Alle Jahre kurz vor Weihnachten kommen in Bonn ein paar befreundete Menschen zusammen, um eine „Quer durch den Weinkeller“-Probe abzuhalten. Obwohl es für mich immer mit einer mehrstündigen Anreise verbunden ist, fahre ich deshalb gern in die alte Bundeshauptstadt – der erwähnten Menschen, aber natürlich auch der Weine wegen. Und die hatten es diesmal wahrhaft in sich, ganz nach dem internen Motto der Veranstaltung: „Stravaganza“.
Der Freundeskreis ist übrigens dem festiven Ansatz verpflichtet, der da lautet: Wein zu genießen bedeutet ihn zu trinken und nicht zu spucken. Dadurch nimmt die Lebhaftigkeit der Unterhaltung zum Ende der Veranstaltung hin deutlich zu, während es sich mit den geschmacklichen Rezeptoren genau umgekehrt verhält. Probiert wird zunächst blind, auf dieser Basis vergeben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Punkte, dann wird aufgedeckt – und dann lernen wir alle etwas über die Endlichkeit einer rein normativen Bewertung von Kulturgütern. Doch dazu später. Jetzt soll es um die Weine gehen, von Leichtweiß bis Schwerrot.
Ah, Schaumwein, das erkennen wir spontan, wir sind noch gut in Form! Wein No. 1 schäumt hell ins Glas, riecht extrem apfelig, sehr jung, hellparfümiert. Am Gaumen fällt die deutliche Säure auf, die große Frische. Die Apfelnoten bleiben, und wir können das Gewächs nicht wirklich einordnen. Wegen der apfeligen Art denke ich an Mauzac aus dem Gaillac, andererseits deutet die Säure eher auf Savoyen hin, für mich ganz klar ein konsequenter, französischer Stil, die deutschen Schaumweine sind entweder süßer angesetzt (wenn es sich um Riesling handelt) oder aber breiter (wenn es um andere Rebsorten geht). Die Auflösung: Es ist der vor wenigen Wochen frisch degorgierte Brut-Sekt von Buhl, eine Cuvée aus Weißburgunder und Chardonnay. Ein französischer Wein, ich sagte es ja. Ich weiß, dass ich der allererste bin so etwas festzustellen, aber Mathieu Kauffmann macht seine Sache dort wirklich sehr gut. Die Runde gibt 16,25 Punkte (Mittelwert; nein, die Standardabweichung liefere ich nicht dazu).
Wein No. 2 ist quasi das Kontrastprogramm in Blasen: dunkelgold im Glas, kaum Perlage, wirkt optisch richtig alt. In der Nase dann oxidative Noten, Nussiges, Solera gar. Am Gaumen überrascht die starke und reife Säure, die andeutet, dass wir es hier mit einem hochwertigen Exemplar zu tun haben. Leicht bräunliche Brioche, also ein Kontrast zwischen stark gereiften Noten und der Säurefrische. Alle tippen auf einen Champagner, der schon etliche Jahre auf dem Buckel haben dürfte, ein paar davon vielleicht schon zu viel. Die Auflösung: Es handelt sich um einen 25 Jahre alten Grundwein, den 1990er R.D. vom Champagnerhaus Bollinger, extra-brut, im Jahr 2002 degorgiert und gut zwei Drittel Pinot Noir, knapp ein Drittel Chardonnay. Die Runde murmelt.
Beim zweiten Paar haben wir wieder einen deutlichen Farbkontrast in unseren beiden Gläsern (das ist das Titelfoto oben). Wein No. 3 ist gelbgoldig in der Farbe, riecht recht jung nach Holz und Apfel, also Typ lagerfähiger Chenin. Am Gaumen präsentiert sich unser Kandidat dann aber völlig anders: Bitternoten, wenig Säure, gelb, ölig gleitend, Alkohol ist da. Ich tippe auf Rhône, möglicherweise auch ein dicker und dennoch botrytisfreier Grüner Veltliner. Die Auflösung: Es ist der weiße Châteauneuf-du-Pape von der Domaine de la Janasse, Jahrgang 2006. Den meisten am Tisch gefällt er. Ich finde ihn erst dann attraktiver, wenn er viel Luft bekommen hat und wärmer geworden ist. Jetzt besitzt er fast eine Rotweinseele. Die Runde gibt 15,63 Punkte; ein bisschen mager für meinen Geschmack.
Wein No. 4 fließt bräunlich ins Glas und hat dann Kork. Die Ersatzflasche (der gleiche Wein) ist aber fast genauso dunkel, sehr oxidativ, in der Nase feurig und bernsteinig bei deutlichem Säureanklang. Am Gaumen präsentiert der Wein ein Kontrastprogramm: Einerseits ist die Materie unglaublich reif, dicht und tief, andererseits bleibt eine würzige Säure präsent. Man merkt, dass es sich um eine Art trockenen Süßwein handelt. Ich hatte an der Kapsel schon erkannt, um was es sich handelt: Es ist der 2006er Vieilles Vignes des Blanderies von Mark Angeli aus dem Anjou, in der Tat ein quasi-trocken ausgebauter Bonnezeaux mit 14,5 vol% wegen des hohen Botrytisanteils. Das ist ein Meditationswein, wenngleich im schwierigen Jahrgang 2006 nicht ganz so präzise wie sonst. Mir gefällt dieser Kontrast zwischen Lebendigkeit und Reife. Die Runde gibt 16,43 Punkte, auch ein bisschen zu wenig für mich als Freund des Charakters.
Das nächste Paar zeigt sich farblich zum ersten Mal praktisch identisch: ein reifes Gold. Wein No. 5 besitzt deutlichen Firn in der Nase, für mich ein alter Riesling. Am Gaumen ist der Wein enorm dicht mit viel Säure, aber einer reifen Säure. Reife, leichte Phenolik, Minze, ein sehr schöner Wein. Die Auflösung: Es handelt sich um den 2004er Nonnenberg vom Weingut Breuer aus dem Rheingau. Ich glaube, ich habe überhaupt noch keinen schlechten Nonnenberg getrunken, erst recht nicht aus einem spannungsgeladenen Jahrgang. Ich hätte den Wein für älter gehalten, aber empfehlenswert bleibt er nach wie vor. 17,25 Punkte von der Runde, mehr als berechtigt.
Wein No. 6 hat ebenfalls Firnnoten in der Nase, aber gemüsiger, in Richtung Dill – auch ein reifer Riesling. Am Gaumen zeigt sich der Wein deutlich weitmaschiger, rauchiger, mit viel weniger Säure, öliger. Der höhere Süßeeindruck kann auch an der geringeren Säure liegen. Riesling ist es von der Aromatik her, aber wer macht so intensive Dinger mit so wenig Säure? Wachau? Elsass? Ein Rangen de Thann? In der Tat, es ist der 1989er Rangen de Thann von Zind-Humbrecht, und mich überrascht dabei sowohl das Alter als auch der Alkoholgehalt: 12,5 vol%. Ein denkwürdiges Produkt, nicht mein stilistisch präferierter Liebling, aber ein großer Wein. 17,56 Punkte im Schnitt.
Das nächste Weinpaar präsentiert wieder unterschiedliche Farben. Wein No. 7 besitzt ein neutrales Weißweingelb mit leicht grünlichen Reflexen. Nicht alt. Die Nase hält eine leicht holzige Mineralität bereit, während im Mund die vollkommene Ausgewogenheit herrscht: puderig-weich, elegant, nichts Extremes, mittlere Säure, leichtes Holz, edel. Ein Charakter-Anhänger könnte einwenden, dass der Wein vielleicht ein bisschen langweilig ist. Obwohl ich starke Charaktere auch sehr mag (siehe den Wein von Mark Angeli), muss ich zugeben, dass ich es ab und an auch genieße, einen Wein von großer Eleganz zu trinken, denn es ist eine große Kunst, einen solchen herzustellen. Die Auflösung: Es ist der 2009er Chardonnay vom Weingut Gantenbein aus der Schweiz. Beeindruckend. Diesen Wein hätte ich in einem Chardonnay-Quertest gern einmal gegen die großen Côte de Beaune-Produkte von Leflaive, Roulot, Comtes Lafon oder Sauzet gesehen – oder auch den Schlossberg von Huber. Sensationelle 18,44 Punkte von der Runde.
Wein No. 8 ist deutlich dunkler, gelber, älter anmutend in der Farbe. In der Nase kommt leicht gealtertes Gemüse, Firn, aber etwas flacher als bei den Rieslingen. Am Gaumen besitzt der Wein eine deutlich stärkere Säure als der Vorgänger, ist pikanter, aber eher gelbwürzig als säuerlich. Ich mag diese höhere Pikanz, finde aber, dass die Flasche schon über ihren Höhepunkt hinweg ist. Die Auflösung: Es handelt sich um den 1996er Bâtard-Montrachet vom Négociant Louis Jadot. Beide Weine besitzen 13,5 vol%, also nicht unbedingt wenig. In der Literatur habe ich ja schon mehrfach gelesen, dass die großen weißen Burgunder der 90er Jahre oft zu vorzeitigen Alterungserscheinungen neigen – eine Debatte besonders unter französischen Weinliebhabern, die eine echte Lösung des Rätsels auch noch nicht gefunden haben. Vielleicht sollte man die trockenen Weißen einfach nicht so furchtbar lange in den Keller legen. 17,19 Punkte geben die Leute.
Nun gibt es ein köstliches Essen, nämlich Lamm-Tajine mit einer reichhaltigen aber ausgewogenen Würzung, wie sie in den Kaufmannspalästen von Marrakesch gereicht werden mag. Dazu frische Korianderblätter, die ich persönlich ja sehr liebe. Ich hatte zwei Weine als Begleitung mitgebracht, die nicht so richtig extravagant sein sollten, weil sie ja dazu gedacht sind, das Essen zu begleiten und nicht zu übertünchen. Der erste Esswein ist der 2013er Vugava von Antonio Lipanović, Insel Vis, Kroatien. Dieses wahre Mittelmeerprodukt hatte ich deutlich reifer, weiter, weicher in Erinnerung (hier in meinem kroatischen Weißweintest) – er braucht offenbar noch einige Jahre. Dieses Exemplar zeigt sich nämlich apfelig-reinzuchtig in der Nase, viel zu jung, am Gaumen ahnt man höchstens, was da an Öl und Feuer noch kommen mag. 15,5 schmeichelhafte Punkte.
Der zweite Wein, der Cetawico 2006 Presidential Reserve, hat eine absolut verrückte Geschichte: Ein italienischer Ingenieur soll im Auftrag einer NGO in Tansania einen Brunnen bohren und entdeckt dabei zu seiner großen Überraschung ein vernachlässigtes Weinfeld in der Nähe. Jenes wurde einst von einem italienischen Missionar angelegt, der dann aber versetzt wurde, was den Reben nicht gut getan hat. Unser Ingenieur kann – wieder zurück in Italien – seine Auftraggeber davon überzeugen, „irgendwas aus der Sache zu machen“. Mittlerweile werden also am Fuß des Kilimanjaro vornehmlich die Trentiner Trauben Teroldego und Marzemino angebaut, in der Sonne teilgetrocknet und dann zu einem Wein im etwas leichteren Amarone-Stil verarbeitet. Ich bin positiv überrascht vom Produkt: sehr trüb in der Farbe, fruchtig noch, dann mit einer weichen Eleganz, die deutlich besser zum Essen passt. Natürlich kein Leichtwein, 14,5 vol%, aber ein Beweis, dass man auch in ungewöhnlichen, geradezu extravaganten Gegenden anständige Weine produzieren kann. 15,31 Punkte aus dem Kreis.
Nun aber weiter mit den „echten“ Roten. Beide präsentieren sich bräunlich gereift im Glas. Wein No. 9 besitzt leicht maderisierte Alkoholnoten in der Nase, nicht so furchtbar angenehm. Dennoch deutet die Duftigkeit ganz klar auf Pinot Noir hin. Am Gaumen finde ich den Wein deutlich angenehmer: kirschfruchtig, recht dicht, leichtes Tannin, einfach ein guter deutscher Spätburgunder im „unstrengen“, also nicht säurebetonten Stil. Die Auflösung: Es ist der Spätburgunder Alte Reben 2003 von Bernhard Huber. Das konnte man so erwarten: die Kombination aus einem sehr guten deutschen Winzer und einem heißen Jahrgang. 16,5 Punkte im Mittel; ein mahnender Rufer merkt an, dem gleichen Weine habe man doch neulich schon einmal viel mehr Punkte zugestanden.
Wein No. 10 wirkt noch etwas bräunlicher und gealterter in der Farbe. In der Nase leicht süßlich-gemüsig, tippt einer am Tisch auf einen Cabernet Franc aus 2003. Am Gaumen bin ich dann vollends verwirrt: trüber und älter als der Wein davor, mehr Tannin, aber auch mehr „naturel“, wie die Franzosen sagen, eine Note, die auf einen non-interventionistischen Ausbau hindeutet. Ein komplexer und durchaus schwieriger Wein, der sowohl ein Cabernet Franc als auch ein Nebbiolo als auch ein sehr reifer Pinot Noir sein kann. Die Auflösung haut uns dann aber doch alle vom Hocker: Es ist der 1996er Richebourg der Domaine de la Romanée-Conti. Glanz und Elend der Blindverkostung. Zum Glück ist noch genug in der Flasche übrig geblieben, so dass wir noch einmal nachprobieren können. Dies ist mein erster DRC, weshalb ich nicht auf Erfahrungswissen zurückgreifen kann. Der Wein wirkt zweifellos sehr groß, tief und reichhaltig, die Tannine sind immer noch deutlich präsent, während sich die Frucht eher in Richtung Rumtopf entwickelt hat. Mir fehlt für einen Wein dieser Größe eindeutig die Eleganz, aber man lernt ja so viel bei solchen Weinen. Da hätte ich noch 50 weitere Verkostungsnotizen lesen können, aber nichts, und zwar nicht in Ansätzen, ersetzt die eigene Erfahrung. Ein Hoch auf unseren Gastgeber, der diese wertvolle Flasche aus dem Keller geholt hat! Simple as that. Und was sagen die Freunde guter Weine dazu? 16,25 Punkte. Die Welt war noch nie gerecht. Und objektiv auch nicht, falls es sowas überhaupt geben sollte.
Da sind wir also wieder bei der Endlichkeit normativer Bewertungen für Kulturgüter. Hat dieser Wein jetzt Punkte „verdient“? Hat Mozart Punkte „verdient“, ein Gemälde von Brueghel, eine Glosse von Tucholsky? Ich weiß, dass es eine Neigung in unserer modernen Gesellschaft gibt, die ungeheure Komplexität des Lebens, das uns umgibt, irgendwie handhabbarer zu machen. Das ist natürlich ein nachvollziehbarer Wunsch, allerdings ein Wunsch des technischen Menschen (oder vielmehr des technischen Mannes) aus dem 20. Jahrhundert, der ehrlich gesagt nicht den Weg des echten Verstehen-Wollens beschreitet und deshalb auch nicht zu einer umfassenden Erkenntnis führen kann. Wie wichtig der Kontext ist, fällt mir in unserem konkreten Fall besonders in der Diskrepanz zwischen Blindprobe und dem zweiten Durchgang nach dem Aufdecken auf. Ich finde es tatsächlich spannend, erst einmal nicht zu wissen, was man da vor sich hat, weil es sämtliche Erwartungshaltungen ausblendet. Andererseits kann ich den Weg des Verstehen-Wollens ja nur beschreiten, indem ich den Kontext kenne, einordne und immer wieder dazulerne. Bevor es aber zu grundsätzlich wird, widmen wir uns lieber dem nächsten Weinpaar.
Wein No. 11 ist schon wieder bräunlich, recht hell ohnehin und mit groben Trubstücken ausgestattet. Huch, schon wieder so eine schwierige Kiste. In der Nase spüre ich deutlich Liebstöckel, ein süßlich-ältlicher Ton. Im Mund bin ich dagegen absolut positiv überrascht: Der Wein ist elegant, würzig, tanninreich und einfach in Würde gealtert. Die Säure ist immer noch deutlich präsent, was eine mir sehr angenehme Lebendigkeit in die reife Materie bringt. Ein klassischer Barolo. Tatsächlich handelt es sich um den 1985er Barolo von Bartolo Mascarello. Traditioneller geht es nicht. Große Klasse, aber natürlich Achtung vor einer zu frühen Öffnung und auch Achtung beim Umgang mit dem ungeheuren Depot. 17,97 Punkte, richtig und berechtigt viel für diesen vergleichsweise erschwinglichen Wein. Man muss halt warten können.
Wein No. 12 startet mit großem Entsetzen: Kork, und zwar deutlich. Es wäre der 1985er Château Margaux gewesen, der total klassisch bordelaisisch daherkam, aber was hilft’s, wenn der Geschmack so überlagert wird. Vielleicht mal den Trick mit der zerknüllten Frischhaltefolie anwenden und dann anschließend irgendwie als Glühwein oder zum Ablöschen verwenden. Einfaches Wegkippen in solchen Fällen versetzt mir immer einen Stich ins Herz ob unserer Überflussgesellschaft. Aber geschmeckt hat er selbstverständlich nicht.
Also her mit dem spontanen Ersatzwein, der genauso dunkel in der Farbe ist, aber deutlich jünger wirkt. Dunkelbeerigkeit in der Nase, Cabernet-lastig mit einem leichten Anflug dieser grünlichen Paprikanoten. Am Gaumen wirkt der Wein kühl, verschlossen, gar blockiert. Mit etwas mehr Luft treten die Süßholznoten stärker in den Vordergrund. Wir ahnen, dass dies auch ein großer Wein ist, aber mir schmeckt er im Moment gar nicht, weil er so abgetaucht ist, so flach und unlebendig wirkt. Die Auflösung ruft ein bisschen Entsetzen hervor: Es handelt sich um den 1998er Château Lafite Rothschild. Dieser Wein hat bei guter Lagerung noch 20 Jahre vor sich, und auch dann bin ich mir nicht sicher, ob man das Alter schmecken wird. 17 Jahre alt ist das kleine Weinchen, aber offenbar kann man ihn nur in der Fruchtphase schön antrinken und muss dann sehr viel Geduld besitzen. Und ich dachte, man hätte im Bordelais dank Parker-Einfluss auf eine frühere Trinkbarkeit hin vinifiziert. Fast bin ich erleichtert, dass dieser große Wein vom Gegenteil kündet. 17,25 Punkte der Runde, man diskutiert darüber.
Zum Abschluss wird es süß, richtig süß. Wein No. 13 begeistert mit einer leuchtenden Goldfarbe im Glas und viel Glycerin am Glasrand. Die Nase ist gleichzeitig extrem komplex und ziemlich anstrengend, weil eben so vielschichtig: Aprikose, Klebstoff, Kurkuma, dann deutlich Safran, der sich im Mund fortsetzt. Ein sehr süßer Wein, der aber spannend wird durch diesen wahren Gewürzbasar, den er in sich trägt. Extrem ausgewogen, reif und gelb, ein Sauternes, klar, der viel besser wahrscheinlich nicht geht. Die Auflösung: Es handelt sich um den 2002er Château d’Yquem, und richtig, viel besser dürfte es tatsächlich nicht gehen. Die Runde ist beeindruckt. Viel Frische geht von einem Sauternes ja nie aus, aber dieser hier kompensiert das locker mit seiner Würze. 18,81 Punkte, da diskutiert niemand mehr. Rein punktemäßig der Sieger des Abends.
Der allerletzte Wein des Abends (wir sind mittlerweile auch deutlich über Mitternacht hinaus) fließt sehr bräunlich ins Glas, grünbräunlich-oxidiert fast. Auch die Nase erinnert eher an einen Brühwürfel, viel erwarte ich also nicht. Aber wie das manchmal so ist, bin ich beim Schmecken doch sehr positiv überrascht von der reifen, wenngleich sehr präsenten Säure, die eine karamellige, aber eben nicht bitterbissig oxidierte Materie umspielt. Es handelt sich um die 1998er Riesling Trockenbeerenauslese aus dem Escherndorfer Lump von Horst Sauer. Fränkische Edelsüße sind vergleichsweise günstig und werden eigentlich immer unterschätzt, das wird mir jetzt wieder klar. Natürlich ist die Farbe ein Fehler, so sollte ein Wein nicht aussehen. Aber was zählt, ist doch ehrlich gesagt eher der innere Wert als der äußere Schein. Die Runde vergibt schöne 17,63 Punkte in diesem illustren Kreis von Weinen.
Und damit bin ich beim Fazit, das sich ganz leicht in fünf „Punkten der gewonnenen Erkenntnis“ zusammenfassen lässt:
- Gastgeber, die solche Weinerlebnisse mit anderen Menschen teilen, gehören in den höchsten Tönen gelobt. Für so etwas ist der Wein an sich erst erschaffen worden.
- Ein Wein von Romanée-Conti entzieht sich offenbar einfachen Kategorisierungen. Der Weg ihn zu begreifen führt über ein Probiererlebnis, das man erst einmal nicht richtig versteht. Ich bin wieder ein echter Novize.
- Es ist manchmal ganz gut, dass es noch mehr als genug Dinge gibt, die man zum ersten Mal machen kann. Ohne Entdeckerneugier und Verblüffung wäre das Leben ganz schön langweilig.
- Ein richtig gut gereifter, richtig klassischer Barolo ist etwas sehr Feines, und das gilt insbesondere für Rieslingfreunde, die einen leichten Mosel-Kabinett schätzen. Das hat nämlich – bei allen Unterschieden – ein solcher Barolo auch zu bieten: Er bleibt immer lebendig, wird nicht flach, müde und schwer.
- Einen wirklich über alle Zweifel erhabenen großen roten Bordeaux nach fast 20 Jahren immer noch in einer Phase der Unfertigkeit zu erwischen, hat mich erstaunt. Und es hat mir gezeigt, dass ich meine paar wenigen Hochkaräter-Bordeaux vom Anfang der ’00er Jahre tatsächlich noch eine Weile im Keller lassen sollte.
Hallo Matze!!
Schöne Probe…..und ja….der Mensch neigt immer dazu zu bewerten….wer ist er eigentlich, dass er sich das rausnimmt? Ist Schönheit absolut oder ein relativer Wert? Schon diese Frage verbietet sich doch….oder etwa doch nicht? Egal….ich diskutiere häufig darüber….ohne jedoch zu einem klaren Ergebnis zu kommen. Raphael Enthoven hat sich dem Thema (Schönheit) mal in der Sendung Philosophie die Sonntags immer um 12 Uhr auf arte kam angenommen. Kannste bei YouTube anschauen…….schönes Restweihnachtsfest noch…..
Grüße Jens
Möglicherweise gibt es auf der Welt wesentlich mehr Dinge ohne klares Ergebnis als solche mit 😉 . Und das sage ich, obwohl ich Statistiken wirklich ausgesprochen gern mag.
In meiner Jugend (hoho, hört sich an, als sei das ein halbes Jahrtausend her) war ich übrigens noch wesentlich stärker der Meinung, dass es doch eine Trennung zwischen Gut und Böse geben muss, dass Objektivität als solche existiert, dass Gerechtigkeit etwas Absolutes ist. Ist sicher auch eine Frage der Erziehung. Mein Vater war ja auch Polizist, und ich glaube, er ist genau deshalb Polizist geworden, weil er gegen die Ungerechtigkeit kämpfen wollte, weil er sozusagen dem Machtstreben des Reicheren, des Stärkeren mit dem Gegengewicht des Staates, mit dem “gerechten” Gesetz begegnen wollte. Führt vielleicht ein bisschen weit weg von der Weinbepunktung 😉 , aber was ich sagen wollte: Ich selbst bin mittlerweile der Meinung, dass es fast überall Grauzonen der Bewertung gibt, die sich nicht so leicht und allgemeingültig auflösen lassen. Orientierungshilfen sind gut und richtig, sollten aber auch als solche verstanden werden und nicht als die “Wahrheit”. Dir auch ein paar schöne Restweihnachtsstunden!
Also wen ich Raphael damals richtig verstanden habe, dann ist Schönheit “natürlich” absolut und liegt “keineswegs” im Auge des Betrachters…..aber ich gebe zu, dass ich sowieso immer nur 20 % von dem verstehe, was Raphael so in seinen Sendungen sagt…..;-)……das hindert mich allerdings nicht daran, sie anzuschauen……und ich finde ihn sehr überzeugend……demzufolge gibt es “natürlich” keine Grauzonen der Bewertung……lieber Matze……also alles völliger Unsinn……;-)……und als Expolizist weißt Du, dass es immer drei Wahrheiten gibt…..Deine, Meine und die Wahrheit…….und jetzt wäre hier nen’ Smiley mit nem’ Heiligenschein angebracht…..oder der mit der Sonnenbrille…….;-)
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