Der Bocksbeutel ist eine Flaschenform, die niemanden kalt lassen kann. Die einen sehen in ihm das Symbol fränkischer Weinidentität, die anderen belächeln ihn als Zeichen der Gestrigkeit, und wieder andere beschweren sich über seine unpraktischen Eigenschaften. Fakt ist, dass deutsche Weine mit geringen Ausnahmen nur in Franken in Bocksbeutel gefüllt werden. Und dass dort der Anteil des Bocksbeutels an allen Abfüllungen auf rund 25% zurückgegangen ist. Ich habe mich ein bisschen umgehört, auch mit dem einzigen Glashersteller des Bocksbeutels gesprochen, und möchte nun meine Sicht der Dinge präsentieren.
Spitzenwein im Bocksbeutel
Ob der Bocksbeutel etymologisch vom Bücherbeutel oder doch eher volkstümlich vom Ziegenbock (nudge nudge) abstammt, ist eigentlich relativ egal. Als Flaschenform gibt es ihn jedenfalls schon seit langer Zeit. Seitdem der Würzburger Stadtrat im Jahr 1728 beschlossen hatte, dass nur die besten Weine des eigenen Bürgerspitals dort hineingefüllt werden dürfen, war der Bocksbeutel auch für hochwertige Qualität bekannt.
Letztere Aussage ist mittlerweile allerdings etwas ins Wanken geraten. 27 Mitgliedsbetriebe zählt der VDP Franken, nach seinem Selbstverständnis zweifellos die Elite des regionalen Weinbaus. Sieben dieser Betriebe füllen ihre Spitzen-Weißen ausschließlich in Bocksbeutel ab, fünf machen das teilweise und 15 überhaupt nicht. Das ist über die Hälfte. Immerhin gibt es wichtige Vertreter*innen aus der Winzerschaft wie Andrea Wirsching, die sich offen als Bocksbeutelfan outen. Das Krasse ist aber, dass (wenn ich mich nicht täusche) unter den Bocksbeutel-Abfüllern kein einziger ist, der für seine VDP.GROSSE LAGE den neuen Bocksbeutel PS im kantigeren Design verwendet. Es tut mir leid, das so zu sagen, aber im Bereich der Spitzenweine kann man wohl nur konstatieren: mission failed.
Was tun mit dem Patienten?
Wie kann man das lösen? Nun, erst einmal sicherlich nicht durch schlichtes Ignorieren. Ganz im Gegenteil. Im Grunde müsste man, so man den Bocksbeutel liebt und ihn lebendig erhalten möchte, erst einmal hinterfragen, warum diese Flaschenform allgemein und bezüglich der PS-Version im Besonderen im angestrebten Bereich nicht so recht läuft. Interessanterweise ist das ein bisschen indirekt passiert, als Frankenwein-Marketingchef Andreas Göpfert vor einiger Zeit auf Facebook eine Abbildung ohne Text gepostet hatte. Sie sah ungefähr so aus (aus Copyright-Gründen habe ich das einfach symbolisch nachgebastelt):
Viele Flaschen im Regal, die sich alle ähneln. Aber nur ein Bocksbeutel, der sofort hervorsticht. Natürlich war das ein positiv gedachtes Bild, weil der Bocksbeutel allein durch seine Form ein absolutes Alleinstellungsmerkmal besitzt. Das hat auch niemand angezweifelt. Aber sofort kamen Kommentare wie „da sieht man ja gleich, wie schlecht er sich im Regal stapeln lässt“. Keine Frage, das ist so. Wie relevant das für den allgemeinen Kunden ist, der nicht wie ein Sommelier 20 Flaschen im Kühlschrank unterbringen muss, vermag ich nicht zu beziffern. Ich schätze aber, dass die Problematik des Regalplatzes vornehmlich uns Freaks und Profis betrifft.
Towards Objektivierung – Gespräch mit Wiegand-Glas
Es gab allerdings auch Kommentare, die auf die Kostenseite für die Winzer zielten, auf den höheren Energieaufwand bei der Herstellung. Das sind ja nun Sachen, die tatsächlich messbar erscheinen. Ich habe deshalb mit Matthias Stolz gesprochen, dem Segmentleiter Wein & Sekt bei Wiegand-Glas. Wiegand-Glas ist nicht nur der größte, sondern was den neuen Bocksbeutel PS betrifft auch der einzige Hersteller dieser Flaschenform. Zehn Millionen Bocksbeutel bringt die Firma jedes Jahr auf den Markt.
MN: Kostet der Bocksbeutel tatsächlich mehr?
MS: Ja, 10-15 Cent im Vergleich mit einfachen Schlegelflaschen, wobei es da natürlich auch auf die Abnahmemenge ankommt. Das hat primär etwas damit zu tun, dass das Herstellungsverfahren komplizierter und auch langsamer ist. Weniger Tempo bedeutet weniger Produktion pro Tag und deshalb auch höhere Herstellungskosten pro Flasche. Der schwere Schlegel kostet allerdings noch mehr. Hochwertige Flaschen kosten im Ausland teilweise weit über 50 Cent das Stück.
MN: Und wie sieht es mit der Energiebilanz aus?
MS: Also erst einmal ist es ja so, dass Glas im Prinzip endlos recyclingfähig ist, weil es wieder eingeschmolzen werden kann. Je nach Glasfarbe nutzen wir zwischen 80 und 93% Altglas, im Durchschnitt 85%.
Was bringt Altglas?
MN: Und Altglas bringt wirklich etwas?
MS: Ja, absolut. Je 10% Altglasscherben werden 3% Energie eingespart. Insbesondere emittieren wir dadurch auch 3,6% weniger CO2, das ist wichtig für das gemeinsame Klimaziel 2050. Es ist also sehr sinnvoll, die leeren Flaschen zum Altglascontainer zu bringen.
MN: Machen das alle Hersteller ähnlich?
MS: Naja, partiell, würde ich sagen. In Deutschland liegt der Altglasanteil bei neuen Flaschen durchschnittlich bei 63%, also 20-25% unter unserem eigenen. Es kann also durchaus sein, dass beispielsweise ein Bocksbeutel von uns energieärmer hergestellt wurde als eine leichte Schlegelflasche eines anderen Herstellers.
MN: Was ist denn außer der Altglassache für den unterschiedlichen Energieaufwand bei den jeweiligen Flaschenformen verantwortlich?
MS: In erster Linie das Gewicht. Es gibt zwar auch noch andere Einflussfaktoren, aber das Gewicht ist der absolut wichtigste. Ein Bocksbeutel PS wiegt zum Beispiel 560 g, ein einfacher Schlegel 415 g, schwere Schlegel und ausländische Bordeaux teilweise über ein Kilogramm. Je schwerer, desto ungünstiger in der Bilanz. Was sich auch noch auswirkt, sind die Rahmenbedingungen. Wir sind ein fränkischer Hersteller, und die Transportwege zu den fränkischen Winzern sind entsprechend kürzer, als wenn man einen Hersteller aus Italien nehmen würde. Oder eben wir den Bocksbeutel nach Italien liefern…
Bocksbeutel alt vs neu
MN: Stellen Sie vom alten Bocksbeutel noch genauso viel her wie vom neuen, kantigeren PS?
MS: Nein, viel weniger. Den alten Bocksbeutel gibt es in den Farben masson, weiß und oliv, und der wird zwei- bis dreimal im Jahr hergestellt. Der PS wird in normalgrün produziert, in weiß und in masson. Allein die Genossenschaften nehmen so viel davon ab, dass der praktisch immer hergestellt wird und auch in kleineren Mengen verfügbar ist.
MN: Wenn man sich die VDP-Betriebe anschaut, entscheiden die sich aber alle für die alte Form…
MS: Ja, das stimmt. Bürgerspital, Juliusspital und Zur Schwane bekommen sogar eine besondere Flasche mit ihrem jeweiligen Wappen auf der Schulter. Ich könnte mir vorstellen, dass das damit zusammenhängt, dass im LEH häufiger der Bocksbeutel PS im Regal steht. Mit anderen Worten, die Verbraucher assoziieren damit eher preisgünstigere Weine. Allerdings kann man das auch anders lösen. Bordeaux füllt zum Beispiel seit Jahrzehnten den teuersten Wein in die billigste Flaschenform. Der Flaschenform wird also nicht überall dieselbe Bedeutung beigemessen.
MN: Und wie stehen Sie selbst zum Bocksbeutel?
MS: Ich finde die Form wunderschön, egal ob alt oder neu, auch als Symbol regionaler Identität. In Deutschland ist das aber manchmal so, dass man eher auf Probleme aufmerksam macht, besonders im Handling. Im Ausland habe ich die Erfahrung gemacht, dass eigentlich alle den Bocksbeutel mögen. Manchmal sind das aber auch einfach Wellenbewegungen, wie bei vielen anderen Modedingen. Wer weiß, vielleicht gilt der Bocksbeutel bei der nächsten Geisenheim-Generation ja als ultracool…
Mein Fazit
Na, das war doch mal ein interessantes Interview. Ich fasse die ganze Bocksbeutelei aus meiner Sicht also noch einmal zusammen.
- Ich finde den Bocksbeutel auch fantastisch, den alten noch besser als den neuen. Rein haptisch kommt keine Flaschenform auch nur annähernd an den alten Bocksbeutel heran. Das ist ein handschmeichelndes Gefäß, das sich zur Not sogar als Blumenvase oder schlichtes Designobjekt eignet. Meiner Meinung nach wird viel zu sehr vergessen, dass es auch Elemente wie „Wein als Geschenk“ gibt.
- Dass da marketingmäßig noch jede Menge Luft nach oben ist, liegt auf der Hand. Möglicherweise hätte man auch einfach mit dem alten Bocksbeutel noch fünfzehn Jahre aushalten können, bis aus altbacken revivalfähig wird. Und wahrscheinlich sollte man auch gar nicht explizit in der (weitgehend männlich dominierten) Weinszene nach Influencern und Followern schauen, sondern unter Menschen mit gutem Geschmack, die man durchaus anderweitig findet. Meine ich ernst.
- Es wird aber keinen Sinn und auch keinen Erfolg haben, die VDP-Winzer jetzt zum Bocksbeutelgebrauch zu verdonnern. Genauso wenig, wie den Genossen jenen zu untersagen, wenn der Inhalt nicht festgelegten Kriterien entspricht. Jedenfalls solange es sich um solche Kategorien wie Oechslewerte handelt, die ja ehrlich gesagt dank der vergangenen Hitzejahre komplett bedeutungslos geworden sind. So etwas wie „trockener Silvaner mit Lagenbezeichnung“ (also tatsächliche regionale Identität) wäre aber durchaus eine Möglichkeit. Oder aber nur aus Weinbergen mit ganzjähriger Begrünung, the times they are a-changin’…
- Summa summarum bleibt der Bocksbeutel als Flaschenform ein Thema, das niemanden wirklich kalt lässt. Das schrieb ich ja schon zu Anfang. Und genau auf diesem emotionalen Vorteil lässt sich doch aufbauen.
Hallo Matthias,
ich fand Bocksbeutel immer klasse und mir gefallen sie weiterhin.
Ich sehe noch drei Vorteile dieser Flaschenform:
1. Wenn man mit mehreren Leuten am Tisch sitzt und Weine probiert, versperren die BBs nie die Sicht auf den Menschen gegenüber.
2. Bocksbeutel fallen aufgrund ihres niedrigeren Schwerpunktes nie um! Was in feucht-fröhlicher Weinrunde zu späterer Stunde nicht zu unterschätzen ist 😉
3. Man kann sie auch in einen vollen Kühlschrank irgendwie immer gut reinkriegen.
Die übelste Flaschenform sind weiße Bordeauxflaschen, hässlich alle gewollt poppigen blauen Flaschen; der hässlichste Verschluss ist der Billigschrauber wie auf der Seltersflasche.
Beste Grüße!
Das sind doch mal drei Vorteile aus dem echten Leben 🙂 ! Wäre ich spontan kaum drauf gekommen, stimmt aber alles absolut. Ich könnte mir direkt einen Werbespot mit entsprechenden Szenen vorstellen 😉
Der Bocksbeutel hätte ja zur Stil-Ikone werden können, als 2007 der Star-Designer Luigi Colani zusammen mit dem Winzer German König ankündigte, einen exklusiven Bocksbeutel eigens für den Weinort Randersacker zu entwerfen. Ein Jahr später war das mit ausladenden Rundungen verzierte Design-Kunstwerk fertiggestellt. Colani nannte es “76% Rander-Sack-er”. Es existieren aber nur die Muster-Entwürfe dieser Flasche. Denn leider hätten Colanis ausufernde Formen zu ebensolchen Preisen bei der industriellen Produktion geführt. Schon ein unbefüllter Rander-Sack-er hätte etwa 8 bis 10 Euro gekostet. Wer mehr Wert auf den Inhalt legt hat also guten Grund, weiterhin den alten Saurier-Bocksbeutel zu schätzen!