Beim Anflug auf die koreanische Hauptstadt ahnt man bereits: Dies kann kein wirklich unbedeutender Ort sein. Über viele Kilometer ziehen sich die Hochhäuser dieses mehr als 25 Millionen Einwohner zählenden Ballungsraums hin, stets unterbrochen von ein paar grünen Flecken Park, Wald oder Berg. Seoul ist eine Stadt, die gar nicht so viele westliche Touristen anzuziehen scheint. Dabei gibt es hier für Shopper, Foodies und Kulturinteressierte jede Menge zu erleben. Tauchen wir also ein bisschen ein in das Häusermeer. Unten angekommen werden wir das tun, was die Koreaner auch tun: lokale Spezialitäten essen, spazierengehen, einkaufen und uns kostümieren.
Spazieren gehen und lokale Spezialitäten essen – das ist doch eine sehr angenehme Kombination. Nun, nicht beides gleichzeitig, aber unmittelbar hintereinander. Auf halber Höhe am Berg Namsan, der so etwas wie das grüne Herz der Metropole ist, befindet sich das Restaurant Mokmyeoksanbang. Hört sich ein bisschen kompliziert an, ist jedoch nach dem alten Namen des Namsan benannt. Hier gibt es das einzige Bibimbap-Restaurant der Stadt, das Eingang in den (letztes Jahr mit großem Getöse eingeführten) Guide Michelin gefunden hat. Ich bin auf dem Namsan-Rundweg schon öfter an dem Haus vorbeigegangen, weil ich es für einen der üblichen Touristenschuppen gehalten hatte. Aber weit gefehlt. Hier wird nach alter Väter und Mütter Sitte gekocht: traditionelle Gerichte, immer selbst frisch zubereitet, und das mit hochwertigen Zutaten. Die Lieferanten kann man auf Fotos am Eingang betrachten.
Bibimbap ist eines der bekanntesten koreanischen Gerichte, wird heutzutage aber gern von modelartigen Figuren als “Reis mit fadem Gemüse” zum Abnehmen zweckentfremdet. Im “Mokmyeoksanbang” gibt es erst einmal ein festes Set, bestehend aus einer säuerlichen Sojasprossenbrühe (rechts), scharf eingelegtem Pak Choi (Mitte) und einem Assortiment an Reisbeigaben (oben). Dann kommt die Schüssel mit Reis und – in diesem Fall – sehr lang in guter Brühe gekochtem Bulgogi. Das Ganze ist derartig saftig und geschmackvoll, dass ich wahrhaftig zugeben muss: Auch (oder vielleicht gerade) bei wenigen, einfachen Zutaten kann es große Unterschiede geben. Man mischt übrigens alle Dinge der oberen Reihe in die große Schüssel, rührt mit dem Löffel um und isst dann. Was ich noch nicht erwähnt habe: Es handelt sich hier um ein Selbstbedienungsrestaurant. Sowas dürfte in europäischen Restaurantguides selten sein, vermute ich mal.
Das schöne Ausflugsrestaurant liegt – ich erwähnte es ja schon – direkt am Rundweg um den Namsan herum. Tagsüber gehen hier ältere Menschen in nagelneuen Sportklamotten ihrer Wege, abends kommen dann die Jogger nach der Arbeit. Da hier auf vielleicht drei Kilometern auf der Außenseite eine feine Tartanbahn verlegt wurde, könnt Ihr – wenn Ihr denn wollt – auch Eure Spikes anschnallen und ein paar Bergaufsprints absolvieren.
An der Ostseite des Berges nimmt der Laufverkehr stark ab. Der Weg besteht dann auch nicht mehr aus einer breiten Bahn, sondern aus einem Pfad, der allerdings der Rutschgefahr wegen mit einer fest geknüpften Bastmatte ausgelegt ist. Als ich das erste Mal in Seoul war, bin ich an fünf Tagen hintereinander jedes Mal um den Namsan gewandert. Diesmal hatte ich nur für eine Tour Zeit.
Wandern und essen in einem Abwasch hatten wir ja schon. Jetzt kommen Sehenswürdigkeiten besichtigen und sich kostümieren, in dieser Kombination sehr wichtig für die Koreaner. Wenn Ihr im Norden der Stadt unterwegs seid, werdet Ihr überall kleine Läden finden, in denen man sich Hanbok-Kleidung ausleihen kann. “Hanbok” heißt eigentlich nur “koreanische Kleidung”, meint in diesem Fall aber in der Regel die Gewänder, die zur Joseon-Zeit angesagt waren. Tante Wiki weiß mehr darüber. Gerade am Wochenende werdet Ihr Unmengen junger Leute antreffen, die in den traditionellen Stadtvierteln und eben insbesondere hier im Gyeongbokgung-Palast in Hanbok-Kleidung unterwegs sind und sich fröhlich gegenseitig fotografieren. Der Palast mit seinen weiten, fast mongolisch wirkenden Freiflächen und den vielen kleinen Häusern mit Durchschlüpfen und prächtigen Dächern ist an sich schon beeindruckend genug. Ich finde aber, dass das Ensemble durch die heitere Kostümschau noch eine ganz besonders nette Note bekommt.
Auf diesem Foto seht Ihr ein im Guide Michelin mit dem “Bib Gourmand” ausgezeichnetes Restaurant. Im zweiten Stock, man muss schon ein bisschen suchen. Außerdem seht Ihr einen Klamottenladen, der im Stil eines “General Store” noch allerlei andere Dinge wie Designobjekte, Bücher, schöne Postkarten und alles mögliche andere anbietet, was Ihr ganz sicher kaufen werdet – aber nicht primär wegen seines praktischen Nutzens. Ich bin sehr dankbar, dieses Frühjahr zum ersten Mal in Kalifornien gewesen zu sein. Denn jetzt kann ich es viel besser einschätzen, worauf man sich hier im arty Stadtviertel entlang der Samcheoung-ro bezieht. Und in dem Restaurant namens Bongpiyang gibt es als Spezialität kalte Nudeln (Naengmyeon) auf nordkoreanische Art. Aus einem Nordkorea früherer Zeit, versteht sich. Selbstverständlich habe ich es dabei wieder mal geschafft, mir rote Soße aufs Hemd zu kleckern…
Ein bisschen weiter unterhalb in Richtung der Metrostation Anguk kommt Ihr am Biosupermarkt Nenia vorbei. Es lohnt sich, diese Läden (auch den Dure-Coop an der Pirundae-ro kann ich sehr empfehlen) einmal anzuschauen. Die kooperativen Wirtschaftsformen, lokale und nachhaltige Herstellung, gemeinsamer Direktvertrieb, sind in Japan und Südkorea weit verbreitet. Und neben traditionellen bäuerlichen Lebensmitteln werdet Ihr auch einige interessante Dinge dort entdecken können, die Ihr vielleicht nicht erwartet hättet. Ich hatte beispielsweise nicht erwartet, mit dem “Nenia” den einzigen mir bekannten Ort in der Weinwüste Seoul vorzufinden, an dem man französische Vins Naturels kaufen kann. Gilles Azzoni, Terres Promises, Sébastien Riffault, ganz verblüffend, aber irgendwie passt es zu diesen sehr rootsigen Orten.
Traditionelle Getränke in Korea sind vor allem Tees (oder vielmehr “Infusions”, wie die Franzosen sagen würden) aus… tja, aus allem Möglichen. In den kleinen Konbinis an der Straßenecke, die 24 Stunden am Tag geöffnet haben, findet Ihr überall die industriekompatible Version davon. Egal ob Mais, Gerste, koreanische Rosine (Hovenia dulcis), Klette, Hafer oder Chrysantheme, Tees kann man aus allen denkbaren getrockneten Pflanzenteilen bereiten. Rat No. 1: Probiert unbedingt geröstetes Getreide, und hebt Euch die Klette für einen fortgeschritteneren Zeitpunkt auf. Rat No. 2, an unsere heimischen Hersteller gerichtet: Weshalb es bei uns in aller Regel nur süße, fruchtige oder aufputschende Softdrinks gibt, ist mir ein Rätsel. Solche Pflanzenauszüge passen auch als Getränk fantastisch zum Mittagessen.
Zur heißen Jahreszeit trinkt man in Korea auch gern etwas Kaltes. Hier im Teehaus Yetchatjib in Insadong gibt es zum Beispiel fantastischen Grünpflaumen-“Tee” mit Eiswürfeln und Zedernüssen. Dazu wird ein federleichtes Puffreisgebäck gereicht.
Und noch eine Sommerkreation: In Korea wird zwar zu jeder Jahreszeit “Shaved Ice” (Bingsu) angeboten, aber im Sommer ist es natürlich besonders beliebt – und der Variantenreichtum entsprechend groß. So genannte “Korean Dessert Cafés” werdet Ihr ohne Schwierigkeiten überall in Seoul finden; die am weitesten verbreitete Kette heißt Sulbing. Bei Sulbing im aus allen Nähten platzenden Shoppingviertel Myeongdong habe ich die oben abgebildete Variante probiert, “Melon Sulbing”, mit einer veritablen Netzmelone außen und Eis, Rote-Bohnen-Mus, Mochis und Frosties innen. Eine zugegeben leicht irre Kreation, die in Japan ein Vermögen gekostet hätte (hier sind es gut 10 € für zwei). Für klassischere Naturen gibt es aber auch Mango, Erdbeere oder Matcha.
Gegen die Hitze kann man sich durch eine entsprechende Kleidung schützen, durch kühlendes Essen und Trinken – oder auch von außen. Total angesagt sind in Seoul im Moment sehr kleine, batteriebetriebene Ventilatoren, die man in der Tasche trägt und sich bei Bedarf vors Gesicht hält. Typisch Korea ist dabei der “Cute Bear Mini Fan”, also nicht nur nützlich, sondern auch noch niedlich. Für uns Westerner scheint es fast so, als hätten die Koreanerinnen und Koreaner einen gewissen Hang zu Kitsch…
Only in Korea: Die Wahrscheinlichkeit, von einer aufdringlichen Crèmetube angemacht zu werden – oder um präziser zu werden, von einer Tube CC Cream “brightening moisturizing cover base” mit Lichtschutzfaktor 30 – ist im Allgemeinen äußerst gering. Außer in Seoul.
Meine koreanische Kollegin konnte sich das gar nicht vorstellen: “Was, die jungen Mädchen bei euch mögen keinen gegrillten Schweinebauch?! Das ist doch das Beste überhaupt!” Mag sein, aber es gibt auch einen großen Unterschied zwischen dem fettwabschigen Schweinebauch, den ich durchaus mit Mühe im Eintopf hinuntergeschluckt habe, und diesem knusprig-kross-saftigen Exemplar aus einer Bratstube im Stadtviertel Chungmuro. Dabei wird das Fleisch auf einer schrägen Eisenplatte (damit das Fett ablaufen kann) zuerst von beiden Seiten längere Zeit gebraten. Dann schneidet man es mit der Schere in Häppchen und brät es zum zweiten Mal von allen Seiten sehr kurz und sehr scharf an. Das Volumen des Häppchens hat sich danach halbiert, der Wohlgeschmack verdoppelt.
Sozusagen als Ausgleich für den ständigen Schweinebauch hat die Stadtverwaltung an vielen Stellen Fitnessanlagen errichtet. Auf beiden Seiten des Flusses Hangang gibt es dabei eine Radfahr- und Joggingstrecke und zwischendrin immer wieder Ecken mit Fitnessgeräten. Darüber führt die mehrspurige Autobahn, was insofern praktisch ist, als darunter niemand nass werden muss. Auf mich wirken diese Anlagen wie eine Mischung aus Venice Beach und Staatssozialismus. Aber sie sind ungeheuer koreanisch, und wenn Ihr am Wochenende einmal etwas machen wollt, was 100% einheimisch ist, dann geht dorthin. Radler und Jogger lassen übrigens während der Sportausübung gern mal ihr Handy auf voller Lautstärke Musik spielen. Oft ist das Trot, eine Schlagerform, die wie die Flippers auf Pentatonik klingt. Häufig gibt es auch 80er Jahre Stampfrhythmus, seltener K-Pop oder Gniedelgitarren. Glaubt mir, ich habe die Stile durchgezählt.
Außer von Crèmetuben muss man eigentlich in Seoul nicht befürchten, auf der Straße irgendwie komisch angesprochen zu werden. Neulich auf der Rolltreppe hinab zur U-Bahn war es aber soweit, ein vernünftig wirkender älterer Herr tat es. Und überreichte nach der Segnung einen Zettel mit Bibelzitaten. Nicht alle Koreanerinnen und Koreaner sind notwendigerweise auch religiös, aber wer es ist, der ist es richtig.
Große Autos lieben die Koreaner über alles. Das merkt man nicht nur in Gesprächen, sondern man sieht es auch im Straßenbild, das sich eklatant von demjenigen Tokios unterscheidet. Wer hier einen Kleinwagen fährt, verdient zu wenig Geld für einen größeren. Mein sympathischer Gesprächspartner aus der Administration fuhr beispielsweise mit einem riesigen SUV zum Restaurant. Und auch in Gangnam, dem Mekka der Beauty-Kliniken, gilt offenbar: ein frisches Gesicht passt gut zu einem dicken Auto.
Wenige Meter weiter auf der von kleineren Läden gesäumten Shopping-Straße Garosu-gil fühle ich mich wieder an U.S.-amerikanische urbane Bewegungen erinnert: Alle Straßenbäume sind umstrickt.
Es ist dieses Nebeneinander von globalem Hipstertum, von Elementen Marke “dicke Brieftasche”, von koreanischen Traditionen und von Refugien einfachen Arbeiterlebens; es ist diese Gleichzeitigkeit von Bewegungen, die diese dynamische Stadt für mich so interessant macht. Hier im Druckerviertel von Chungmuro, wo Hefte, Plakate und Werbebroschüren häufig bis spät in die Nacht hinein gedruckt werden, hier werdet Ihr auch das “alte” Seoul der einfachen Leute, der zweigeschossigen Bauten und der Nachbarschaftstreffs finden. Wer sich als Ortsfremder im Plastikstuhl-Restaurant zu sehr auf dem Präsentierteller fühlt, kann sich ja zumindest ein Getränk an der Bude kaufen.
Zum Abschluss noch einmal Guide Michelin, Bib Gourmand. Obwohl ich in diesem Restaurant schon vorher zufällig einmal war. Auch da spürte ich bereits, dass dies hier ein besonderer Ort ist, ein besonders beliebter zudem, und daran und an allem anderen hat sich seit der Prämierung überhaupt nichts geändert. Der Laden heißt Chungmuro Jjukkumi Bulgogi, und es gibt dort seit 40 Jahren ausschließlich gegrillten Jjukkumi, also Goldfleckenkraken, dazu das Muskelfleisch der Zerbrechlichen Steckmuschel. Und zwar mariniert in einer Spezialversion der berühmten scharfen roten Sauce.
Gegrillt wird alles direkt am Tisch, immer ultrafrisch, und begleitet von Krügen hellen Lagerbiers. Zwar kann man mit der Grillzange auch alles selbst machen, aber die Profis im Laden eilen gern herbei, drehen die Kraken rechtzeitig um und legen sie auf den Teller. Die Atmosphäre ist laut und fröhlich, das Publikum sehr gemischt und die Speise wirklich köstlich – wenn man keine Angst vor Schärfe hat. Um Punkt 21 Uhr schließt das Etablissement allerdings, in Korea wird früh gegessen.
Und so bietet es sich an, nach dem Essen noch mit der Seilbahn hoch zum Namsan zu fahren und die Lichter der Großstadt langsam angehen zu sehen, während sich die scharf gezackten Konturen der Berge im Hintergrund langsam auflösen. Goodbye Seoul! Wann ich wiederkomme, weiß ich noch nicht, aber dass es so sein wird, dessen bin ich mir sicher.
Danke für den sehr schönen Bericht – vielleicht komme ich noch nach Seoul – verlockend ist es jedenfalls.
Pingback: (Wieder-)Entdeckungen in Nürnberg - Chez MatzeChez Matze