Pep-pep-pep-pep. Zweitakter. Es ist kalt draußen, die feuchte Luft und die Abgase vermischen sich zu einem schlierenden Nebel. Langsam gehe ich die Reihen der Autos ab – oder vielmehr, ich humpele sie ab mit meinem Gipsbein. Alle bleiben in ihren Autos sitzen, starren nach vorn. Immerhin stehen wir schon seit einer halben Stunde im Stau und sind immer noch kaum hinter Magdeburg. Ob das so eine gute Idee war, heute hier zu sein? 10. November 1989, Transitautobahn. In der Nacht war die Mauer gefallen, jedenfalls so halb. 30 Jahre ist das jetzt her. Davon soll dieser Text berichten. Von den letzten Tagen in Westberlin als Insel. Vom Umbruch, von neuen Ufern. Und wie ich ganz subjektiv damit umging, 20 Jahre alt, Auszubildender in Berlin.
Ja natürlich, ihr seid immer noch auf Chez Matze, dem Weinblog. Das soll auch so bleiben. Aber da ich ja ganz zufällig im Jahr 1989 in Berlin lebte (bei kaltem Wasser und Pfannenpizza) und derzeit in allen Medien rauf und runter über den Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren berichtet wird, da dachte ich mir, vielleicht könnte ein persönlicher Blick auf diese Zeit ganz interessant sein.
Ost und West
Ich komme aus dem Westen. Das ist eine Tatsache, die ich nicht gern speziell betone, einfach weil sie für weit über 99% der Alltagssituationen komplett irrelevant ist. In diesem Kontext bekommt sie aber natürlich eine Bedeutung. Allerdings bin ich kein so lupenreiner “Wessi”, wie das viele noch weiter im Westen waren. Das liegt primär daran, dass die Familie meines Vaters im Rahmen ihrer nachkrieglichen Migration zur Hälfte in Deutschland-Ost und zur Hälfte in Deutschland-West steckengeblieben war. In vier verschiedenen Landkreisen, die aber alle zum “Zonenrandgebiet” zählten. Auf diese Weise bin ich, darüber kann ich sehr dankbar sein, mit den Errungenschaften des kleinen Grenzverkehrs aufgewachsen.
Meine Eltern waren jedes Jahr zu allen möglichen Familienfesten in der DDR (ich als Kind auch zumindest einmal), und umgekehrt bekamen wir ebenfalls Besuch. Es wurde viel hin- und hergeschreiben, zur Jugendweihe wie zur Konfirmation gratuliert, Alltagsherausforderungen diskutiert, Kuchen gegessen. Für mich war die DDR deshalb kein abstraktes Gebilde, kein Klassenfeind oder so etwas, sondern das waren die Verwandten, das waren die bunten Briefmarken, das “vierte Programm” im Fernsehen (da wurden Handball und Leichtathletik gezeigt) – und, nachdem ich nach der Schule im Herbst 1988 zur Ausbildung nach Berlin gegangen war, auch die Fahrten auf der Transitautobahn.
Where were you when the wall came down?
Am Morgen des 10. Novembers 1989, ein Freitag übrigens, war ich wie immer auf dem Weg zum Unterricht. Ich besaß damals die Angewohnheit (gut, wenn man sich an sowas erinnert…), an Wochenenden gern mal durchzumachen. Da ich aber gleichzeitig unter der Woche immer um halb acht bei der Arbeit zu erscheinen hatte, ging ich manchmal abends schon so gegen 19 Uhr ins Bett um nach- und vorzuschlafen. Mit anderen Worten: Was inzwischen passiert war, war mir komplett entgangen. Ich wunderte mich bloß, was denn so früh morgens schon in der Stadt los war. Alles voller Menschen! Und zwar nicht solche, die zur Arbeit eilten, sondern solche, die in Grüppchen herumstanden und sogar an den noch geschlossenen Schaufenstern vorbeibummelten. Das waren doch nicht etwa alles Ostberliner?
Doch, das waren sie, und ich konnte es daran erkennen, dass sie Stoffbeutel mit sich führten statt Plastiktüten. Was mir vorher in meinem kleinen Dorf am Harzrand noch völlig unbekannt gewesen war, hatte ich im Berlin der Jugendkulturen gelernt: Kleinste Details an Kleidung, Frisur und Accessoires zeigten an, welcher Gruppe du angehörst. Egal ob bewusst oder aus Versehen.
Beim Unterricht angekommen, stürmten meine Mitschüler schon auf mich zu: “Hast du’s auch mitbekommen? Die Mauer ist weg!” Also nicht direkt weg, aber es schien ganz offenbar die Möglichkeit zu geben, den vormals verbotenen Teil der Stadt zu betreten. Nun gab es ja seit Monaten den Druck vieler DDR-Bürger, die ihr Land verlassen wollten. Aber bislang mussten sie den Umweg immer über Ungarn und neuerdings die ČSSR machen. Jetzt aber nicht mehr. Und es musste auch nicht das Verlassen der Republik für immer sein, sondern es ging auch ein kurzer Besuch. Einmal auf dem Ku’damm vorbeischauen.
Zur Mauer – oder nicht
Die anderen Mitschüler planten natürlich, nach dem Unterricht gleich loszugehen zur Mauer. Vielleicht ginge es ja nicht nur in eine Richtung, sondern auch in die andere. Und ich? Ich hatte vor längerer Zeit schon ausgemacht, an genau diesem Wochenende, na klar, in meine Heimat zu fahren. Irgendeine Feier, ich weiß es nicht mehr genau. Die Mitfahrgelegenheit hatte ich auch schon arrangiert.
Es kam aber noch etwas dazu: Massenaufläufe bereiten mir Unbehagen. Egal ob es gegen irgendetwas geht oder das Gefühl kollektiver Euphorie überwiegt. Ich skandiere keine Parolen, weder auf Demos noch im Fußballstadion, sowas wie Love Parade war mir eher unheimlich, statt nach Roskilde bin ich lieber auf ein Mini-Festival nach Niederbayern gefahren. Warum das so ist, ich weiß es nicht. Vielleicht etwas im kollektiven Familiengedächtnis. Wie auch immer, falls die Mauer tatsächlich “weg” sein sollte, wäre es auch am Montag noch früh genug, einmal nachzuschauen.
Im Stau des Jahrhunderts
Es ging also los an diesem kalten und grauen Tag. Wie der Fahrer hieß, weiß ich nicht mehr, aber er und die Mitfahrerin wollten auf jeden Fall irgendwo nach Nordhessen. Erst lief auch noch alles normal, aber bei Magdeburg stockte der Verkehr plötzlich. “Vielleicht ein Unfall”, meinte der Fahrer. Ich war mir da nicht so sicher: “Du, kann das sein, dass das schon der Rückstau von der Grenze ist?” “Aber das sind doch noch 40 Kilometer!” “Naja…” Und tatsächlich war es so, der legendäre Stau des Jahrhunderts. Und wir mittendrin. Abfahren durften wir nicht von der Autobahn, weil die DDR immer nur ein Transitvisum vergab. Zurück machte auch keinen Sinn. Vielleicht würden sie ja die Grenzkontrollen ganz sein lassen und es ginge dann schneller…
Zunächst war davon jedoch nichts zu spüren. Es ging kaum vorwärts. Irgendwie konnte ich mit meinem blöden Gipsbein (Sportunfug natürlich) aber auch nicht hinten sitzen. Also tockte ich draußen auf der Autobahn an der Autoschlange entlang. Interessanterweise war von euphorischer Stimmung schlichtweg gar nichts zu spüren. Alle blieben in ihren Autos sitzen. Alle ließen die Motoren die ganze Zeit laufen. Angespanntheit. Das konkrete “Ob das wohl gut geht?” und das latente “Und was kommt dann?”. Irgendwann hatten wir den Grenzkontrollpunkt erreicht, tatsächlich mit Kontrollen. Erst ein paar Meter weiter gab es einen kurzen Moment, an dem feiernde Menschen eine Gasse bildeten. Fenster runtergekurbelt, Hände geschüttelt, Glück gewünscht, dann waren wir auch schon durch. Die anderen hinter uns wollten auch noch weiter. Um halb vier nachts kam ich endlich in meinem Heimatdorf an. Der Fahrer brachte mich bis vor die Haustür, “ist eh wurscht heute”.
Als vieles möglich erschien
Die Zeit, die dann folgte, war vielleicht die beste, die Berlin je erlebt hat. Oder jedenfalls (eine minimale Einschränkung) die beste, die ich in Berlin erlebt habe. Alles schien plötzlich möglich. Nichts hingegen schien unvermeidlich. Ja gut, Kanzler Kohl wurde beizeiten zugejubelt, was mir wie ein grotesker Irrtum der “Gechichte” vorkam. Denn es waren doch Gorbi und Konsorten, die hier Veränderungen zuließen, und die DDR-Opposition, die sie einforderte. Jedenfalls waberte zu der Zeit an Kneipentischen die Überlegung herum, dass es vielleicht doch möglich wäre, aus dieser neuen Freiheit etwas ganz anderes zu basteln. Nicht mehr USA hier und UdSSR da, und Andocken entweder hier oder da, sondern tatsächlich eine neue Zeit.
Ich wohnte ja im Wedding, also wirklich nicht weit von der Mauer entfernt. In den nächsten Wochen konnte ich immer wieder den Kugelschreiber nehmen und auf meinem Stadtplan einen neuen Grenzübergang einzeichnen. Und zwar einen in beide Richtungen. Zunächst musste man noch die üblichen 25 DM Zwangsumtausch zahlen, aber bald war auch das vorbei. Als nächstes konnte man sogar mit dem Fahrrad die Grenze überqueren, dann wurde überhaupt nicht mehr kontrolliert, und dann waren die Grenzübergänge auch egal, weil die Grenzanlagen abgebaut wurden. Die ganze Mauer. Stein für Stein.
Was 1990 anders wurde
Ich weiß nicht genau, wie sich das für alteingessene Berliner angefühlt haben muss, egal ob in Ost oder in West. Für mich gab es jedenfalls im Alltag zwei ganz entscheidende Veränderungen: Erstens konnte ich nicht mehr im Penny am Humboldthain einkaufen, weil die Schlange um den Häuserblock ging. Ich musste zu Kaiser’s gehen. Und zweitens konnten wir nun abends “auf der anderen Seite” eine neue Welt entdecken. Eine Welt, die nicht nur neu für uns war, sondern auch eine, die sich fast täglich wandelte. “Wir”, das waren eigentlich nur mein Kumpel M und ich. Die anderen waren irgendwie raus bei unseren Aktivitäten. Oder auch wir bei deren. M besaß seit langem eine Faszination für den Osten der Stadt, den Prenzlauer Berg, Arbeiter-Bier-Punkmusik-Raucherkneipen. Ich hatte mir gerade die neueste Platte der Pixies gekauft, mochte es ein bisschen künstlerisch-rough. Passte also.
Es gab Konzerte im Tacheles, zu denen plötzlich die halbe Welt des unternehmungslustigen Ex-Ostblocks zusammenkam. Junge Leute aus Prag oder Warschau, die auch zum ersten Mal reisen durften. Das Berliner Pilsener kostete 50 Pfennige. In meinem kleinen Geldbeutel hatte ich jetzt immer zwei Währungen dabei. Die Zitty brachte ein Sonderheft “Essen, Trinken, Tanzen Ostberlin” heraus. Ich glaube, ich habe es sogar noch auf dem Dachboden. Zuerst war ich etwas enttäuscht, denn obwohl eine ungeheure Zahl an Adressen aufgeführt wurde, gab es inhaltlich kaum etwas zu lesen. Es hätte mich schon interessiert, ob denn diese Mokka-Milch-Eis-Bar ein Popper-, Punk- oder Skinhead-Treff ist, aber offenbar kannte die Redaktion außer den Adressen auch noch nichts. Also mussten wir selbst hingehen.
Ausklang und weiter
Nach der großen Möglichkeitsauslotung der ersten Monate des Jahres 1990 folgten alsbald aber auch Rückschläge. Ich musste Dinge zur Kenntnis nehmen, die ich im Überschwang nicht wahrgenommen hatte. Zum Beispiel, dass es arrogante Westdeutsche gibt, die sich in der “neuen Kolonie” welterklärend und gewinnabgreifend umtaten. Zum Beispiel auch, dass es keineswegs eine neuartige politische Struktur geben würde, denn die letzten Volkskammerwahlen der DDR ergaben 41% CDU und somit das faktische Favorisieren des Modells “Aufgehen im System West”. Und zum Beispiel auch, dass Ostberlin nicht nur aus Holzfacharbeitern und Pastorentöchtern aus der Kastanienallee besteht, sondern auch aus rechten Hools aus Lichtenberg. Ohnehin spürte ich eine zunehmende Aggressivität in der Stadt, vielleicht sogar in der Gesellschaft als Ganzem. Das Klima wurde bereits 1991 deutlich härter, und ich glaube, ich war nah genug dran, um das direkt wahrzunehmen.
Ein weiteres Jahr später, im Herbst 1992, war es das dann erst einmal mit mir und Berlin. Ich verließ die Stadt, natürlich ohne zu wissen, dass ich gut 15 Jahre später noch einmal wiederkommen würde.
Für mich war meine erste Berliner Zeit geprägt von Neugier, von Unbedarftheit, auch von Widersprüchen in meiner persönlichen Biographie. Manche werden diese Zeit vielleicht ähnlich erlebt haben wie ich, weil sie ähnliche Rahmenbedingungen hatten. Andere, deren Leben sich in diesem Moment völlig anders gestaltete, werden möglicherweise nur sehr wenig wiedererkennen in meinen Schilderungen. Aber schon während ich dort war, kam es mir manchmal so vor, als hätte nach doch weniger dynamischen Jahren plötzlich jemand auf die Speed-Taste gedrückt. Berlin zur Zeit des Bröckelns der Mauer, das war Geschichte im Sekundentakt. Schön, dass ich dabei war.