Wer Nagoya für eine interessante Stadt hält, kommt wahrscheinlich aus Leverkusen. Nach Nagoya fährt man nämlich nicht als Tourist, weil es dieser zweifellos einwohnerstarken Stadt schlichtweg an kulturellen Sehenswürdigkeiten mangelt. Ein Blick vom 42. Stock des Midland Square-Hochhauses offenbart die ganze Misere: Stadtautobahnen auf Stelzen, Industrieanlagen, Funktionsgebäude. Okay, das Nagoya Castle gibt es immerhin. Wen es hierhin verschlägt, was in 99% der Fälle beruflich bedingt sein dürfte (so wie bei mir auch), der braucht dennoch nicht den ganzen Tag zu jammern. Nagoya besitzt nämlich eine der außergewöhnlichsten Küchen Japans. Und das ist durchaus wörtlich zu nehmen.
Eine (übrigens sehr gute) Broschüre der örtlichen Tourismusagentur hatte mich neugierig gemacht. In ihr wurden mit jeweils einem Bildchen und einem Satz sehr herzhaft aussehende Speisen beschrieben, die typisch für Nagoya sein sollten. Es hieß dort, die Nagoya-Küche sei “characteristically rich, sweet, and hot, with a dynamic appearance.”
Ich kaufte mir also zwecks besserer Orientierung, wo es denn welche Spezialitäten zu probieren gibt, die aktuelle Ausgabe des “Nagoya Walker“, der übrigens ein großartig aufgemachter kulinarischer Guide ist. Die vom Tourismusbüro erwähnte dynamische Erscheinung begegnete mir hier in Form des Walker-Testessers Takahiro Azuma, und die Speisen sind wirklich nur als echtes “Soulfood” zu bezeichnen: ein irrwitziger Mix aus westlichen und japanischen Elementen, immer ein bisschen näher an der Pommesbude als an der haute cuisine. 17 typische Gerichte wurden im Walker vorgestellt und quer durch die Stadt getestet. Alles würde ich davon nicht schaffen, aber mal schauen…
Was es wohl in diesem vertrauensvoll aufgemachten Etablissement geben würde?
Nun, Spaghetti in den verschiedensten Varianten, aber immer auf die Nagoyaner Art: “Ankake Spaghetti” heißen diese frisch zubereiteten, vorzüglichen Nudeln, die in einer würzigen Barbecue-Beef-Sauce mit Kochschinken, grünem Spargel, Mais und Spiegelei angeboten werden. Als Besteck gibt es nicht etwa Stäbchen, sondern eine spezielle Gabel mit dünnen Zwischenräumen und einer Perforierung an der Außenseite.
Eines der wirklich beliebten Lokale der Stadt ist das “Yamachan“. Zum Glück wurde gerade ein Tisch frei. Hier gibt es zwar alle möglichen Nagoya-Spezialitäten, aber berühmt sind sie insbesondere für eine ganz bestimmte Sache…
…nämlich Chicken Wings, gut gewürzt mit Pfeffer und Salz und außen noch einmal knusprig frittiert. “Maboroshi-no Tebasaki” heißen diese hier. Wie in der mitgelieferten Anleitung beschrieben, isst man sie mit den Händen. Das Yamachan besitzt übrigens auch einen Stand in der sehr noblen Food-Abteilung des Kaufhauses Takashimaya.
Zu derart würzig-bodenständigen Gerichten passt am besten Bier, und das trinkt man auch in reichlichen Mengen in Nagoya. Die örtliche Brauerei heißt “Kinshachi” und braut eine große Vielfalt an Stilen. Ich habe mich hier für das Mitsuboshi-Bier im Wiener Stil entschieden, also untergärig, rötlich und mit viel Malz.
Wenig luxuriös sieht diese Essstube in der Unterführung der U-Bahn-Station Sakae aus. “Kyk” heißt der Laden, und erst viel später habe ich mitbekommen, dass auch sie mit einem Stand im Takashimaya vertreten sind.
Letzteres mag zwar wegen der Erscheinungsform des Restaurants überraschen, tut es aber nicht mehr, wenn man dort einmal gegessen hat. Zwar gibt es “nur” Schnitzel (Tonkatsu), aber jenes ist von besonderer Güte. Zum einen wird dazu eine ganz besondere süß-säuerlich-würzige Sauce gereicht, wodurch das Tonkatsu zum Miso-katsu wird (denn es handelt sich um eine rote Miso-Sauce). Zum anderen gibt es nicht nur “gewöhnliches ” Schweinefleisch zur Auswahl, sondern auch “Ichikinton” aus Niigata und – das musste ich nehmen – “Kurobuta“, also Fleisch vom schwarzen Berkshire-Schwein aus der Präfektur Kagoshima ganz im Süden Japans. 110 Gramm übrigens pro Person. An kleinere Portionen größerer Köstlichkeiten kann man sich wirklich gewöhnen…
Woran man sich natürlich auch sehr gewöhnen kann, das ist die japanische Begeisterung für schöne Dinge, für die Details. Das vorgestellte “Soulfood” von Nagoya ist beispielsweise nie junk-mäßig triefend, sondern immer pointiert und immer frisch gemacht. Und hier seht Ihr eine Verpackung aus getrockneten Blättern, die…
…Ten-musu beinhaltet, die Nagoya-Variante der Onigiri-Reisdreiecke. Jene sind wesentlich kleiner als woanders und besitzen eine Füllung aus Shrimp-Tempura.
Wo wir gerade bei Fischigem sind: Nagoya ist auch eine bedeutende Hafenstadt und ein dementsprechendes Zentrum für allerlei Meeresspeisen. Die Japaner lieben ja den Wandel der Jahreszeiten, was sich in Riten, Festen und auch in kulinarischen Spezialitäten zeigt, die es nur zu bestimmten Zeiten gibt. Der Oktober ist beispielsweise die Saison für Sanma, den Pazifischen Makrelenhecht, eine Fischart, die weite Wanderungen unternimmt. Sanma ist eines der wichtigsten kulinarischen Herbstsymbole, und Ihr werdet mehr als ein Lokal finden, in dem auf dem Holzkohlengrill bereitete Sanma angeboten werden.
So sieht eine solche Fisch-Izakaya aus, wobei das keine Nagoya-Spezialität ist, sondern das ganze Land umfasst.
Nicht weit von Nagoya entfernt befindet sich die Kellerei Hitomi, vor 25 Jahren von einem ehemaligen Designer gegründet, der wirklich handgemachte Weine herstellen wollte. Die Weißen sind oft aus der Hybridsorte Delaware, die sich für das feuchte Subtropen-Ostseitenklima vergleichsweise gut eignet. Hier seht Ihr ein meiner bescheidenen Meinung nach besonders gelungenes Exemplar, den Schäumer nach der méthode ancestrale: ungeschönt (das ist ziemlich selten in Japan), ungeschwefelt, mit den eigenen Hefen vergoren und unfiltriert abgefüllt. Traubig und hefig natürlich, aber mit genau so viel Restsüße, dass es noch richtig Spaß macht und schon richtig gut zum Essen passt. Den Wein hatte ich übrigens im Kaufhaus Meitetsu erworben, einem von fünf großen Kaufhäusern der Stadt. Ansonsten nicht gerade auf der Höhe der Zeit, gibt es im Weinkeller von Meitetsu eine außergewöhnlich gute Auswahl non-interventionistischer japanischer Weine.
Im JR-Takashimaya hingegen, wie Ihr auf diesem schlechten Handyfoto vielleicht erkennen könnt, sind es weniger die wilden japanischen Gebräue als vielmehr die Krone burgundischer Weinkunst, die die Menschen anzieht. In den letzten beiden Oktoberwochen gibt es hier immer die Leroy-Promotion, meist mit Weinen aus dem Maison-Angebot. Gleichzeitig (in diesem Jahr am 19. Oktober) kommt der neue Jahrgang der Domaine Leroy in die Regale. Die Preise beginnen bei knapp 100 € für den Bourgogne Aligoté und erreichen bei den Grands Crus das Niveau des Romanée-Conti, den Ihr hier auch erstehen könnt.
Etwas günstiger (aber natürlich auch auf einem anderen Qualitätslevel) kommt Ihr weg, solltet Ihr Euch am 17. November in der Stadt aufhalten. Ich sagte ja bereits, dass die Japaner die jahreszeitlich erscheinenden Speisen über alles lieben, weil ihnen eine ganz starke symbolische Bedeutung innewohnt. Am 17. November kommt der Beaujolais Nouveau auf den Markt, und der craze ist einfach ungeheuer. Wochen vorher freut man sich schon darauf. Die ausgezeichnete Pâtisserie “Minamoto Kitchoan“, deren Stand ich im Matsuzakaya besuchte (das Platzhirsch-Kaufhaus von Nagoya), bietet beispielsweise genau am 17.11. ein Weingelee aus Beaujolais Nouveau an. Leider kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wessen Wein sie dafür verwenden werden, aber es war definitiv jemand mit Renommee à la Jean-Paul Brun.
Zum Ende der kulinarischen Tour durch Nagoya möchte ich noch bei einer Speise halt machen, die wiederum nicht speziell mit Nagoya assoziiert wird, die man hier aber auch bekommen kann: Fugu. Und ich habe ihn gegessen. Fugu gibt es nur im Winter, ich war also ganz früh dran. Geschmacklich hat er mich ein bisschen an Kabeljau erinnert, also zwar weiß, aber wesentlich fischiger als bei Brassen. Die Textur ist allerdings völlig anders, nämlich bissfest, ein bisschen crunchy und – wenigstens beim Filet – dennoch überhaupt nicht zäh. Hat mir ehrlich gesagt schon gefallen – trotz eines Kilopreises von gut 350 €, aber viel isst man ja eh nicht davon.
Nagoya, das sollte bei einer japanischen Großstadt nicht erstaunen, bietet also nicht nur bodenständige Küche für die Mittagspause, sondern auch die große Kunst. Zwei Lokale liegen dabei ganz oben: das “Tout La Joie” und das “Sushi-no Yoshino”. Im Tout La Joie wird innovative französische Küche mit japanischen Einsprengseln angeboten – auf höchstem Niveau, versteht sich. Reservieren kann man nur, wenn man schon einmal dort war, ansonsten muss man einen Agenten bemühen. Zwei Zimmer gibt es mit je einem Tisch, an dem maximal vier Personen Platz finden. Beim Sushi-no Yoshino ist es nicht viel anders: neun Sitze nebeneinander an der Theke aus japanischer Zypresse, die Sushi-Happen direkt vor den Augen der Gäste ganz frisch zubereitet.
Es sind auch solche höchst privaten Plätze, die es den Restaurant-Guides offenbar so schwer machen, sich einen Überblick über das kulinarische Geschehen in Japan zu verschaffen. Zudem leben die meisten Japaner in kleinen Wohnungen ohne nennenswerte Kochmöglichkeiten, essen also sehr oft auswärtig, meist sogar zweimal am Tag. Das resultiert in einer Quantität und Qualität an Speiselokalen, die einfach überwältigend ist. Niemand, der noch nie in Japan war, kann sich real vorstellen, was es bedeutet, dass es in einer Stadt Zehntausende an Restaurants gibt, in denen ausschließlich frisch gekocht wird. Besonders zur frühen Abendstunde wabern überall Essensdämpfe durch die Gassen.
Aber schauen wir, dass es wenigstens ganz am Ende noch zwei Orte in Nagoya gibt, die ich nicht nur ihres Essens wegen als sehenswert empfunden habe.
Der Osu Kannon ist einer der wichtigsten Kannon-Tempel in Japan, aber spannender fand ich noch die vier Straßenzüge umfassende, überdachte Shotengai mit hunderten kleiner Läden. Hier gibt es nur wenige Spitzenrestaurants (obwohl man sich da nie sicher sein kann), dafür viele Gelegenheiten, die Nagoya-Küche zu genießen, aber auch internationale Dinge von der Münchner Weißwurst bis zum brasilianischen Rodizio. Besonderer Anziehungspunkt ist das sechsstöckige Gebrauchtwaren-Kaufhaus Komehyo mit ähnlichen Vintage-Boutiquen in unmittelbarer Nähe. Wer also die japanischen Maße besitzt, kann hier vom Kimono über Avantgarde-Design bis zu Trashigem alles finden, was den Koffer so richtig voll werden lässt.
Ein ganz anderer Ort mit dieser für japanische Glaubensstätten so typischen Mischung aus Fröhlichkeit und Andacht ist der Atsuta-Schrein. Das Gelände ist groß, die einzelnen Tempel sind in waldigem Terrain verteilt. Das Beeindruckendste war für mich der heilige Kampherbaum, ein riesiger und vermutlich über tausend Jahre alter Methusalem. Unten am Stamm bemoost und auch auf den mächtigen Ästen von vielerlei Flechten und anderen Pflanzen bewachsen, ist dies ein eigenes Universum, ein Ort des Staunens und Nachdenkens.
Wesentlich rezenter, wenngleich nicht auf dem allerneuesten Stand der Technik, sind die Züge der Meitetsu-Bahngesellschaft. Als ich dieses Foto gemacht habe, musste ich spontan an Günther denken, einen ehemaligen Kollegen meines Vaters. Er war so ein Bahnfreak, der kreuz und quer durch Deutschland gefahren ist, um irgendwo auf einem Abstellgleis nach der Baureihe XY einer bestimmten Lokalbahn zu suchen. Japan mit seinem ungeheuer stark ausgebauten öffentlichen Nahverkehr und seinen vielen verschiedenen Bahngesellschaften muss für Leute mit derartigen Interessen schlichtweg das Paradies sein. Schon wieder eine Zielgruppe mehr, der ich eine Reise nach Japan dringend ans Herz legen würde… Für dieses Mal soll es das aber gewesen sein mit dem Missionieren. Ich muss doch tatsächlich zurück nach Europa, aber mir fallen schon jetzt ein paar Dinge ein, die ich wieder nach kürzester Zeit vermissen werde.
Ach, ich reise so gerne mit Dir, Danke für Bilder und Beschreibung.
sehr schön gesagt +1