Am Donnerstag war ich in der entzückend zentral gelegenen Weinhalle im Nürnberger Nordostpark zu Gast. Anlass war das 30-jährige Bestehen der Weinhandlung K&U. Martin Kössler hatte sich nicht lumpen lassen und zum Festakt drei Stargäste mit aufs Podium geholt: Billy Wagner, Sommelier in der Weinbar Rutz in Berlin, Stuart Piggott, Deutschlands einziger Weinautor, den man auch außerhalb von Fachkreisen kennt, und schließlich Jim Clenenden, kalifornischer Winzer mit Mission (“Au Bon Climat”), der lustigerweise auch sein 30-jähriges “Dienstjubiläum” feiern konnte.
Wenn ich den Abend so Revue passieren lasse, gäbe es dreieinhalb Möglichkeiten, wie ich diesen Post mit Inhalt füllen könnte: 1. mit Weinbeschreibungen, denn auf dem Podium wurde nicht nur diskutiert, sondern das Publikum auch mit wegweisenden Weinen ausgestattet; 2. mit einer Zusammenfassung dessen, was die Stargäste von sich gegeben haben; 3. mit weiter reichenden Gedanken, denn bei der Podiumsdiskussion wurden ein paar Aspekte angesprochen, die ich gern mit meinem eigenen Senf verquicken und hier niederlegen möchte; 3½. mit Beschreibungen und Kommentaren zum Essen, denn nach dem Gespräch war noch vielfältiges Finger- und Gabel-Food angesagt. Weil alles zusammen aber viel zu viel wäre, möchte ich mich in erster Linie auf Punkt 3 konzentrieren. Die Weine könnt Ihr weiter unten auf einer Liste sehen, alles andere fällt hier leider unter den Tisch.
Das erste interessante Thema der Diskussion wurde eingeläutet, indem alle im Publikum (und auf dem Podium) einen Wein zu trinken bekamen, der sich eindeutig außerhalb des konventionellen Musters befindet. Es handelt sich um den Vitovska 2009, einen maischevergorenen Weißwein von Benjamino Zidarich aus dem italienisch-slowenischen Grenzgebiet, dem Karst. Ein so genannter Naturwein sei das, erklärte Martin Kössler einleitend, wie er anderswo in Europa, in Frankreich, in England oder auch in den USA schon schwer in Mode sei, aber nicht bei uns. Natürlich ging es in der Folge auch darum, ob dieser Wein den Anwesenden schmeckt, aber man kam auf dem Podium schnell zu weiterführenden Gedanken. Es wurde spekuliert über die Gründe der Tatsache, dass Innovationen dieser Art bei den Konsumenten und auch bei den Winzern in Deutschland erst so spät ankommen.
Für Martin Kössler ist die Sache relativ klar: Hauptgrund sei dieser übliche Vater-Sohn-Zwang, dass der Sohn den Betrieb vom Vater zu übernehmen habe und gleichzeitig noch einen ganzen Rucksack voller Benimmregeln, weil man ja etabliert sei und etwas zu verlieren habe. Es würde allgemein in der deutschen Winzerszene enorm an Quereinsteigern mangeln, die die Freiheit besäßen, von sich aus gleich zu Anfang etwas anders zu machen.
Aber – das ist die Frage, die sich für mich anschließen würde – warum gibt es so wenig innovative Quereinsteiger in Deutschland (was übrigens nicht nur für die Weinszene gilt)? Ich grübele ein bisschen in unausgegorenen Gedanken und komme auf folgende Punkte:
- Die deutsche Winzer- und Weintrinkerszene ist derart reaktionär, dass ein Jungwinzer, der sich auf Marketing versteht, ein schickes Etikett entwirft und vielleicht seinen Wein spontan vergären lässt, schon als großer Rebell verkauft wird. Für mich handelt es sich bei solchen Leuten (die durchaus schöne Weine machen) aber nur um Mini-Innovatoren, um Rebellen hingegen überhaupt nicht. Vielleicht sind wir so stark von Bravheit umgeben, dass wir gar nicht mehr wissen, was ein wahrhaftig wild-unkonventioneller Quereinsteiger eigentlich ist. Ich meine damit Leute wie Andrea Calek, nur damit wir uns rebelltechnisch richtig verstehen.
- Um die ganz wilden Hunde anzuziehen, brauchen wir auch eine entsprechend romantische Umgebung. Innovationen entstehen auch in unserer Gesellschaft primär im urbanen Raum. “Stadtluft macht frei” gilt also weiterhin. Wein ist aber – wer hätte es gedacht – ein Produkt des Landes. Wer aus einer urban-freigeistigen Szene aufs Land geht, sucht da nicht die Spießigkeit seiner Kindheit, sondern die wildromantische Natur, die Freiheit, die Ungebundenheit. Unsere Weinberge liegen aber fast ausschließlich in stark verkehrsbelasteten Tälern. Die Unterschiede zu (beispielsweise) Weinbergen im oberen Languedoc, einer kargen, menschenarmen, verkehrsarmen, sonnenbeschienenen, gleichzeitig wilden und bukolischen Landschaft sind immens. Man kann dort übrigens auch seinen ersten Weinbau- und -erntesommer im VW-Camping-Bus verbringen, so wie ich das schon von einigen der Quereinsteiger im Süden gehört habe. Ist auf unsere klimatischen und atmosphärischen Verhältnissen eher schwer zu übertragen.
- Wein ist in Deutschland – anders als in Frankreich oder Italien – immer noch keine absolute kulturelle Selbstverständlichkeit. In den “Klassikerländern” gehört Wein häufig automatisch zur Adoleszenz dazu (und später erst recht). Bei uns kommt Wein in weinbaufernen Gegenden oft erst in späteren Lebensjahren auf die Agenda und ist dann untrennbar mit dem Wort “gepflegt” verbunden. Rein prozentual denken die Deutschen also seltener an Wein als die Franzosen, und die Assoziationen sind auch andere.
- Ich kenne keine Weintechnikerschule (Geisenheim möchte ich da wenigstens ein bisschen ausnehmen), bei der etwas anderes als Schema F gelehrt wird. Wer einen einflussreichen Lehrer oder Dozenten kennt, der klaren Verstandes das Abweichlertum propagiert, möge ihn bitte in den Kommentaren erwähnen.
- Zum Schluss noch einmal zu den Vater-Sohn-Beziehungen. Früher waren die Väter noch richtig schlimm. Sie haben ihre Söhne mit Schimpf und Schande überzogen, wenn diese eine andere politische, religiöse oder soziale Meinung vertreten haben. Haben sie verstoßen, wenn sie sich mit den falschen Leuten eingelassen hatten, mit Musikern, Kiffern, Studenten. Haben sie mit dem Rohrstock verhauen, wenn sie sie beim Verkleiden mit Mamas Abendgarderobe entdeckt hatten. So schlimm sind die Väter längst nicht mehr. Und gegen wen soll man sich auflehnen, wie soll man rebellieren, wenn der Vater zu seiner Jugendzeit offenbar schon alles Verbotene vorgemacht hatte?
Aber: Brauchen wir überhaupt solche Leute, die wilde Dinge ausprobieren, mit allen möglichen Konventionen brechen? Ich meine ganz klar Ja, und zwar in allen Bereichen unserer Gesellschaft. Als Pioniere, Horizontöffner, Katalysatoren, Gedankenanreißer, selbst wenn sie nach unserem Verständnis in mancherlei Dingen über das Ziel hinausschießen. Aber wir sollen ihnen ja auch nicht folgen wie einem Guru. Nur um uns weiterzuentwickeln, müssen wir einfach den Leuten zuhören, die etwas anders machen, als es bislang üblich war. Im Übrigen: Hätten wir uns in der gesamten Menschheitsgeschichte nie mit den Ideen von Innovatoren beschäftigt, würden wir heute noch in Höhlen leben und im Bärenfell herumlaufen.
Während mir also diese Gedanken durch den Kopf schießen und die Diskussion inzwischen weitergeht, probieren wir zwei Weine von Jim Clenenden. Jim ist einer der wirklich charismatischen Winzer, und er hat etwas zu sagen. Ich merke erst im Verlauf der Veranstaltung, wie wichtig dieser Mann nicht nur für K&U war und ist, sondern welche Orientierungshilfe er für viele Winzer in den letzten Jahrzehnten gegeben haben mag.
Jim erzählt von früheren Zeiten, in denen er gekämpft hat. Gekämpft gegen eine ignorante Öffentlichkeit, gekämpft gegen industrietechnische Methoden, gekämpft gegen den Überkonzentrationswahn im Wein, den ein gewisser Herr Parker vorangetrieben habe. Und dann spricht von seinen jetzigen Weinen, die endlich leicht, finessenreich und – “damn” – trotzdem irgendwie dreckig herüberkommen würden. Ich schnuppere währenddessen am Chardonnay “XXX Anniversary”, am Pinot Noir “XX Years with Bob in the Shed”, später noch am Pinot Noir “Isabelle” – und ich verstehe erst nicht ganz, was er meint.
Mein Sitznachbar raunt mir derweil etwas ganz Ähnliches zu: “So, wie der Typ aussieht, hätte ich gedacht, dass die Weine individueller wären.” Und in der Tat. Ich persönlich halte seine Weine für ausgesprochen konsensfähig im positiven Sinne. Okay, da mögen meine Einschätzungen inzwischen auch ein wenig verrutscht sein. Aber dennoch: Dies sind durch die Bank exzellent ausgewogene, kalifornisch fruchtige und besonders nach ein wenig Lüften ausgesprochen milde Weine. Hier kopiert niemand Burgund, aber er spielt mit seinem anderen Terroir in derselben Liga der Premiers Crus.
Allerdings ist nichts Revolutionäres dabei, nichts Anstößiges, Polarisierendes, Erklärungsbedürftiges. Nicht mehr! Und das finde ich das eigentlich Bemerkenswerte: Hier gibt jemand zumindest partiell den großen Rebellen, aber eigentlich sind die Ergebnisse seiner damaligen Rebellion in vielen Bereichen schon längst angekommen. Ich nehme ungern das Wort vom “Establishment” in den Mund, weil das oft einen abwertend gemeinten Charakter besitzt. Aber allen “Grands Maîtres” oder “Elder Statesmen” ist zu eigen, dass sie aufgrund vergangenen Tuns einen Status erreicht haben, der sie eben nicht mehr die Speerspitze einer Bewegung sein lässt. Vielmehr wirst du respektierst, weil du einen weisen Rat von dir zu geben vermagst, aber die Jungen kommen nicht mehr, um mit dir die wildeste Party ever zu feiern. Für mich steckt in Jims Weinen so viel an Kenntnis über seine Weinberge und die Fragen der Weinbereitung, so viel an Großmeistertum, dass die Gefahr einfach viel zu gering ist, als dass wahrhaftig polarisierende Ergebnisse dabei herauskommen könnten.
Vielleicht ist echte Rebellion wirklich das Privileg der Jugend. Vielleicht muss ein Wein die Ahnung eines Fehlers, eines in Kauf genommenen, aber schwer zu kalkulierenden Risikos besitzen, um wirklich herauszufordern.
Was meint Ihr? Bin ich bei meinen Anmerkungen zur fehlenden deutschen Wein-Innovation und zur (unbewussten) Mildheit des Alters argumentativ zu weit gegangen? Denke ich da zu stereotyp? Welchen Euch bekannten Winzer würdet Ihr denn in die Kategorie “Rebell” einordnen?
In jedem Fall merkt Ihr, dass die Veranstaltung gedanklich für mich weit über das “Berühmten-Weinkritikern-zuhören-und-danach-noch-lecker-essen-und-trinken” hinausgegangen ist. Und genau das ist doch das Salz in der Suppe. Übrigens, falls Ihr Euch für einen oder mehrere der angebotenen Weine besonders interessiert, links ist die Liste (kann man durch Anklicken vergrößern). Ich habe die meisten davon probiert und auch etwas dazu notiert, fragt also einfach nach.
Hi Matze,
tolle innere Argumentation zum Thema! Das Thema Naturwein wurde ja im Online-Wein-Kosmos die Wochen schon ein paar Mal thematisiert. Ich kann deiner Argumentation durchaus folgen und sehe sie im Großen und Ganzen sehr ähnlich. Vor allem der Mangel an Quereinsteigen in Deutschland finde ich schade …
Mir totalem Weinlaien [wenn ich jetzt Blödsinn schreibe, bitte nicht virtuell Kreuzigen ;-)] ist vielleicht noch ein Argument, bzw. eher ein Frage, eingefallen, die eine Zurückhaltung gegenüber praktizierten Naturweinbau in Deutschland erklären könnte:
Sind die klimatischen Vorraussetzungen (ist ja im Spätsommer und Herbst durchaus nicht immer so trocken und mild) in Deutschland beim beabsichtigten Herstellen von Naturweinen noch ein wenig mehr herausfordernd als in etwas südlicheren Regionen? Ich meine zum Beispiel in Bezug auf Angst vor Krankheiten der Reben, Krankheitsbekämpfung und -vorsoge der Reben oder dem späteren nötigen Schwefeln von Weinen? Nur so ein spontaner Gedanken
Gruss
PS: Wurde man zu der Veranstaltung eingeladen? Wahrscheinlich! Ich war nämlich wenige Tage vorher im selbigen Laden und hab nichts von der anstehenden Veranstaltung mitbekommen. Naja, ich bin auch eine ziemliche Schlafmütze was das Wahrnehmen solcher Dinge betrifft 😉
Deine Bescheidenheit, was Laientum anbelangt, ehrt Dich natürlich, aber mal ehrlich, so richtig ahnungslos bist Du ja nicht ;).
Du hast natürlich vollkommen Recht, was die klimatische Problematik anbelangt. Oxidation ist zwar überall dasselbe Thema, aber Krankheiten aufgrund von Feuchtigkeit etc. treten in unseren nassen Gegenden wesentlich häufiger auf. Aber das ist alles eher ein Thema des Weinbaus draußen und weniger der Vinifizierung drinnen. Und strenger als Demeter beispielsweise sind die allermeisten “Naturwein”-Winzer ja auch nicht. Klar, wenn das Lesegut in einem schlechten Zustand ist, hätte ich als radikaler “Naturwein”-Winzer nicht sehr viele Korrekturmöglichkeiten. Und natürlich kann ich Deutschland nicht mit Languedoc, Priorat oder Toskana vergleichen. Aber irgendwie denke ich persönlich immer, was im Elsass geht, müsste in Baden auch gehen. Und im Elsass gibt es schon ein paar Leute, die riskant arbeiten. Jean-Pierre Frick oder Patrick Meyer zum Beispiel.
Die Veranstaltung ist nur ganz kurz im Newsletter und auf der Website angekündigt worden, wahrscheinlich deshalb, weil es wegen der Enge im Raum nicht sehr viele Plätze gab. Aber eingeladen worden bin ich nicht, ich habe meine Eintrittsgebühr für Essen und Trinken ganz artig entrichtet ;).
Das stimmt wohl! Was im Elsass geht, sollte auch in Baden möglich sein. Ich wusste nicht, dass im Elsass es Beispiele dafür gibt. Ich habe mich wahrscheinlich nicht all zu sehr mit dieser Naturwein-Thematik auseinander gesetzt. Obwohl ich mich letztes Jahr selber an einer Micro-Menge Quasi-Naturwein versucht habe 😉
Danke für die Info! Da melde ich mich mal bei Newsletter-Verteiler an. Dann verpasse ich die Feierlichkeiten für das vierzigste Jubiläum nicht 😉
K&U schätze ich sehr. Danke für diesen Einblick in die Veranstaltung.
Ich empfinde den Naturwein-Boom inzwischen schon als Modeströmung, der sich in Österreich einige Winzer ganz ohne radikale Bestrebungen anschliessen, eher aus Kalkül. Manche dieser Weine sind so “revolutionär” wie die Schnulze “San Francisco” am Ende der Hippiebewegung.
Das ist ein Punkt, bei dem ich Dir absolut zustimme. Im Languedoc gibt es ja inzwischen einen der großen Produzenten und Négociants, Gérard Bertrand, der ansonsten eher massenkompatible Weine herstellt, jetzt aber seinen ersten “vin naturel” mit viel Trara herausgebracht hat. Das ist ganz klar Kalkül und auch ganz klar Mode. Interessanterweise sehe ich (abgesehen von den finanziellen Anreizen) da erstaunlich viele Verbindungen zu “Anti-Bewegungen” wie anti-Fleisch, anti-Milch, anti-Carb oder eben anti-Schwefel, bei denen es viel mehr um Angst als um Freiheit geht.
So sehr ich dir zustimme, das wir eigentlich gar nicht genug Innovation haben können und gerade in Deutschland noch viel mehr brauchen, bin ich mir gerade beim Wein nicht wirklich sicher…
Wenn ich dabei meine eigene Sicht hinterfrage, dann will ich im großen und ganzen eigentlich gar keine Innovation. Im Gegenteil, was die Weinwelt so in den letzten Jahrzehnten an Innovation hervorgebracht hat, lehne ich. Vom Rotofermenter über Cryoextraktion bis hin zu Chipping oder Thermovinifikation…die Liste ist ellenlang. Und für mich ist es zwar lobenswert und richtig, aber auch keine echte Innovation, wenn man sich gegen vorherrschende Geschmackstrends stellt. Unsere Eltern mochten ihren Riesling noch lieblich, jetzt ist trocken und mineralisch en vogue, wer weiss wie es in 10 Jahre aussieht… Vin Naturel (die Weine, nicht der pseudo-philosophische Unterbau) ist insofern zumindest für mich auch keine Innovation, sondern eher Rückbesinnung und liegt ja auch im breiten Trend, das bestimmte soziale Milieus wieder individuelle und artisanale Produkte goutieren. Ist echt ein schwieriges Thema, da müsste man mal mit Winzers drüber disktuieren.
Aber ich bin völlig bei dir, aus etwas Etabliertem, das wenigstens noch einigermaßen funktioniert, wird niemals etwas radikal Neues entstehen. Insofern brauchen wir wirklich die Seiteneinsteiger, um als Katalysatoren mehr Diskurs und Vielfalt in das altbekannte Thema Wein zu bekommen.
LG,
Alex
Das ist natürlich ein sehr interessanter Aspekt, den Du ansprichst. Je nachdem, welchem “Lager” man angehört, kann Innovation natürlich etwas völlig Anderes bedeuten. Das kann der technische Fortschritt sein (= perfekter, risikoloser, effizienter werden), das kann aber auch eine neue Sichtweise auf bestehende Dinge sein. Oder eben etwas, das alte Ideen in neuem Rahmen präsentiert, als “Erneuerung” – es muss ja nicht immer die zwanzigste Wiedererfindung des Rades sein.
Ich persönlich glaube dabei (weil Du es ja so zutreffend beschrieben hast): Die Rückbesinnung bestimmter sozialer Milieus auf individuelle und artisanale Produkte ist gar keine echte Rückbesinnung. Das wäre es nämlich, wenn man tatsächlich mit einem ähnlichen Ansatz wie vor etlichen Jahren an solche Dinge herangehen würde. Vielmehr finde ich, dass die Rahmenbedingungen in unserer modernen Welt sich so eklatant von denjenigen der vorindstriellen Zeit unterscheiden, als artisanale Produktion außer im Großbürgertum häufig aus der Not heraus praktiziert wurde, dass ich wirklich von einem anderen Ansatz sprechen würde. Nämlich von einem bewussten Weg, einer bewussten Entscheidung, etwas anderes zu tun als das, was einfacherweise möglich wäre. In meiner sehr weit gefassten Definition wäre so etwas auch Innovation.
Ich habe so ein Gefühl, dass die prinzipielle Bewegung “zur Natur”, die prinzipielle Bewegung, “gute”, “natürliche”, “wenig prozessierte” und irgendwie moralisch integrere Produkte haben zu wollen (also genau das, was vom Grundsatz her “bio” ist), dass das keine Mode mehr ist. Denn Mode ist qua Definition auf Kurzlebigkeit, auf ein periodisches Aufflackern ausgerichtet. Und ich denke, dass wir es hier mit einem echten Trend zu tun haben, der auch (oder gerade) in 30 Jahren noch wichtig sein wird. Nicht die schwefelfreien Weine, das mag tatsächlich eine Modeerscheinung sein. Aber die prinzipiell andere Betrachtung der Welt, die uns unmittelbar umgibt. Und da fehlt es mir bei uns in der weinbereitenden Zunft ein wenig an den wirklich visionären Leuten. Vielleicht kenne ich sie aber auch nur nicht oder zumindest nicht nah genug.
Es ist halt die Frage, woher die Bio-Bewegung (in dem Sinne wie du es so schön definiert hast) tatsächlich kommt. Ich denke auch nicht, das es eine Mode im Sinne eines substanzlosen Trends ist. Aber ich glaube auch nicht, das es wirklich um das “Bio-Produkt” an sich geht. Bio ist auch und wahrscheinlich vor allem Projektionsfläche für den Wunsch nach einer anderen Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der die Arbeit des Einzelnen einen Wert hat, in der man Natur und (vor allem) die Tiere respektvoll behandelt, in der sich der Mensch wieder in Einklang mit seiner Umgebung befindet. Das weniger auch mehr sein kann. Es ist ein Gegenentwurf zu dem technokratischen, postindustriellen Dystopia in dem viele Menschen sich bewußt oder unbewußt gefangen sehen. Das Ende des Fortschrittsglaubens, Rückbesinnung irgendwo auch. Das ist ein starkes, emotionales Narrativ und findet bei vielen Leuten Resonanz. Besonders im katholischen (Teil) Europa, dem diese Weltsicht viel näher ist als dem angelsächsischen Calvinismus. Das große Problem im Moment: Es steht kurz davor, mehr oder weniger vollständig in den Mainstream absorbiert zu werden. So ist unser System: Es umarmt alles, was es bedrohen oder nachhaltig verändern könnte, und am Ende bleibt vor lauter Liebe nichts mehr davon übrig 😉
LG,
Alex
Das hast Du sehr schön gesagt ;). Ja, in der Tat, “bio” wird mehr und mehr mainstreamig. Die ökonomischen Big Players haben ja auch ein Interesse daran, etwas (offenbar) prinzipiell positiv Konnotiertes aufzugreifen und in den Mainstream einzubringen. Es locken in jedem Fall größere Gewinne als im konventionellen Bereich – wenn man die gesetztlich vorgeschriebenen Biokriterien so weit runterschraubt, dass ihre Einhaltung keinen allzu großen finanziellen Aufwand mehr erfordert. Genau das passiert momentan, und die EU-Bio-Kellerrichtlinie ist dafür ein schönes Beispiel. Andererseits (das muss ich als Idealist einfach sagen): Wenn solche Standards strenger sind als das, was bislang durchschnittlich praktiziert wurde, ist damit letztlich zwar der Bio-Begriff weiter verwässert worden, aber die Produkte sind ein Stück weit “besser” geworden. Das emotionale Narrativ muss dann halt einfach unter einem anderen Begriffsdeckel weiterbetrieben werden, wenn “bio” nicht mehr “bio” ist ;).
Wir sind in gewisser Hinsicht Seiteneinsteiger. Dazu gehört zwar ein Diplom von Geisenheim und eine erfolgreich Sammlung von Kammerpreismünzen beim vorherigen Arbeitgeber – aber auch eine danach folgende 20-jährige Abstinenz vom Weinbau.
Nun sind wir zurück und machen den Wein, der uns schmeckt. Und unser Wein ist richtig gut. Und wenn wir den noch verkaufen können, dann ist das auch schön. Wir arbeiten handmade und soweit möglich naturnah. Sind wir deswegen irgendwie revolutionär? Quark.
Ein junger Winzer übernimmt den elterlichen Betrieb. Er hat eventuell eine kleine Familie. Er mag guten Wein. Stück für Stück stellt den Betrieb auf Qualität um und berücksichtigt dabei den betriebswirtschaftlichen Aspekt. Ist er deswegen kein Revolutionär?´Nein – er ist vernünftig, hat betriebswirtschaftliche Verantwortung zu tragen und eine Familie zu ernähren.
Ist er deswgen mutlos, nicht innovativ oder sonstiges?
Nein – er handelt rational – im Gegensatz zu theoretischen Fabulismen und umsatzfördernder Schlagzeilendrescherei.der Medien.
Was will ich damit sagen:
Wein muss schmecken – und lasst um Himmelswillen die Revolution und die Philosophie aussen vor.
Heri
Hallo Heri,
ich merke, Du fühlst Dich irgendwie angesprochen in dem Artikel und hast Dich geärgert. Dass Du hier trotzdem schreibst, finde ich schon einfach prinzipiell gut, weil man ja alle Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten kann.
Andererseits denke ich, dass Du mich ein wenig missverstanden hast. Erst einmal glaube ich Dir unbenommen, dass Ihr einen richtig schmackhaften Wein macht. Es gibt mittlerweile so viele gut gemachte und wirklich angenehme Weine in Deutschland, dass unter Garantie niemand von sich behaupten kann, auch nur die Hälfte davon zu kennen.
Bei der zweiten Sache muss ich wahrscheinlich noch einmal konkreter werden: Mir geht es keinesfalls darum, die Winzertradition in Frage zu stellen. Die absolute Mehrheit der Winzer ist höchst bodenständig, agiert (wie Du selbst so schön schreibst) “rational” und “vernünftig”, übernimmt einen elterlichen Betrieb und hat eine kleine Familie zu ernähren. So soll es ja auch sein, denn ich spreche hier von der Ausnahme und nicht von der Regel, wenn es um Quereinsteiger geht. Als “Quereinsteiger” definiere ich persönlich übrigens jemanden, der nicht vom Hof stammt, also erst einmal auf kein Land zurückgreifen kann, wenn er (oder sie) ins Winzermetier einsteigt. Es ist auch jemand, der idealerweise nicht in dem entsprechenden Dorf aufgewachsen ist, ja möglichst noch nicht einmal in einer Weingegend. Also jemand, der quasi aus einer völlig “fremden” Gedankenwelt kommt.
Dass nicht jeder Quereinsteiger gleich ein Innovator oder Revolutionär ist, logisch. Soll er ja auch nicht sein. Aber ich sehe durch die vorherige Distanz zu der Materie eine größere Chance, dass jemand mit frischen Ideen an die Sache geht. Und das finde ich gut. Ohne Wenn und Aber.
Übrigens, auch ich trinke sehr ungern Essigsuppe, insofern muss der Wein auch mir primär schmecken. Aber das “Hauptsache” beinhaltet ja irgendwie, dass alles andere drum herum herzlich wurscht ist. Das ist so eine “Kollateralschäden-Formulierung”, wenn Du verstehst, was ich meine. Aber okay, wenn Du eine andere Meinung hast, sollst Du die auch behalten. Schließlich geht es hier ja in der Tat um Meinungen und nicht um Recht oder Unrecht.
Ja, das stimmt. Es ist natürlich immer noch ein Fortschritt, wenn ein kleines Stück “Bio” den Mainstream besser macht als wenn gar nichts passieren würde. Auf der anderen Seite marginalisiert es die Grundidee auch irgendwo, bis zu dem Punkt, wo man etwas bessere Industrieprodukte hat und der Mainstream glaubt, damit wäre alles getan. Aber andererseits hast du auch Recht, der Kern von Bio wird außerhalb des Mainstream weiter bestehen bleiben, so dass zumindest nichts verloren ist 😉
LG,
Alex