Kratze ich doch schnell noch einmal die gängigen Vorurteile zusammen: Also, die Hongkonger halten zwar mit 5,4 Litern Pro-Kopf-Jahresverbrauch an Wein die Spitzenposition in Asien, aber das ist nichts gegenüber den Verbrauchsmengen an chinesischem Schnaps. Getrunken wird ausschließlich australischer Dickbackenwein, denn Wein muss ja nach etwas schmecken. Gekauft werden allerdings auch grotesk teure “First Growths” aus dem Bordelais, alle alt und häufig gefälscht, was aber nicht so schlimm ist, da sie ja eh keiner trinkt. Die Lagerung der Moutons und Pétrus’ findet in Wabenwohnungen statt oder auf dem Balkon bei 30°C. Mit anderen Worten: die schlimmst denkbare Wein”kultur”.
Und tatsächlich: Alle oben aufgeführten Vorurteile würden sich in der Realität irgendwo finden lassen. Wie so häufig bei sozialen Phänomenen ist die Sache jedoch deutlich vielschichtiger, wenn man sich die Mühe macht, mal ein wenig genauer hinzuschauen.
Diese Woche fand die große “Hong Kong International Wine & Spirits Fair” statt, bei der beispielsweise auch Bettane & Desseauve ihr “Grand Tasting” abhielten. Hong Kong ist also nicht nur eine Stadt, in der Wein konsumiert wird, sondern der mit Abstand wichtigste Handelsplatz für Wein in Asien, einem (natürlich auch dank geringer absoluter Werte zu Anfang) hochgradig boomenden Gewerbe. Dabei sind die Präferenzen der Hongkonger selbst ziemlich klar. Laut einer Vinexpo-Studie kaufen sie zu 84% Rotwein, wobei der Anteil des Weißweins allerdings steigt. Und sie geben durchschnittlich 10,79 € pro Flasche aus, was immerhin knapp viermal so viel ist wie der Durchschnitt in Deutschland.
Nur mal schnell nebenbei eingeflochten: Als alter Statistiker wüsste ich doch zu gern einmal, wie der angebliche deutsche Durchschnittspreis von 2,84 € zustande kommt. Und zwar dezidiert. Als durchschnittlicher Einzelflaschen-Endverbraucher-Preis erscheint er mir nämlich ähnlich unrealistisch wie derjenige in Hong Kong: In den Läden, in denen ich in Hong Kong eingekauft habe, waren fast keine Weine für weniger als 10 € zu haben. Transport und Zoll sei Dank. Wenn Mr. Wu nun eine einzige Flasche Romanée-Conti für 10.000 € kauft (was er tut, denn die Weine gibt es nicht selten – oder zumindest Flaschen mit diesem Aufdruck), dann müsste Mr. Lee gleichzeitig 12.500 Flaschen für 10 € kaufen, damit beide zusammen auf den Durchschnittspreis von 10,79 € kommen. Kauft Mr. Wu gar eine Sechser-Kiste, müsste Mr. Lee nicht weniger als 721 Ikea-Kellerregale mit seinem Wein zum Ausgleich vollpacken. Zahlenspiele, ich weiß, aber ein niedriger Durchschnittswert verlangt nun einmal nach einer extrem asymmetrischen Verteilung – ein in den meisten Fällen nicht gerade realistisches Szenario.
Aber zurück zum wahren Leben: Als ich in einer Shopping Mall nach einem Weinladen gesucht habe, der dort laut Internet anwesend sein sollte, hatte ich erst nichts gefunden. Das lag aber daran, dass ich nur in den Rubriken “Food & Beverages” und “Dining” geschaut hatte. Im Prospekt der Mall war der Laden nämlich unter der Rubrik “Lifestyle” zu finden – genau wie der Starbucks übrigens. Das fand ich sehr bemerkenswert.
Genauso bemerkenswert war die Tatsache, dass ein Kaffeehaus im Starbucks-Stil in meiner Straße leere Wein-Holzkisten im Schaufenster gestapelt hatte, obwohl dort überhaupt kein Wein verkauft wurde – Lifestyle halt. Und deswegen war ich auch zuerst ein wenig genervt, als ich in der Star Street in Wan Chai oder in Soho (= das Stadtviertel “South of Hollywood Road”) diese ganzen schicken Weinbars gesehen habe, in der stylische und geschleckte Menschen nach Feierabend herumstanden, Westerners wie Chinesen. Lifestyle-Kacke, gemacht für Investment-Broker, so meine spontane Aburteilung dieser mir persönlich doch ein bisschen fremden Erscheinungsform.
Aber ich musste mein Urteil ein wenig revidieren. Eine junge und weltoffene Hongkonger Geschäftsfrau, so wurde mir zugetragen, meinte zu diesem Viertel und dieser Lebensart nämlich, dass sie darüber sehr froh sei. Schließlich ginge es um Teilhabe an der modernen Welt, die man ihrer Heimatstadt nicht verwehren sollte. Denn warum bitteschön sollte Hong Kong ausschließlich aus malerisch verfallenen Hinterhöfen und Neonlicht-Buden ohne fließendes Wasser bestehen? Und da ist natürlich etwas dran. Wenn wir Westerner von “authentisch” reden im Zusammenhang mit uns exotisch anmutenden Anblicken, und davon, dass es für immer so bleiben möge, kann es durchaus sein, dass da ein ganz klein wenig der kolonial-paternalistische Wunschtraum durchscheint.
Für mich war in Hong Kong das Nebeneinander von vier verschiedenen Wein-Zugängen auffällig. Der erste Zugang ist gar keiner, denn er beschreibt den Alltag des größten Teils der Stadtbewohner, in dem Wein als Produkt einer fremden Kultur einfach nicht vorkommt. Ist bei uns im Vergleich auch nicht anders, denn ich könnte mich nicht daran erinnern, dass meine Eltern je Sushi gegessen hätten oder auch nur, dass es sie danach verlangen würde.
Der zweite Zugang ist der des Expats und seiner Kolleginnen und Kollegen. Die einen kommen bereits aus Ländern, in denen Wein zumindest zur abendlichen Ausgehkultur gehört, und die anderen arbeiten in einer derart globalisierten Arbeitsumgebung, dass dieser westliche Lebensstil sie ganz automatisch beeinflusst. Das sind die Besucher der Weinbars in SoHo und in der Star Street.
Der dritte Zugang ist der, den wir vorurteilsmäßig am meisten vor Augen haben, wenn wir über Hong Kong sprechen: Kaum eine Weinhandlung kann es sich leisten, keinen Romanée-Conti oder Mouton-Rothschild im Schaufenster stehen zu haben. Wein ist ein Prestigeobjekt, was automatisch bedeutet, dass nur teurer Wein damit gemeint sein kann. Nur in diesem Segment, also dort, wo man es mit hohen Spekulationsgewinnen zu tun hat, dürften die Fälschungen weiter verbreitet sein. Sie betreffen vor allem relativ prestigeträchtige Weine, in aller Regel Rotweine, aus legendären Jahrgängen. Sie betreffen aber auch die gut zwei Dutzend Weinmarken, die jeder Sammler kennt. Das war es dann aber auch. Einen Nuits-St-Georges von David Duband oder einen Château de Camensac wird niemand fälschen; der Gewinn pro Flasche wäre einfach zu gering. Mit der Wertigkeit des Objekts “Wein” geht übrigens einher, dass sämtliche Weinhandlungen nicht nur klimatisiert sind, sondern ihre besseren Weine auch regelmäßig in Klimaschränken liegen haben. Viel Wurschtigkeit habe ich hier nicht gesehen.
Und schließlich möchte ich zum vierten Typus des Weinkäufers in Hong Kong kommen, den ich nicht nur gesehen, sondern mit dem ich sogar direkt gesprochen habe. Und das trug sich so zu: Nach der Besichtigung des Man Mo-Tempels in Sheung Wang war mir in der Nähe ein erstaunlicher Weinladen aufgefallen, Italy Small Vineyards. Die Weinhandlung gehört einem Italiener, den man mit “weinverrückt” vermutlich nur unzureichend beschreiben kann. Er war nämlich mit dem Auto drei Jahre lang kreuz und quer in Italien auf der Suche nach kleinen Produzenten und Weinen aus autochthonen Rebsorten unterwegs, bis er mit nicht weniger als 2.000 Weinen im Gepäck seinen winzigen, dreieckigen Laden bis unter die Decke vollgestapelt hatte. In erster Linie beliefert er Restaurants, steht aber auch Privatkunden zur Verfügung. Beim Anblick des Angebots habe ich meinen Augen nicht getraut. In Deutschland habe ich so etwas noch nie gesehen, selbst in Italien wird es schwierig. In Hong Kong hingegen wirkt dieses fünf Quadratmeter große und vier Meter hohe Kästchen wie ein frisch gelandetes Raumschiff aus einer anderen Welt.
Als ich den Laden betrat, war der Chef leider nicht da, sondern nur seine ausgesprochen nette, aber noch nicht sehr kompetente Assistentin. Ich schaute mich also ein wenig um, als ein anderer Kunde ebenfalls in den Laden kam, womit letzterer dann auch voll war. Wir kamen ins Gespräch (er war Hongkong-Chinese), und es stellte sich heraus, dass er und seine Freunde wahnsinnig neugierig sind, möglichst viel von der Weinkultur zu erfahren – und zwar in praktischer Hinsicht. Sie seien müde von diesen ganzen Cabernet-Merlot-Cuvées aus dem Bordelais und wollten endlich mal die ganze Vielfalt testen. Ich suchte zunächst mir einen Wein aus dem Angebot aus, und gemeinsam fischten wir sechs seltene Rotweine aus autochthonen Rebsorten aus den Regalen, die die Freunde am nächsten Abend niedermachen wollten.
Das ist also der vierte Typus: der aufgeschlossene Gourmet. Und weil es ihn genauso gibt wie den zweiten, den “Weltbürger”, bin ich mir ziemlich sicher, dass die Großstädte in Asien auf mittlere Sicht nicht nur ein gutes Pflaster für die teuren Prestigeweine sind. Natürlich dauert so etwas ein Weilchen, und Ungeduldige mögen sich inzwischen vielleicht mit den theoretischen Grundlagen der Diffusion von Innovationen beschäftigen, aber letztendlich wird es passieren. Ein paar echte Freaks sind ohnehin schon hier. Allerdings: Biodynamisches, Natürelliges und Artverwandtes werdet Ihr derzeit wesentlich stärker in Japan als in China finden; das Geld ist hier einfach noch viel zu frisch gedruckt, als dass man sich bereits mit dem geistigen Überbau auseinandersetzen möchte – jedenfalls tendenziell.
Ich kaufte bei “Italy Small Vineyards” übrigens einen Rotwein aus dem Aostatal, den Fumin 2008 von Elio Ottin. Würzig, Waldbeeren, Kräuter, Holzkohle, kräftige Säure mit leichter Flüchtigkeit, natürlich wirkend, dicht, undurchsichtig, saftig, aber mit sanften Tanninen ausgestattet. Ein Wein, der nicht nur selten ist, sondern auch genauso original und originell schmeckt. Umgerechnet 42 €, was natürlich ein Brett ist, aber ich wollte ihn unbedingt probieren.
Einen zweiten Laden habe ich noch gefunden, ganz in der Nähe meiner Wohnung. Erst verspürte ich keine Veranlassung, ihn zu betreten, denn der Name “Winebeast” deutete für mich ganz eindeutig auf den zu Beginn des Artikels abqualifizierten australischen Dickbackenwein hin. Aber nein, der Name ist einfach nur unpassend, denn der Laden gehört einem französischen Paar, führt genau zwei australische Weine, aber ansonsten ein formidables Angebot französischer Weine, wie man es bei einem guten Caviste in unserem Nachbarland gewohnt ist.
Der Jahrgang 2010 findet mein Gefallen nicht nur im Bordelais und an der Rhône, sondern vor allem auch im Burgund, wo ich dazu neige, ihn für einen der elegantesten, feinsten und nachhaltigsten seit langer Zeit zu halten. Quasi als Beweis kaufte ich beim Winebeast den Gevrey-Chambertin 2010 der Domaine Geantet-Pansiot für umgerechnet 45 € – ein realistischer Preis. Erst eine recht kräftige Würznote und leichtes Holz, dann ganz typisch Pinot, Himbeere, alte Rose, aber nie klebrig (wie so manche mich nervenden deutschen Spätburgunder), sondern immer elegant. Die Säure ist recht kräftig, aber die Materie bietet Platz. Beides zusammen mündet in eine Ausgewogenheit und Feinheit, die ich hier nicht erwartet hätte; Gevrey-Chambertin kann ja bisweilen recht erdig wirken. Das Etikett deutet diese Eleganz übrigens genauso wenig an, wie es die Trinksituation fortführt: Ich sitze in kurzer Hose auf dem Bett und greife mit den Stäbchen nach gebratenen Entenfleischstücken aus einer Plastikschale vom Schnellimbiss.
Zum Schluss möchte ich Euch noch eine Kette von Weinläden vorstellen, die dem Unternehmenskraken Watson gehört: Watson’s Wine. Der Vorteil dabei ist, dass eine der 30 Filialen sich bestimmt in Eurer Nähe befindet, solltet Ihr einmal in Hong Kong sein. Zudem könnt Ihr den Großteil des Angebots im Internet vorher anschauen. Ein paar Dinge werdet Ihr allerdings nur vor Ort finden. Dass die Beratung nicht so kompetent ist wie beim Winebeast – Schwamm drüber. Ich hatte nämlich bereits beim ersten Durchswitchen der Regale einen Wein entdeckt, den ich aus der letzten Decanter-Sonderausgabe über Südamerika kannte. Es handelte sich um einen total erstaunlichen Wein, der noch viel erstaunlicher mit Abstand den ersten Platz bei der Verkostung der besten Syrahs belegt hatte: den Casa Marin Miramar Vineyard aus Chile.
Das Erstaunliche an dem Wein ist, dass er den Avantgarde-Trend von Cool Climate-Weinen aus der Neuen Welt auf ein neues Level gehoben hat: Zwei Kilometer von den wirklich kalten Fluten des Pazifiks entfernt gewachsen, kann der Syrah zwar eine lange Vegetationsperiode vorweisen, die brütende Hitze, die wir außen und innen vom typischen Neuwelt-Wein kennen, ist ihm allerdings völlig fremd. 12 vol% kommen dabei heraus, Zimt, Eisenkraut, sehr pfefferig, roh, pur, starke Fruchtigkeit, aber wirklich überhaupt keine Süße oder Schwere. Was ich jetzt genau von unserem leicht extremistischen Freund halten soll, weiß ich noch nicht, aber er schmeißt jedenfalls alle Vorurteile über den Haufen, die man – noch im Einfluss des Parker-Zeitalters – von den außereuropäischen Weinen so haben kann. 29,80 € umgerechnet, und ansonsten scheint es ihn in Europa bislang nur für 35 Pfund irgendwo in England zu geben – ein guter Preis also.
Ohnehin würde ich allen, die in Hong Kong Wein kaufen wollen (also weniger als Tourist, eher als jemand, der hier arbeitet), das Preissegment zwischen 250 und 450 HKD empfehlen, da sich hier meiner Erfahrung nach die meisten interessanten Entdeckungen machen lassen. Unterhalb von 250 HKD = 25 € sind die Weine prozentual viel zu stark von Zöllen und Transport beeinflusst. Davon abgesehen, ist es natürlich nicht nur finanziell, sondern auch aus anderen Gesichtspunkten unvernünftig, allzu häufig importierten Wein in Hong Kong trinken zu wollen. Passt nämlich selten richtig gut zum Essen, passt auch nicht zum Klima, und zur Ökobilanz erst recht nicht. Trotzdem macht es mir natürlich Spaß, ein wenig durch die Weinläden zu schauen, wo auch immer ich bin. Und Hong Kong ist dafür ganz sicher nicht der schlechteste Ort der Welt.
Nur beim Anbau von Reben tut sich die kleine Stadt am Südchinesischen Meer ein bisschen schwer. Um dennoch für Wochenendausflügler die Stimmung eines echten Weinguts aufkommen zu lassen, hat man an der Südküste der Insel Hong Kong eine Kellerei errichtet, die “8th Estate Winery” – komplett mit Tastings und Barrique-Keller. Ausgebaut werden hier die Säfte von Trauben, die vornehmlich aus Australien in Gefriercontainern eingeschifft wurden. Da man es aber auch in Thailand und in Indien geschafft hat, echte, funktionierende und produzierende Weinberge anzulegen (ich habe mir die jeweiligen Weine sogar gekauft), dürfte ein mit Zinfandel oder Pinotage bepflanzter Hang gar nicht mehr so fern sein.
Wenn Ihr Euch jetzt fragen solltet, ob ich in Hong Kong auch chinesischen Wein vom Festland entdeckt habe (der ja durchaus in ordentlichen Mengen produziert wird), muss ich ein wenig perplex zugeben, dass ich da in London, Brüssel oder Paris eher fündig geworden war. Keinen einzigen chinesischen Wein habe ich in den von mir besuchten Weinhandlungen gefunden. Warum das so ist, erschließt sich mir ehrlich gesagt nicht, aber vielleicht hat ja jemand von Euch eine Idee.
Ich bin perplex, ob dieses fundierten Blogposts. Es ist mir zunehmend ein Rätsel, warum Blogger (oder Menschen, wobei Blogger sind ja auch Menschen), die sich ganzheitlich (Hirn&Herz) mit Wein beschäftigen, deutlich besser und interessanter schreiben, als die/der durchschnittliche Foodblogger/in. Ich habe nicht vor in naher bis mittlerer Zukunft nach Hongkong zu reisen, geschweige denn dort Wein zu erwerben, dennoch habe ich den Artikel mit viel Vergnügen gelesen. Vielen Dank dafür!
Vielen Dank fürs sehr nette (fast ein wenig zu schmeichelhafte) Kompliment. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich nicht meine Erfüllung darin finde, den perfekten Napfkuchen zu backen 😉 (Nebenbei: Es gibt auch sehr überdurchschnittliche Foodblogger)
Der Artikel ist sehr interessant geschrieben. Und bei der nächsten Hongkong Reise muss ich auf jeden Fall bei dem positiv verrückten Italiener vorbeischauen – oder einfach selber 3 Jahre durch Italien fahren.