Es passierte, als ich gerade um eine Felsnase ging und dabei versuchte, ein besonders eindrucksvolles Foto einer hereinströmenden Welle zu schießen. Danach war ich überspült bis zum Bauchnabel, die Hose zum Auswringen nass, und ich allein in einer abgelegenen Bucht am Novembermeer. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, während meines Aufenthalts in Nettuno ein bisschen über das Thema “Männer am Meer” nachzudenken. Jetzt würde ich, bis die Hose wieder getrocknet war und ich mich langsam in den Ort zurücktrauen konnte, genug Zeit haben, genau das zu tun.
Worüber denken Männer am Meer nach, wenn sie auf die Weite der Wogen schauen? Versuchen sie, mit sich und ihrem Leben auf dem Land ins Reine zu kommen? Oder zieht es sie voller Sehnsucht und zivilisatorisch unterdrückter Abenteuerlust zumindest gedanklich in die große Ferne hinaus? Spüren sie das archaische Gefühl vom Kampf der Elemente, geheim vererbt über Jahrtausende? Oder wird ihnen der Kopf frei vom Alltagstrott, und sie entwickeln Relativitätstheorien, kategorische Imperative und neue Gesellschaftsmodelle in der gelösten Stimmung des schwebenden Geistes?
Die Probe aufs Exempel, Selbstversuch. Ich ziehe die pitschnasse Hose aus und breite sie auf einem Stein in der Sonne aus. Dann schaue ich aufs Meer. Die Wellen kommen herein, und ich frage mich bei jeder neuen, ob sie wohl den Fuß des Steins erreichen wird. Dann ziehe ich das T-Shirt auch noch aus, es ist heiß in der Sonne. Ich finde zwei Schilfrohre, die ich abwechselnd wie Speere aufs Meer hinausschleudere. Und das Meer apportiert sie mir jedesmal wieder zurück an den Strand. So vergeht die Zeit. Und mir ist noch nicht einmal langweilig. Bin ich der einzig schlichte Mann, der sich allein am Meer nicht viel anders verhält als ein Elfjähriger?
Als die Hose wieder trocken ist, beschließe ich, am Meer entlang nach Anzio zu gehen. Um Mittag zu essen. Und um zu sehen, was die anderen Männer am Meer so machen.
Der erste Mann, den ich sehe, kommt mir zu Fuß mit einem Neoprenanzug entgegen. “Puh”, meint er, “ganz schön warm!” Der zweite Mann ist wesentlich jünger. Er hat einen Ghettoblaster dabei (so nannte man das in meiner Generation), aus dem Rapmusik tönt, und er übt auf einer Art Trampolin einen Überschlag.
Die nächsten Männer stehen gestaffelt auf einem Parkplatz und blicken aufs Meer. Das heißt, die Männer sitzen, und zwar in ihren Autos. Alle haben die Fenster heruntergekurbelt, alle scheinen ein bisschen zu sinnieren, einer hört Schlager im Autoradio. Draußen im Meer, am Meer und auf der Mole stehen noch mehr Männer. Sie angeln. Einen Fisch an der Angel kann ich nicht entdecken.
Zwei Männer kommen den Strand entlang gelaufen und unterhalten sich währenddessen. Es sind die ersten Männer, die miteinander sprechen. Ein spazierengehender Mann bleibt hingegen hinter einem Angler stehen, schaut und schweigt. Der Angler schweigt auch.
Beim Blick auf die Häuserfront am Strand fällt mir auf, dass es hier im Sommer ganz anders sein muss. Alle Fenster sind verschlossen, kein Mensch ist zu sehen. Ein rostiges Fahrrad steht einsam an einem Masten, an dem sonst vermutlich eine Fahne weht. Als am Ende des Strandes zwischen Meer und Häusern kein Platz mehr ist, möchte ich hoch in den Ort. Aber es geht nicht. Sämtliche Tore sind geschlossen, die Aufgänge versperrt. Ich muss wieder umdrehen und denke dabei an Paul Theroux, der auch einmal im Winter eine Reise rund ums Mittelmeer unternommen hat und ebenfalls von solch verschlossenen Trutzburgen berichtete.
Es ist ein seltsames Gefühl. Alles, was auf dem Land mit Sommer, Sonne, Meer und Menschen zu tun hat, ist verwaist. Wenn ich hingegen nach draußen blicke, dann ist da die Sonne, dann ist da das Meer. Und es sieht genauso aus wie sonst. Auch im Winter ist das Meer wunderschön, und immer gibt es wieder eine Wolkenlücke.
Je näher ich nach Anzio komme, desto imposanter werden die Häuser in der ersten Reihe hinter dem Strand. Es gibt römisch inspirierte Villen, es gibt barock inspirierte Paläste, und es gibt auch Häuser, an denen man unschwer erkennen kann, dass die Besitzer einstmals etwas mit dem Meer zu tun hatten. Viele wirken so, als stünden sie nicht nur jetzt im November leer, sondern schon seit Jahren. Die Feuchtigkeit nagt an den Mauern. Kleine Bäche, die ins Meer münden, zeugen davon, dass im Winter der ganze Fels am Ufer durchfeuchtet sein muss.
Am Hafen von Anzio stehen die Kleinfischer und ordnen ihre Netze. Ich bin überrascht, dass es so etwas hier noch gibt, aber der Hafen macht durchaus einen belebten Eindruck. Direkt am Hafenbecken folgen die verglasten Fronten der Fischrestaurants. In eines davon möchte ich gehen, ganz allein, was mich ein bisschen Überwindung kostet. Männer am Meer mögen sich ganz wohl fühlen mit ihren Beschäftigungen, mit ihrem Blicken auf die Wellen. Aber allein am Wochenende in einem Familienrestaurant – da kommt es auch hartgesottenen Einsamkeits-Spaziergängern komisch vor.
Zusätzlich habe ich noch Pech. Im “Fraschetta del Mare”, einem wirklich sympathisch aussehenden Lokal mit Papiertischdecken und einem stets wechselnden Standard-Fischmenü für 16 €, ist es proppenvoll. Ich möge doch morgen noch einmal wiederkommen, meint der Kellner.
Zwei Häuser weiter ist das Restaurant von Massimo und seiner Frau. Auch dort kann man essen. Ein anderes Pärchen hat es sich gemütlich gemacht, sie dürften früher schon mit anderen Partnern hier gewesen sein. Der Fernseher läuft, Fußball, holländische Liga. Massimos Frau stellt eine einzige Frage: “Rot oder Weiß?” “Weiß”, sage ich, “klein”, aber das wäre nicht nötig gewesen. Der Krug fasst gut und gern einen Liter, darauf kommt es hier nicht an. Der Wein ist besser als gedacht, frisch und aromatisch.
Ansonsten gibt es nichts zu wählen. Antipasti kommen, man kann sich sehr gut daran gewöhnen, danach Ravioli mit zweierlei Füllung, einmal Spinat, einmal Stockfisch und Tintenfisch, mein Lieblingsgang. Dann folgen zwei Garnelen und zwei Langusten und zum Schluss grüner Salat mit Tomaten. Und natürlich ein Caffè. Massimo kommt aus der Küche, wischt sich den Schweiß ab, plaudert ein paar Worte und geht zum Rauchen vor die Tür. Das Essen ist natürlich keine Offenbarung, aber höchst solide, und wenn man hier zum fünften Mal war, dann kann man auch einen Fisch draußen direkt von den Booten kaufen, und Massimo würde ihn frisch zubereiten.
Ich war lange nicht in Italien, erst recht nicht so weit im Süden. Hinter Rom beginnt ja der echte Süden. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass in manchen Bereichen die Zeit einfach stehengeblieben ist. Gut, es gibt einen neuen Laden mit rumänischen Spezialitäten für die Landarbeiter und Baustellenhelfer. Und statt in den Supermarkt zu gehen, kann man auch online bestellen und sich alles nach Hause liefern lassen. Aber sonst…
Italien hat seine große Zeit ab den 70ern gehabt. Vorher gab es schon die Film-Avantgarde, aber das Geld ist erst ins Land gekommen, als die Touristen in Massen anrückten und die Emigranten das Geld aus den Werken in Esslingen und Böblingen nach Hause schickten. Modisch war Italien top, Kleidung, Autos, Sonnenbrillen. Italodisco natürlich, und immer wieder Schlager. Schlager, Schlager, Schlager. Bei Massimo liefen sie auch, das Pärchen sang laut mit. Und mir fiel es wirklich schwer zu schätzen, ob diese Lieder jetzt vom Ende der 70er stammten oder aus dem Jahr 2000. An den Keyboards kann man es meist erkennen, und an der Rhythmusmaschine. Aber die Melodien sind dieselben.
Auf einmal liegt ein schweres Herrenparfum in der Luft, es muss von einem vorbeigeeilten Mann stammen. Schon im Mietwagen war das so, der Fahrersitz fast getränkt von den schweren Molekülen, die sich auf ihm niedergelassen haben.
Ich gehe noch einmal am Hafenbecken entlang. Jetzt sind auch die Altfischer da, die Jüngsten gerade im Rentenalter, die Ältesten werden mit dem Rollstuhl hergefahren. Man unterhält sich, fachsimpelt über Boote, Fische, Technik und alte Zeiten – und raucht natürlich. Das tun die jungen Leute auch nicht mehr.
Wer ein bisschen in den alten Zeiten schwelgen möchte, der sollte wahrscheinlich tatsächlich im Winter ans Meer kommen. Aber an einen Ort wie Anzio, in dem zu allen Jahreszeiten Menschen leben, niemals in eine Strandsiedlung.
Was Männer am Meer nicht können (oder gilt das für Männer ganz allgemein?), das ist die Fähigkeit, aus Schaden klug zu werden. Oder vielmehr, sie werden schon klug, aber erst nach dem dritten Schaden. Ich wage mich nämlich wieder direkt ans Meer und möchte ein besonders schönes Foto einer besonders spektakulären Welle machen, wie sie die Mole überspült.
Es gelingt mir diesmal nicht. Glück gehabt.
Auf dem Weg zurück komme ich wieder an einem der verfallenden Paläste vorbei. Auf dem Hinweg hatte ich hier die Sprayer gesehen, als sie ihr Graffiti gerade frisch aufsprühten. Ich hatte mir gedacht, vielleicht kommt es ihnen nicht geheuer vor, wenn ich sie ausgerechnet dabei fotografieren will. Also lieber jetzt auf dem Rückweg.
Sturm war angekündigt für die beiden Tage, die ich am Meer verbringen wollte. Und Regen, jede Menge Regen. Ich habe wirklich Glück gehabt, denn den peitschenden Regen konnte ich nur aus meinem Hotelzimmer beobachten. Ein solches Risiko muss man immer einkalkulieren. Und ab Januar wird es dann auch wirklich frostig in mediterranen Gefilden. Aber einen Kurztrip im November kann ich wirklich empfehlen. Wenn’s sein muss, auch allein als Mann am Meer…
Noch ein kurzer Nachtrag: Diese Bücher eignen sich nach meiner Erfahrung für regenreiche Stunden auf dem Zimmer am Novembermeer. Vielleicht müssen es aber nicht alle vier auf einmal sein; der Handgepäckskoffer ist schnell voll.