Region zu geben: Direkt an der Loire, nur gute 20 Minuten von Angers entfernt, findet Ihr mit dem Ort und der Appellation Savennières die vielleicht bekannteste Bezeichnung für trockene Weißweine – alle aus Chenin. In dieser eher flachen Gegend kann man die Schieferhänge von Savennières fast schon als steil bezeichnen. Die Weine von hier sind alkoholstark, dunkelmineralisch und ziemlich ungeeignet für Frischfrucht-Weintrinker. Der bekannteste Name ist sicherlich Nicolas Joly, zu dem ich gleich noch kommen werde. Sehr gelungene Weine habe ich auch probiert von Eric Morgat, von Damien Laureau, vom Château Pierre Bise und – meine Empfehlung im mittelpreisigen Bereich – von der Domaine aux Moines. Winzerin Tessa Laroche hatte uns bei der Probe eine beeindruckende Auswahl an Jahrgängen vorgestellt (sie macht auch nur einen einzigen trockenen Wein pro Jahr), was immer eine sehr lehrreiche und lohnende Sache ist.
Südlich von Savennières kommt Ihr hinter der Brücke zunächst einmal auf die Ile de Béhuard. Steigt doch bitte aus und schlendert ein wenig durch den autofreien Ort. Hier gab es vor ein paar Jahren einmal ein innovatives Sternerestaurant, das sich aber offensichtlich nicht gehalten hat. Nett in einem Café sitzen und im teils trockenen Flussbett der Loire nach farbigen Kieseln suchen, hat aber auch etwas für sich.
Weiter im Hügelland südlich der Loire werdet Ihr Euch erst einmal verirren. Es gibt viele kleine Dörfer, in denen die Zeit stehen geblieben scheint, viele kleine Sträßchen und viele kleine Wein-Appellationen, die Rot und Rosé und Weiß, süß und halbtrocken und ganz trocken hervorbringen. „Coteaux de l’Aubance“ und „Coteaux du Layon“ stehen im Allgemeinen für etwas leichtere Süßweine, „Quarts-de-Chaume“ und „Bonnezeaux“ für süße Spitzenprodukte. Überdeckt werden diese lokale Appellationen von den größerflächigen „Anjou“ und „Anjou Villages“, die meist für trockene Weine gelten, auch für leicht ruppige, schiefergeprägte Rote aus den Cabernetsorten, aus Gamay und aus Grolleau. Unter den Bezeichnungen „Rosé d’Anjou“ und „Cabernet d’Anjou“ werden wiederum halbtrockene Roséweine erzeugt, während die trockenen in der übergreifenden Appellation „Rosé de Loire“ geführt werden. Kompliziert, ich sagte es ja bereits.
Anstatt jetzt alle Appellationen, Winzer und Weine durchzuhecheln, möchte ich Euch lieber mit zwei Protagonisten näher bekannt machen. Beide haben die Entwicklung des Qualitätsweinbaus im Anjou in den letzten Jahrzehnten nachhaltig geprägt, und beide sind auf unterschiedliche Weise enorm einflussreiche Vertreter der ganz strikten Biodynamik in Weinberg und Keller: Nicolas Joly und Mark Angeli. Nicolas Joly besitzt die wahrscheinlich beste Weinlage an der Loire, den „Coulée de Serrant“ im Alleinbesitz, und Mark Angeli nennt die Spitzenlagen in der Appellation „Bonnezeaux“ sein Eigen.
Nicolas Joly ist ganz ohne Zweifel jemand, der polarisiert, als Person wie als Winzer. Dabei sah es zu Beginn seiner Karriere überhaupt nicht danach aus. Joly hatte in den USA studiert und war – man mag es heute gar nicht mehr glauben – als junger Investmentbänker in New York und London tätig, bevor ihn der Ruf der Familie 1977 aufs elterliche Weingut zurückführte. Dort ließ er sich insbesondere von den Ideen eines der „Urväter“ des biodynamischen Weinbaus, François Bouchet, inspirieren und setzte diese mit voller Konsequenz ab 1981 in die Praxis um. Seitdem wird er fast mehr als öffentliche Person denn als Winzer wahrgenommen: Er verfasste ein wichtiges Buch über den biodynamischen Anbau (als „Beseelter Wein“ auch auf Deutsch erschienen), ist als Vortragender auf vielen Veranstaltungen gefragt und gründete schließlich die Gruppe „Renaissance des Appellations“ mit einer eigenen Charta, der mittlerweile eine Vielzahl französischer wie internationaler Spitzenwinzer der meist unkonventionellen Art angehören.
Mark Angeli verfasste zwar auch eine Streitschrift, „La Colère des Raisins“ (deren stolzer Besitzer ich bin, weil er sie mir bei unserem Weingutsbesuch in die Hand gedrückt hatte), und er ist natürlich auch einer der wichtigsten Protagonisten bei der „Renaissance des Appellations“, aber seine Philosophie geht deutlich mehr ins Praktische. Mark Angeli geht es dabei natürlich ebenso um die Harmonie mit der Natur, um das Einbeziehen der natürlichen Rhythmen. Es geht ihm aber auch um den Wert manueller Arbeit. „Heutzutage“, sagt er, „zählt es in der Gesellschaft kaum noch, wenn jemand sich große Mühe gibt beim manuellen Arbeiten, das Handwerk im wortwörtlichen Sinne hat fast ausgedient. Ich sehe mich als Paysan, als Bauer, und dies ist keine Domaine oder ein Château, sondern eine Ferme, ein Bauernhof. Das hindert mich aber nicht daran, eine Praktikantin aus Japan zu beschäftigen. Wenn man ähnliche Grundideen hat, passen die Menschen überall auf der Welt zusammen.“
Diese Kombination aus echter Bodenständigkeit, weiten Visionen, Weltoffenheit und Engagement wirkt ganz offenbar anziehend. Ähnlich wie bei Gérard Gauby im Roussillon kann man mittlerweile von einer „Mark Angeli-Schule“ sprechen. Das liegt daran, dass Mark seit seinem Weingutskauf im Jahr 1990 (er stammt ursprünglich aus Korsika und kam über seinen Beruf als Konstrukteur von Steinhäusern ins Anjou) viele junge und weniger junge, aber immer engagierte Winzerlehrlinge ausbildete. Cyril Le Moing hat hier gelernt, Sylvain Martinez, Stéphane Bernaudeau (hier eine Videoverkostung des roten „Les Vrilles“ mit der charmanten Aurélia Filion), mit Didier Chaffardon und Richard Leroy arbeitet Mark kontinuierlich zusammen (und gemeinsam sind sie sozusagen aus der AOC ausgetreten).
Während manche Kritiker den streitbaren Herren Joly und Angeli gern einmal eine übermäßige Dickköpfigkeit und Rechthaberei vorwerfen, scheinen sie beide in Wirklichkeit gut zu wissen, wie man auch loslassen kann – etwas, das vielen einflussreichen Selbständigen schwer fällt. Auf den Etiketten seiner Weine heißt es mittlerweile ganz offiziell „Mark & Martial Angeli“, denn sein Sohn ist mit in die Weingutsverantwortung eingestiegen. Und bei Nicolas Joly ist es schon seit einer Weile seine Tochter Virginie (die übrigens ausgezeichnet Deutsch spricht aus ihrer Zeit in München), die die Fäden der Weinbereitung fest in der Hand hält.
A propos Wein, schließlich soll es hier ja nicht nur um Personality-Stories gehen: Ich habe von beiden Winzer die Weine jung, gut abgelagert und deutlich gereift probiert. Mein Fazit Nummer Eins dabei ist, dass Chenin ähnlich wie Riesling prinzipiell in allen Altersstufen getrunken werden kann. Die Weine von Nicolas Joly schmeckten ganz jung beispielsweise ganz erstaunlich straff und animierend, der „Fouchardes“ von Mark Angeli im Alter von zwei Jahren ganz köstlich zu Fischigem. Ähnlich wie bei weißem Hermitage würde ich deshalb vorschlagen, dass Ihr die großen Weißen von der Loire am besten in beiden Stadien einmal probiert, um Eure persönlichen Präferenzen herauszufinden. Die Weine beider Winzer starten preismäßig bei etwa 20 € und gehen dann im Falle von Nicolas Joly beim „Coulée de Serrant“ bis zu 46 € (ab Hof, ist im Handel oft erheblich teurer) und bei Mark Angeli bei den „Vieilles Vignes des Blanderies“ bis zu 35 €. Wie das bei naturnahen und unkonventionellen Winzern so ist, schmeckt jeder Jahrgang anders. Mir hatten bei beiden Winzern die 2007er sehr gut gefallen (wenig Restzucker, keine Oxidation, keine Korkprobleme – war alles schon einmal anders), 2008 und 2010 sind auch sehr zu empfehlen. Das sind alles wahrhaft große, manchmal etwas schwierige, aber immer faszinierende Weine.
Wenn Ihr Euch mit der „Schule Angeli“ ein wenig angefreundet habt, könnt Ihr auch von den ehemaligen Schülern und Mitstreitern Weißweine probieren, die ohne Übertreibung zu den größten der Welt gehören können. Stéphane Bernaudeau („Les Nourrissons“) und Richard Leroy („Les Noëls de Montbenault“ und „Les Rouliers“) bauen eigentlich immer konsequent trocken aus, aber die Weine benötigen alle ein paar Jahre Reifezeit. Didier Chaffardon („Isidore“) geht dafür ein bisschen stärker in die vin naturel-Richtung.
Das ganze Spektrum in biodynamisch und preisgünstig, dafür logischerweise nicht ganz auf dem Niveau der Granden, präsentieren die sehr sympathischen Joël und Christine Ménard von der Domaine des Sablonnettes. Joël hatte dementsprechend eine riesige Flaschenbatterie zum Probieren aufgebaut, als wir diesmal angemeldet (ja, das hat durchaus Vorteile) zu dem inmitten von Weinfeldern gelegenen Hof gekommen waren. Die Roten sind robust-rustikale Gesellen zum Zechen (6-8 €), die trockenen Weißen eignen sich sehr gut als Speisenbegleitung, während die Süßweine wirklich sehr fein sind. Mir hatten besonders die leichteren Versionen aus den Coteaux du Layon gefallen, die eben keine konzentrierten Süßehämmer sind, sondern ihren Zucker fast zart und fein in sich tragen.
Wer Spaß an vins naturels ohne Schwefel und sonstige Zusatzstoffe hat, die auch wirklich komplett handwerklich hergestellt werden, hat im Anjou eine gute Auswahl. Ich weiß nach wie vor nicht, ob ich mir solche Weine, die eigentlich für den Konsum vor Ort gedacht sind, bei einem Händler kaufen würde, dessen Lager ich nicht kenne. Bei einer Weinrundreise solltet Ihr aber durchaus die Werke von Agnès und René Mosse, von Olivier Cousin (hier ein Review von Marco auf betterwine), von Noëlla Morantin probieren. Das könnt Ihr entweder auf den Weingütern machen oder bei der großen Messe für derartige Weine, „La Dive Bouteille“, die jedes Jahr Ende Januar/Anfang Februar stattfindet.
Vor unangenehmen wie angenehmen Überraschungen ist man in der Weinwelt des Anjou allerdings nie sicher. Die unangenehmen reichen dabei von technisch kaputtgespritztem Zeug aus Überertrag bis hin zu unzureichend vinifizierten, wahlweise grünen oder oxidierten Produkten wahrer Experten. Eine komplett angenehme Überraschung kann man allerdings auch dort erleben, wo man niemals damit gerechnet hätte (gut, das ist ja die Quintessenz einer Überraschung). Roger Michel vom „Cave des Oblats“ bot mir vor einiger Zeit einen Wein an, über dessen Scheußlichkeit wir uns gerade noch ereifert hatten: einen halbtrockenen Rosé d’Anjou. Im Glas war dann aber ein ungemein feiner, leichter, knackig säurebetonter und gleichzeitig mit angenehmer Süße ausgestatteter Wein, der Freunden des Mosel-Kabinetts sicher auch gefallen hätte. Es handelte sich um den Rosé d’Anjou der Domaine Leduc-Frouin, Kostenpunkt bei ihm im Laden: 5,90 €.
Und damit verlassen wir die irgendwie immer leicht verträumt wirkende Hügellandschaft des Anjou und gehen weiter nach Osten, flussaufwärts. Innerhalb weniger Kilometer ändert sich vor allem das Gestein komplett: statt der dunklen, blauen und roten Schiefer des Anjou gibt es nun ein gelbliches, porös-körniges Gestein, den Tuff. Die Orte wirken wieder etwas herrschaftlicher, man rückt näher an den Fluss, und in den Natursteinkellern, die ins weiche Gestein gekratzt wurden, reifen Schaumweine genauso gut wie trockene Rote und Weiße. Die Rebsorten- und Appellationsvielfalt hat hier auch ein Ende. Die Stillweine heißen entweder „Saumur“ (in Rot und besonders in Weiß) oder „Saumur-Champigny“ (nur in Rot). Macht das den Überblick leichter und den Rest des Artikels kürzer? Ja, sicher. Relativ gesehen.
Die ungekrönten Könige von Saumur sind ohne jeden Zweifel die Brüder Foucault, das Weingut heißt „Clos Rougeard“ (dazu hier der sehr nachdrücklich empfohlene Artikel der Kollegen von Drunkenmonday, der zeigt, dass ich mit meiner Einschätzung keineswegs allein stehe). Jean-Louis kennt man hier nur als „Charly“ und seinen jüngeren Bruder Bernard als „Nady“. Ihr Ansatz ist dabei auf den ersten Blick ein komplett anderer als beispielsweise bei Nicolas Joly. Die Brüder Foucault treten öffentlich so gut wie nie in Erscheinung, und wer ihre Weine vor Ort probieren und den offenbar eindrucksvoll urtümlichen Tuffkeller besichtigen möchte, muss mindestens über die Verbindungen eines Christoph Raffelt verfügen. Am Hoftor steht noch nicht einmal ein Name, und einzig an der Hausnummer 15 kann man erkennen, wer hier residiert. Die Foucaults gelten unter vielen Weinfreunden praktisch als die Urväter der Biodynamik in der Region. Die Brüder zucken bei so etwas nur die Schultern. „Nun“, meinte Nady einmal in einem seiner seltenen Interviews, „unser Vater hat damit im Jahr 1969 begonnen, und wir haben seitdem einfach nie etwas geändert.“ Auch das mag ein Geheimnis großer Weine sein.
Drei Rotweine (alles reine Cabernet Francs) und einen Weißwein gibt es hier, und die Preise im Handel beginnen bei etwa 35 € für den „einfachen“ Saumur-Champigny. Aber natürlich machen die Foucaults keine einfachen Weine. Wie gesagt, biodynamisches Arbeiten draußen, geringe Erträge, Spontangärung und dann ein zwischen 18 und 30 Monate währender Ausbau in hochwertigsten Barriques in ihrem Keller, der eher einer Höhle ähnelt mit seinen konstant 12°C das ganze Jahr über. Der zweite Rote stammt aus der Parzelle „Les Poyeux“, die einen sandigeren Untergrund hat, und schließlich gibt es noch „Le Bourg“ aus der gleichnamigen, kalkreichen Parzelle, ein dichter und über lange Jahre verschlossener Wein. Auf demselben Qualitätslevel befindet sich der weiße „Brézé“.
Alle Weine kann man jung antrinken, bevor sie dann in eine Schlafphase abtauchen, in der sie sich oftmals gar nicht so überzeugend präsentieren. Ein 2007er Poyeux, den ich im Winter probierte, zeigte sich beispielsweise genervt von der zu frühzeitigen Öffnung. Wer warten kann, wird aber belohnt. Man sollte mit Bewertungen vorsichtig sein, aber die 2010er dürften zu den allergrößten Weinen gehören, die hier jemals produziert wurden. Legendär und Teil des Mythos ist allerdings der “Bourg” 1989, der als Pirat in einer großen Vergleichsprobe sämtliche Stars des Bordelais hinter sich ließ. Ich finde, dass die Clos Rougeard-Weine zwischen einem sehr natürlichen, kräftigen Burgunder und einem sehr feinen Saint-Emilion mit Spuren flüchtiger Säure changieren – eine Kombination, die es heutzutage ansonsten gar nicht mehr gibt.
Einer, der sich seit ein paar Jahren aufmacht, dereinst ähnliche Höhen zu erreichen, ist Thierry Germain auf seiner Domaine des Roches Neuves. Ich wusste, bevor wir ihn auf seinem Gut in Varrains besuchten, dass er ebenfalls strikt biodynamisch arbeitet und aus einer nicht unvermögenden bordelaiser Familie stammt. Wir hatten zufällig Thierrys Bruder Philippe am Tag zuvor im Hyper-U von Mûrs-Erigné getroffen, als er dort die Weine seines eigenen Weinguts „La Roulerie“ vorstellte und seine Frau gerade dabei war, die Kinder wieder einzufangen. Erstaunlicherweise ist die Familie Germain Schritt für Schritt in die Loire-Region gekommen. Erst kam Thierry, dann übernahm Vater Bernard im Jahr 1996 das Château de Fesles, und schließlich folgte mit Philippe auch der Jüngste nach. Die Germains zeigten übrigens noch nie große Berührungsängste mit der Grande Distribution, denn unter dem Namen „Thierry Germain Sélection“ bieten sie auch anständige Négociant-Weine für die Supermärkte an.
Am nächsten Tag standen wir also vor Thierry, im Hof sein Land Rover geparkt, das stylische Hemd weit aufgeknöpft, ein Amulett um den Hals, Sonnenbrille im Haar, exakt frisierter Drei-Tage-Bart. Und so ein Sonnyboy, den man sich eher im Sportwagen an der Côte d’Azur vorstellen konnte, sollte dieselbe mühevolle und dreckige Handarbeit machen wie ein Mark Angeli? Nun, Thierry hat im Weinberg mit Michel Chevret und seinem Team die Leute fürs Grobe. 22 ha sind ohne ausreichendes Personal biodynamisch ansonsten gar nicht zu bewirtschaften. „Wenn man es denn ernst meint“, findet Thierry, und er meint es ernst. Ob er selbst die biodynamische Philosophie komplett verinnerlicht habe? „Naja“, entgegnet er darauf, „wie man’s nimmt. Ich bin kein Anhänger des Steiner’schen Gedankengebäudes, aber wenn sich man im Weinberg exakt an die Vorgaben hält, gedeihen die Pflanzen wirklich besser, und die Weine werden es auch. Das ist für mich zwar rätselhaft, aber definitiv kein Hokuspokus. Pontet-Canet, künftig Latour und Margaux, das ist das Gegenteil von Weinromantik, die würden sicher nicht biodynamisch arbeiten, wenn die Versuche ihnen nicht die besseren Ergebnisse geliefert hätten.“
Der Weiße, der Schaumwein und die beiden „kleineren“ Roten von Thierry sind dann auch keine schlechten Weine, aber die wahren Höhen kommen mit den großen Roten. Über Jahre war „La Marginale“ (25 €) die Spitzencuvée, und Jahr für Jahr lernte Thierry bei der Vinifikation dazu, verwendete immer weniger neues Holz und hat jetzt ein elegantes Paradepferd im Stall. Als nächstes kam der „Franc de Pied“ (29 €) von einer Parzelle mit wurzelechten Cabernet Franc-Reben. Hier kommt der leicht vegetale Touch deutlich stärker zum Vorschein als bei der Marginale. Viele Weintrinker mag das ein wenig stören, aber wurzelechte Reben können dafür dieses einmalig transparent Intensive hervorbringen. Schließlich gibt es jetzt ganz neu „Les Mémoires“ von hundertjährigen Reben. Und seit zwei Jahren den „Clos Romans“ in Weiß. Das sind großartige Weine, die wahrscheinlich erst mit den kommenden Jahrgängen ihren Zenit erreichen werden. Wo wir uns preislich hier bewegen werden? „Beim Weißen unter 50 €, beim Roten vermutlich darüber.“ Lassen wir uns überraschen.
Um die Familiengeschichten im Saumurois komplett zu machen (aber nicht nur deshalb), sei hier noch die „Domaine du Collier“ genannt, die – nein, nicht von dem dritten Germain-Bruder, sondern von Antoine, dem Sohn von Charly Foucault (Clos Rougeard) betrieben wird. Man muss ihn aber nicht ständig darauf ansprechen, denn seine Weine stehen sehr gut für sich allein. Seit 1999 betreibt er mit seiner Partnerin Caroline Boireau das kleine Weingut in Chacé, nachdem ihm irgendwie klar wurde, dass er im Clos Rougeard auf absehbare Zeit nicht das Sagen haben würde. Seine Weine und auch sein unterirdischer Keller sind den Vorbildern aber dennoch nicht unähnlich. Mit dem weißen Saumur „La Charpentrie“ scheint er im Jahrgang 2010 den vorläufigen Höhepunkt erreicht zu haben. Die Reben sind über 100 Jahre alt, und der Wein wirkt gleich von Anfang an wertvoll. Preislich sind wir hier allerdings auch bei knapp 40 € angelangt.
Dass es in Anjou und Saumurois Spitzenweine von Weltrang gibt, und zwar in Rot wie in Weiß, sollte ich jetzt eigentlich zur Genüge betont haben. Was aber, wenn Ihr lieber 15 € oder weniger für einen Wein ausgeben wollt, der dennoch mit dem entsprechenden Esprit bereitet wurde und auch noch gut schmeckt? Dann würde ich Euch den „einfachen“ Weißen der Domaine Guiberteau empfehlen (14 € ab Hof), über den ich hier schon einmal geschrieben hatte. Und den Roten vom Château de Villeneuve (9 €) oder deren Cuvée Vieilles Vignes (13 €). Und die Weine der Domaine de Saint-Just (rot und weiß für je 8,50 €). Und die trotz des ernsthaft biodynamischen Anbaus sehr spaßigen halbtrockenen Schaumweine von La Tour Grise „Ze Bulle Zéro Pointé“ in Weiß oder Rosé (7-8 €).
Bei letzteren sind wir dort angekommen, wo Ihr mich eigentlich schon längst erwartet hättet. Denn Saumur, das bedeutet für Weinfreunde außerhalb Frankreichs in aller Regel weißen Sprudel. Die Höhlenkeller sind genauso gut für eine jahrelange kühle Lagerung geeignet wie die Kreidekeller der Champagne. Chenin vermag ebenso wie Chardonnay langlebige, aber auch ausreichend säurereiche Basisweine zu liefern. Fahrt Ihr am südlichen Loireufer bei Saumur herum, werdet Ihr überall große Schilder finden, die zur Schaumweinverkostung beim Produzenten einladen. Und dennoch, das sage ich Euch ganz ehrlich und ganz subjektiv: Ich habe noch keinen Spitzensprudler von der Loire getrunken. Die trockenen Schaumweine von Thierry Germain (15 €) und La Tour Grise (11 €) sind sehr schöne Speisenbegleiter zu Tisch, die weit verbreiteten Cuvées von Bouvet-Ladoubay zumindest anständig. Aber eine echte Empfehlung gibt’s dafür von mir nicht. Außer am unteren Ende des Preissegments: Bessere trockene Schaumweine für 5 € als diejenigen von der Loire werdet Ihr schwerlich finden. Wer also eine Hochzeit ausrichtet und den Gästen keinen Rotkäppchen-Sekt zumuten möchte, kann sich hier bei den Genossenschaften den Kofferraum volladen.
Und so machen wir uns mit bereits tief hängendem Automobil auf gen Osten, in die angrenzende Touraine. Zum allerersten Mal musste ich im Fahrzeugschein nachschauen, was denn an Beladung so zugelassen ist bei meinem Renault. Naja, ein Kistchen von Huet wird schon noch reinpassen…
P.S. Wenn Ihr partout nicht wegfahren wollt, auf einen gemischten Karton interessanter Loire-Weine aber nicht verzichten möchtet, schaut doch mal bei Bernd Kreis oder Martin Kössler in die Online-Shops. So ein bis zwei Weine habe ich in meinem Leben dort schon gekauft. Die Weine von Richard Leroy gibt es dafür bei Viniculture in Berlin – und sonst nirgends in Deutschland, soweit ich weiß.
- Hier geht es zu Teil I (Allgemeines)
- Hier geht es zu Teil II (Rebsorten)
- Hier geht es zu Teil III (Atlantische Loire)
- Hier geht es zu Teil IV (Anjou und Saumur)
- Hier geht es zu Teil V (Touraine)
- Hier geht es zu Teil VI (Sancerre und Auvergne)
Zaghafte Versuche Einzellagen einzutragen: http://weinlagen-info.de/#gemeinde_id=1697 oder hier: http://weinlagen-info.de/#bereich_id=134
Kennst du gute Karten?
So halb. Im Atlas von Benoît France sind die Karten sehr unterschiedlich. Die Gemeinden sind immer schön abgegrenzt, dafür kann man das super verwenden (also z.B. gehören die Weinfelder in Savennières, die Du nicht eingerahmt hast, natürlich auch zur Appellation, kannst Du hier sehen: http://www.musee-sommellerie.com/images/site/z_vins/savennieres/savennieres_carte_00.jpg). Aber parzellengenau ist das fast nie.
Richard Kelley hat dafür die Parzellen extra aufgezeichnet, die er für besonders gut hält; einmal für Savennières (http://www.richardkelley.co.uk/Savennieresmap.pdf) und einmal für Chinon (http://www.richardkelley.co.uk/chinon_map.htm). Das hilft sehr gut weiter, wie ich finde. Leider hat er das für die anderen bekannteren Appellationen nicht gemacht.
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