Hanoi-Tagebuch

Hanoi Tagebuch

Eigentlich war ich an den Stadtsee Bay Mau (oder korrekt: Hồ Bảy Mẫu) gekommen, um ein bisschen Natur zu fotografieren. Hanoi, die Hauptstadt Vietnams, besitzt eine ganze Reihe dieser Seen, von denen allerdings die wenigsten von einem grünen Park umgeben sind. Der Bay Mau schon. Was mich dort erwartete, war allerdings keine stille Oase. Vielmehr ist dieser Park ein bisschen das, was in Rio der Strand ist. Es gibt Fahrgeschäfte für Kinder, es wird gejoggt, geturnt, gepost und geselfiet, es gibt Bands und Bars mit Tee und Schnaps. Ein öffentlicher Unterhaltungsplatz ohne Eintritt. Nur wenn die Sonne untergeht, kehrt für einen kurzen Moment eine kontemplative Stimmung ein. Dies ist mein erstes, aber intensives Mal in Hanoi. Kommt also mit auf meinem Rundgang kreuz und quer durch die Stadt.

Erster Tag Hanoi – erst die Arbeit…

Weshalb ich überhaupt hier bin, hat eine berufliche und eine private Komponente. Einerseits habe ich das Vergnügen, einen Artikel im Fachmagazin WEIN+MARKT schreiben zu dürfen über die Weinszene in Vietnam und die Exportchancen deutscher Weine. Dafür werde ich mich unter anderem mit verschiedenen Gesprächspartnern treffen und Shops checken. Weil diese Orte aber relativ weit in der Stadt verteilt sind, habe ich allein auf diese Weise die Chance, Hanoi wirklich durchquerend kennenzulernen. Daneben bleibt (schließlich bin ich fünf ganze Tage hier) aber auch noch genügend Zeit, die lokale Küche ausgiebig in Anspruch zu nehmen. Und weil ich allein reise, nehme ich das ganze Drumherum vermutlich auch noch einmal intensiver wahr.

Über meine Termine, ihre Verläufe und Ergebnisse werdet ihr hier natürlich wenig lesen. Dafür habe ich mich entschlossen, als zweiten Teil noch einen Artikel namens »Hanoi praktisch« zu schreiben. Sozusagen die Bedienungsanleitung, falls ihr unmittelbar vorhabt, ebenfalls nach Hanoi zu kommen. Hier hingegen geht es um meine Stadtrundgänge. Und die beginnen früh.

Tradition Morgensuppe

Pho Bo

Ich hatte mir vorgenommen, den Jetlag für meine Zwecke auszunutzen. Sprich: um sechs Uhr früh aufstehen und dann gleich rausgehen, um eine Suppe zu essen. Das machen die meisten Leute in Hanoi nämlich auch so. Da es selbst im November in Ostasien uhrzeitmäßig früh hell und früh dunkel wird (man hat sich offenbar für diese Variante der Zeitzone entschieden), saß ich im wunderbaren Morgenlicht auf einem Hocker des Straßenrestaurants Phở Bò Hảo Ngọc. Pho Bo ist rindbasiert, Pho Ga huhnbasiert, leicht zu merken. Eine köstliche Brühe, schön schlabbrige Nudeln, Kräuter – wunderbar, so kann der Tag beginnen!

Wein aus Vietnam?

Mein erster Arbeitsgang (ha, jetzt doch!) führte mich quer durch die Stadt zum Hauptgeschäft von Ladofoods. Es war zwar falsch eingezeichnet bei Google Maps, aber irgendwie habe ich es trotzdem gefunden. Weshalb ich da hinmusste, hat einen ganz bestimmten Grund: Ladofoods ist ein staatliches Unternehmen, das mit dem Château Dalat das momentan einzig wichtige Weingut des Landes betreibt. Dalat befindet sich eher im Süden Vietnams auf 1.500 Metern Höhe, die Temperaturen sind also kanarenhaft rund ums Jahr, der Niederschlag allerdings nicht.

Der frühere vietnamesische Weingeschmack war eher »stark und süß«, und der Traubensaft wurde mit Maulbeeren aufgepeppt, um die gewünschte Alkoholgradation zu erreichen. Mittlerweile hat sich die Zielgruppe jedoch leicht verschoben, und der Signature Shiraz ist ein richtig ernsthafter Roter. Was Château Dalat interessanterweise auch herstellt und im Laden gleich zum Probieren anbietet, ist »Craft Wine«. Dabei handelt es sich um filtrierten Federweißen (oder Federroten), der frisch gezapft wird. Hat 5 vol%, ist süß und fruchtig, also ein bisschen ein ultrajunger PetNat.

Bánh cuốn – gleich die nächste Spezialität aus Hanoi

Auf dem Weg zurück komme ich an unzähligen Straßenrestaurants vorbei. Ich entscheide mich für Bánh Cuốn 101 Bà Triệu, das sich in der Nähe meines Hotels befindet. Banh Cuon hatte ich vor Jahren schon einmal in Hongkong gegessen, allerdings mittags mit Kollegen in einem Restaurant, in dem es Gerichte aus aller Welt gab.

Dieses Erlebnis ist anders. Ich setze mich wieder auf einen Hocker und sage »Banh Cuon«. Auf dem Tisch steht noch eine Tafel mit möglichen Beilagen, natürlich auf Vietnamesisch. Ich möchte die Dame aber nicht warten lassen und verzichte darauf, mir das mit der Kamera-App übersetzen zu lassen. Also nehme ich einfach irgendwas, das für mich aussieht wie »Banh Cuon-Essenz«, also als ob es extra dafür gemacht ist. Die Dame stutzt kurz, akzeptiert es aber.

Straßenrestaurant Hanoi

Zwei Minuten später kommt sie nochmal an den Tisch und fragt, ob ich mir da wirklich sicher bin. »Wieso?«, frage ich zurück, während am Nachbartisch schon gefeixt wird. »Naja«, meint sie, »das wird für Ausländer nicht empfohlen… Es ist sehr stark.« Ob ich einmal riechen wolle? Ja, natürlich. Sie bringt eine Pipette mit der Essenz, und es duftet wirklich unglaublich. Stichig wie Lilie, Osmanthus und Angelika, erdig, blütig. Ich nehme es.

Tatsächlich handelt es sich um Wasserwanzen-Essenz, eine höchst traditionelle Zutat. Fügte sich geschmacklich hervorragend ein, und ich war um ein weiteres Erlebnis reicher.

Zweiter Tag – Hanoi modern

Tho Wine Space

Mein zweiter Tag galt zunächst wieder der Arbeit, und zwar der Suche nach deutschen Weinen in Hanoi. Bei THỞ – Wine Space gibt es unten einen Laden und oben eine Weinbar mit kleinen Speisen. Sieht sehr nett aus, und die Inhaber sprechen ausgezeichnet Englisch. Ich entdeckte dort unter anderem das Spätburgunder-GG aus dem Centgrafenberg von Sebastian Fürst. Habe ich natürlich nicht gekauft von wegen Eulen nach Athen, aber trotzdem unglaublich, wo es die Fürst-Weine mittlerweile überall gibt.

Zum Mittag Bún Chả

Bun Cha

Direkt nach dem Termin hatte ich Hunger, und man muss in Hanoi nie weit gehen, um wieder einen einfachen, aber guten Essort zu finden. In diesem Fall nur ein paar Meter die Straße runter. In einer Art Garage knistert ein Holzkohlengrill, rechts steht eine Dame und kocht Nudeln, aber Stühle gibt es irgendwie keine. Der Gastraum befindet sich dann auch im hinteren Bereich, man muss einfach an der Frau vorbeigehen. Bún chả besteht aus gegrilltem Schweinefleisch in einer würzig-säuerlichen Dippbrühe und sehr klebrigen Reisnudeln, die man in die Brühe tunkt. Frische Kräuter spielen ebenfalls eine große Rolle. Gern wird Bun Cha auch mit Nem gereicht, also einer Art gebratener Frühlingsrolle.

Bun Cha Hanoi

Es schmeckt total großartig. Vielleicht ist das die handwerklich am besten zubereitete Speise meines Hanoi-Aufenthalts. Kostet übrigens umgerechnet keine zwei Euro, das ist bei allen Gerichten so, die ich hier esse. Mit mir hinten im Verschlag sitzen noch zwei Jazzmusiker, die vor Jahren in Hanoi hängengeblieben sind. Sie gehen schon seit acht Jahren in diese Bun Cha-Bude und sind immer noch begeistert. In ihrer Anfangszeit hier, denke ich mir, haben sie wahrscheinlich noch in irgendwelchen Club-Bands gespielt oder Solokünstler auf Tournee begleitet. Mittlerweile könnten sie dank stabilem Internet auch auf Fiverr oder Ähnlichem ihre Dienste anbieten. Da wird in US-Dollar bezahlt, und die Lebenshaltungskosten sind hier ja extrem niedrig.

Jetzt aber Modernes Hanoi: die Lotte Mall West Lake

Lotte Mall West Lake Hanoi

Vietnam oder in diesem Fall Hanoi besteht allerdings nicht nur aus kleinen Buden, Essständen und anderen post-kolonialen Traveller-Träumen, sondern besitzt auch eine ganz andere Seite. Immerhin hat das 100-Millionen-Einwohner-Land auch in den Nach-Corona-Jahren jährliche BIP-Wachstumsraten jenseits der 5% aufzuweisen. Die Mittelschicht wächst und besitzt ein zunehmendes Interesse an Wein (deshalb bin ich ja hier) und an anderen Weltteilhabedingen. Der beste Ort, um diese Entwicklung in Hanoi zu erleben, ist die Lotte Mall West Lake im Nordwesten der Stadt. Hier gibt es wirklich alles. Einzelne Shops bekannter Marken wie überall, aber auch solche von Karl Lagerfeld und Marimekko, dazu ein großes Aquarium im Untergeschoss.

Lotte Supermarket

Der Supermarkt, den die Mall ebenfalls besitzt, ist einer der eindrucksvollsten, die ich je gesehen habe. Das große Regal mit Frischpilzen unterscheidet zwischen einheimischen und importierten Sorten von Matsutake und Raupenpilz bis zum Pfifferling. Auch beim Frischfisch gibt es eigene Theken für Flussfisch und Meeresfisch, für Muscheln, Krebsgetier und Ready-to-eat. Sollte man vielleicht einmal gesehen haben, wenn man denkt, Vietnam, das sind Touristen, die sich in Fahrradsänften durch die Gassen schuckeln lassen.

Ciputra, die Zukunft Hanois?

Ciputra Hanoi

Auf der anderen Straßenseite (wir sprechen von acht Spuren, es ist die Straße zum Flughafen) befinden sich ein paar Hochhäuser, dann aber weites Sumpf- und Sandland, eine riesige Baustelle. Man wird aber überall auf Schildern schon darauf hingewiesen, was hier entstehen soll: Ciputra, die internationale Stadt. Ciputra ist ein indonesischer Konzern und das Ganze ein Joint Venture, das nach derzeitigem Stand etwa 2,4 Milliarden US$ kosten dürfte. 50.000 Menschen sollen dereinst in Ciputra wohnen, in unterschiedlichen Hausformen und aus möglichst vielen Ländern. Tatsächlich hat Hanoi als Hauptstadt natürlich Bedarf an Wohnraum für das diplomatische Umfeld und internationale Konzerne.

Ciputra Triumphbogen

Ob es letztlich tatsächlich ein Erfolg wird, lässt sich noch schwer abschätzen. Investoren sind ja gelegentlich nicht mit der allergrößten Ausdauer ausgestattet, und noch einmal Covid oder Ähnliches würde man sich nicht leisten können. Was neben einer Reihe neo-neo-klassizistischer Mehrfamilienvillen schon steht, das ist der Triumphbogen an der Einfahrt. Mit irgendwas muss man schließlich anfangen. Mir macht ein solches Projekt noch einmal den krassen derzeitigen Unterschied zwischen Europa und Asien bewusst. Ein solches Vorhaben wäre in Deutschland niemals denkbar. For the better, werden viele bei uns sicher denken, aber leider auch for the worse. Dynamik findet woanders statt.

Dritter Tag – zu euphorisch

Pho Inn

Good morning um 6 Uhr, so sieht das hier aus bei mir. Herrliches Wetter wieder mal, 25 Grad sollen es werden, genau meine Wohlfühltemperatur. Nach den gestrigen Eindrücken denke ich mir, hm, warum nicht auch mal in ein modernes Pho-Restaurant gehen? Schließlich gibt es Essmöglichkeiten in Hülle und Fülle um mein Hotel herum. Ich entscheide mich für das Phở Inn, merke aber schnell, dass dies eigentlich kein Frühstücksort für Taxifahrer und Reinigungspersonal ist. Die Suppe ist schon okay, und ich nehme auch Quẩy, dazu, das beliebte frittierte Weizenbrötchen chinesischen Ursprungs. Aber die Karte böte eigentlich viel mehr, vor allem Fleischspezialitäten bis hin zum Wagyu. Hierhin kommt man also später.

On Top of the World

Lotte Sky Hanoi

Ich habe heute einen kurzfristig ausgemachten Termin mit einem Importeur, schon wieder im Nordwesten der Stadt, wo ich ja bereits gestern war. Also verbinde ich das Nützliche mit dem Angenehmen und fahre zum Sky Lotte Observation Deck hinauf. Dies ist zwar auch Lotte, also der koreanische Misch- und Kaufhauskonzern, aber ein anderes Center als gestern. Oben ist dank der frühen Stunde noch kaum etwas los. Ich kann in Ruhe in alle Himmelrichtungen schauen und stelle fest, dass man bei lediglich 8,8 Millionen Einwohnern tatsächlich das Ende der Stadt entdecken kann.

Der Termin selbst läuft dann sehr gut, auch in zwei anderen Läden bekomme ich die Infos, die ich haben will. Passt also alles fantastisch. Deshalb schnappe ich leicht über.

Go with the Flow

Hanoi Verkehr

Hanoi ist ja immer noch die Stadt der Millionen Mopeds. Nicht mehr ganz so laut wie früher, aber weiterhin mit wunderbar stinkenden Verbrennermotoren ausgestattet. Auf meinem Weg durch die Stadt gewinne ich zunehmend das Gefühl, hier immer besser hineinzupassen. Nicht wegen der Verbrenner, aber wegen des Verhaltens. Vielspurige Straßen zu überqueren ist überhaupt kein Problem, weil sich letztlich alle an einen ungeschriebenen Kodex halten: stetig sein, aufmerksam sein. Schneller als 30 fährt hier kaum einer, aber dafür immer mit fließenden Bewegungen, klar die gewünschte Richtung zum Ausdruck bringend. Hier darf man nicht auf die Straße springen und dann wieder anhalten oder hektisch herumhüpfen. Nein, ganz smooth, go with the flow.

Banh Xeo

Als ich an einer der schlimmsten Kreuzungen vorbeikomme, sehe ich das Schild »Bánh xèo« an einem Straßenrestaurant. Ich erinnere mich daran, dass die beiden Verkäuferinnen in einem der Weinläden gesagt hatten, dass sie zu Bánh xèo sehr gern Riesling trinken und das eine ideale Kombination ist. Okay, Riesling habe ich grad keinen, aber dafür kann ich Bánh xèo ausprobieren. Es handelt sich dabei um extrem knusprig gebratene Pfannkuchen. Die hatte ich auf Fotos auch schon gesehen. Was ich nicht wusste: Damit ist es nicht getan.

Man muss nämlich Reispapier einige Sekunden in Wasser legen, dann mit der Schere einen Teil des Pfannkuchens zurechtschneiden, drauflegen und dann Mangostreifchen, Sojasprossen, Kräutern und andere Zutaten dazutun. Als nächstes versucht man, das Ganze möglichst geschickt zu einer Art Sommerrolle zu formen. Jene sollte so straff sein, dass man sie mit den Händen greifen und in eine Fischsaucenbrühe tunken kann. Ich stelle mich grauenhaft ungeschickt an. Zum Glück hilft mir die ausgesprochen liebenswürdige Dame des Hauses, und es schmeckt wirklich super. Süß, sauer, würzig, kross, weich, alles da. Und ich kann mir Riesling als Begleitung absolut dazu vorstellen.

Vierter Tag – Erholung am Fluss

Roter Fluss

Am nächsten Morgen wache ich mit Kopfschmerzen und Übelkeit auf, als hätte ich die Nacht durchgesumpft. Nachdem ich etliche Gründe ausgeschlossen hatte und es sich auch nicht nach Krankheit anfühlt, komme ich letztlich auf eine leichte Abgasvergiftung. Ich bin ja kilometerweise durch den Feierabendverkehr geflowt und habe mich im Zentrum des Verkehrsgestanks zur Mahlzeit niedergelassen.

Jedenfalls ist mir jetzt dringend nach Erholung. Friedliche Ruhe mit dem Blick auf irgendwas Idyllisches. Deshalb mache ich mich auf zum Roten Fluss. Dessen Ufer ist, so wie ich das gesehen habe, zwar weder café-isiert noch mit einer Promenade ausgestattet, aber an einem Tempel mit dem leicht zu merkenden Namen Bến rước nước đền Hai Bà Trưng kommt man direkt ran.

Hanoi Tempel

So ist es dann auch. Ein wunderbar kontemplativer Ort, weit entfernt von Touristenmassen. Ein paar ältere Frauen sitzen im Schatten und unterhalten sich, ab und zu kommt ein Schüler vorbei und wirft einen Blick auf die tatsächlich eisenrot-schlammigen Fluten. Direkt am Ufer leben Fischerfamilien, teilweise in Hütten mit Plastikplanen. Ihre Boote treiben ganz gemächlich vorbei, viel Fisch scheinen sie nicht aus dem Fluss zu ziehen. Das ist die andere Seite der glänzenden Ciputra-Zukunft…

Buntes Hanoi-Kaleidoskop

Hanoi Bahnbrücke

Als ich aus dem Gassengewirr von Bạch Đằng wieder hinausgefunden habe, fahre ich mit dem Bus zur alten Bahnstation Long Biên. Hier beginnt auf der einen Seite der touristische Bereich, auf der anderen Seite die Brücke über den Roten Fluss. Im Moment wird gerade daran gebaut, und auch die Fahrspuren neben der Eisenkonstruktion sind für den Fußgängerverkehr gesperrt.

Da Cau Vietnam

Im Regierungsviertel in der Nähe des Präsidentenpalasts ist interessanterweise nur die eine Straßenseite des breiten Boulevards gesäubert und geordnet. Auf der anderen Seite haben sich auf dem breiten Trottoir kleine Grüppchen zum Sportmachen eingefunden. Ein paar Skateboarder und Fußballspieler gibt es, vor allem aber Doppel-Teams, die Da cau spielen, eine Art akrobatischen Federfußball.

Sängerin

Hinter dem Literaturtempel, den ich morgen zum Abschluss noch besuchen möchte, bleibe ich an einer Kreuzung wie angewurzelt stehen. Da spielt doch eine Liveband! Aber nicht irgendwas, sondern die wunderbare alte Weise, die bei uns unter dem Namen »Cheri Cheri Lady« bekannt geworden ist. Ich mache sogar ein Handy-Video davon, werde es aber nirgends einstellen, um nicht irgendwelchen Copyright-Ärger zu provozieren (= alte Welt). Als ich dann über die Straße gegangen bin, um mir die Band anzuschauen, traue ich meinen Augen nicht. Alle befinden sich auf einer Bühne mitten auf einer künstlichen Insel und sind traditionell aufgemacht. Als nächstes stimmt die Sängerin auch einen Gesang in einer für mich fremdartigen Tonart an. Cheri Cheri Lady war nur zum Warmmachen gedacht.

Um diesen größeren Teich herum hat sich die Stadt Hanoi ihr kleines gefahrloses Zentrum für ältere Touristen ausgedacht. Es gibt Cafés, kleine Shops mit Andenken aller Art, alles ist sauber, modern, aber auf alt getrimmt, alles Fußgängerzone, keine Mopeds, keine Stolperfallen. Auch wenn einige Gebäude noch nicht ganz fertig sind, merkt man schon, dass sich das hier lohnen wird. Es wird bereits fleißig flaniert und geshoppt.

Hanoi Rush Hour

Restaurant Hanoi

Als ich genug gesehen habe, möchte ich mit dem Bus wieder in mein Viertel zurückfahren. Das Bussystem ist gut ausgebaut, und ich bin ein Fan der Öffis. Allerdings sieht der Verkehr mehr als zähflüssig aus. Mittlerweile ist nämlich Rush Hour in Hanoi, man schiebt sich zentimeterweise vorwärts, und der Bus kommt nicht. Also nehme ich wie einige andere mit einem Seufzer die Beine in die Hand, denn zu Fuß kommt man noch am schnellsten vorwärts. Erst denke ich, oh nein, jetzt bin ich den ganzen Tag schon so viel herumgelatscht, und jetzt wieder eine Stunde durch die Abgashölle. Learning also: Bist du in Hanoi bis 17 Uhr nicht an deinem Zielort, geh lieber in ein Café. Der Rush geht vorbei.

Bun Bo Hué

Auf diese Fußweise komme ich aber tatsächlich an interessanten Orten vorbei. Einer Fusion Bakery zum Beispiel, von der ich ein Gebäckstück mitnehme.

Es ist aber auch mal wieder Zeit für eine Suppe. Diesmal gehe ich in einen Laden namens Bún bò Huế O Xuân. Bun Bo ist eine Nudelsuppe, die ursprünglich aus der alten Kaiserstadt Huế stammt. Am dortigen Hof wurde traditionell schärfer und einfach insgesamt aromenreicher gegessen. Die Suppe besteht nicht nur aus einer Art Fleisch, sondern gleich aus vieren, darunter ein Krabbenbällchen und ein Stück Blutpudding. Auch die Nudeln sind anders und erinnern in ihrer runden Dicke viel eher an japanische Udon.

Stäbchen

Weil diese dicken und glitschigen Nudeln schwer zu greifen sind, gibt es dafür Stäbchen aus deutlich grobporigerem Holz. Das ist beim Essen zwar etwas ungewohnt, aber dafür kann man ohne Unfälle zupacken.

Hakyo Hanoi

Wieder auf dem Zimmer, möchte ich quasi als Nachspeise das Gebäckstück essen, das ich bei der Fusion Bakery Hakyō erstanden hatte. Es besteht aus einem dichten Croissantteig, ist dann aber nicht süß, sondern besitzt Käse oben, Nori an der Seite und innen drin eine ausgesprochen köstliche Füllung aus Pilzen in einer Miso-Sahnesauce. Das Ganze ist handwerklich auch noch hervorragend gemacht, da bricht nichts ab, krümelt oder kleckert. Hut ab!

Fünfter Tag – Wochenend-Craze in Hanoi

 

Letzter aktiver Tag in Hanoi, ein Samstag. Weil ich vermute, dass am Wochenende noch einmal mehr los ist, möchte ich möglichst früh beim Literaturtempel sein, meiner einzigen echten Touristenattraktion hier. Und ein bisschen ist es auch das einzige offizielle UNESCO-Top-Highlight. Ansonsten hat Hanoi mit seinem Leben natürlich mehr als genug zu bieten.

Literaturtempel Hanoi

Leider hatte ich aber vergessen, den Wecker zu stellen und komme deshalb wirklich mitten im Trubel am Literaturtempel an. Es ist die Hölle los – und es ist großartig! Offenbar wurde vor kurzem das Schuljahr beendet, und jetzt sind Dutzende Klassen und Jahrgänge in Schuluniform auf dem Gelände unterwegs. Wie sich das an diesem intellektuellen Inspirationsort des Landes gehört, ist der Schulfotograf jeweils mit dabei. Nicht alle haben dabei gleich viel Glück. Die dunkel Gewandeten vom Foto oben konnten sich nämlich im Schatten aufbauen und werfen jetzt voller Freude ihre Abschlusshüte in die Luft. Die weiß Gewandeten hingegen müssen ewig in der Sonne stehen und schauen entsprechend nüssig.

 

Literaturtempel Hanoi

Sehr gleichmütig hingegen blickt innen im Tempel Konfuzius auf das Treiben herab.

Hanoi Vietnam

Als religiöser, weltlicher und touristischer Ort ist der Literaturtempel, der in Wirklichkeit aus mehreren Höfen besteht, ein Pilgerziel für ganz unterschiedliche Angelegenheiten.

Vasen Hanoi

Draußen wird derzeit eine bedeutende Privatsammlung alter Gefäße ausgestellt. Das ganze Gelände brodelt farbenprächtig, und wenn man lange genug hier zubringt, hat man vor lauter Motiven ziemlich schnell seinen 36er Diafilm verknipst.

In der Altstadt von Hanoi

Samstag Hoan Kiem

Wenn ich es mir heute schon gebe, dann richtig. Also fahre ich auch noch zum Hoàn Kiếm-See. Am Wochenende ist hier alles für den beräderten Verkehr gesperrt, was das Ganze erstaunlich entspannt werden lässt. Auch die breiten Straßen lassen sich auf einmal kreuz und quer belaufen. Wer übrigens wie ich in Hanoi noch keine deutschen Touristenpärchen getroffen hatte, hier sind sie. Alle. Aber auch da ist die Atmosphäre heiter und gelassen. Alle fotografieren sich gegenseitig oder selbst, lassen sich malen, trinken einen Fruchtsaft und freuen sich über das sommerliche Wetter.

Schmetterling Vietnam

Im November blühen normalerweise nicht allzu viele Blumen in Hanoi. Um den See sind aber welche angepflanzt worden, und das gefällt natürlich den Schmetterlingen.

Hanoi Altstadt

Im Nordwesten des Hoàn Kiếm-Sees schließt sich die eigentliche Altstadt a.k.a. das chinesische Viertel an. Hier fließt auch wieder der Verkehr, und auf einmal kommt alles zusammen.

Weihnachten November

Ein ganzer Straßenzug wird von Läden eingenommen, die übervoll sind mit Weihnachtsdekoration. Woanders reiht sich ein Kaffeegeschäft an das andere. Zugegeben, Vietnam ist nach Brasilien der zweitgrößte Kaffeeproduzent der Welt. Aber so viele weasel (oder Fleckenmusangs) kann es gar nicht geben wie Weasel Coffee in Hanoi verkauft wird. Zum Glück ist das auch nicht so, denn mittlerweile werden die Bohnen ohne Musang-Zutun fermentiert.

Blumenverkauf Hanoi

Mit einem Blick auf den Plastikblumen-Souk verabschiede ich mich aus der bunten Welt von Hanoi City.

Zum Abschied Kaffee

vietnamesischer Kaffee

Als Abschiedstrunk genehmige ich mir endlich auch einmal eine große Portion ultrastarken Kaffee mit Kondensmilch. Von der Uhrzeit her ist es viel zu spät, und ich muss ja nachts um vier auch schon raus für meinen Weiterflug. Aber er schmeckt köstlich, und das ist es mir wert.

Tatsächlich dachte ich vor meiner Reise nach Vietnam, was soll ich mit fünf Tagen Hanoi anfangen? Ich sollte ja weinmäßig recherchieren, hatte aber vorher keine vernünftigen Termine ausmachen können. Und in Weinhinsicht ist Vietnam ja eh ein Pionierland. Letztlich muss ich aber sagen, dass es sich für mich gleich in doppelter Hinsicht gelohnt hat. Zum einen habe ich viel mehr herausgefunden als ich vorher befürchtet hatte.

Zum anderen aber hat sich diese große unbekannte Stadt von ihrer besten Seite gezeigt. Wunderbares Wetter jetzt im November. Alles super easy, weil einfach eine Servicekultur par excellence. Total nette Menschen, ich hatte nicht eine einzige auch nur in Ansätzen unangenehme Begegnung. Und das Ganze eingebettet in eine Kultur, die auf viel eigene Schätze zurückblicken kann, gerade kulinarisch aber auch eine große Lust am Ausprobieren zeigt. Leider habe ich ja nur einen Magen, sonst hätte ich nicht nur traditionelle Suppen, sondern auch die ganzen panasiatischen Fusionsachen noch öfter probiert.

Mein kurzes Fazit deshalb: Wiederkommen!

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  1. Vielen Dank für den tollen Bericht. Ich lese deine Wein-Berichte ja auch immer sehr gerne. Dies ist aber mal eine spannende Abwechslung und sehr lebendig geschrieben. Und super tolle Bilder. Chapeau!

    Also herzlichen Dank für deine tolle Arbeit. Es macht mir viel Freude und ich habe schon viele Anregungen aufgenommen.

    Liebe Grüße,

    Holger

    • Gern geschehen! Eiogentlich wollte ich das nicht wieder so laaang machen, aber was nimmt man sich nicht alles vor 😉

  2. Grossartig! Endlich wieder: Matze in Asien! Und gewohnt hypnotisch, man muss hin, ob man will oder nicht. Danke!

  3. …danke für diesen facettenreichen Reisebericht, weit mehr als bloße Unterhaltung!

    Aus eigenen erleben, kann ich nur bestätigen. Die Vietnamesen sind sehr freundlich und extrem fleißig . Eine gute Ausbildung der Kinder hat einen ganz hohen Stellenwert in den Familien.

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