Ein kurzes Märchen zum Einstieg, das Märchen des Olivier R., Sohn der Stadt, in der er noch immer wirkt. Klein-Olivier interessierte sich zwar schon immer für das Meer und für das Essen, aber – wie üblich bei solchen Werdegängen – studierte erst einmal Chemie, “um meine Mutter glücklich zu machen”, wie er später betonte. Nach einem Überfall, bei dem er schwer verletzt wurde, brauchte er zwei lange Jahre, um wieder zu genesen und hatte dabei genug Zeit, über sein Leben und seine Bestimmung nachzudenken. Das Resultat war klar, er ließ die Chemie sausen und eröffnete gemeinsam mit seiner Frau ein “Table d’Hôte” in Cancale, also eines dieser in Frankreich so beliebten privaten Esszimmer. Sechs Monate später hatte er 15 Punkte im Gault Millau, und der Rest… folgt im nächsten Absatz.
Aus dem Wohnzimmer, in dem er zahlende Gäste bekochte, wurde nach und nach ein Restaurant, “Les Maisons de Bricourt”. Zunehmend berühmt für seine mit gewagten Würzungen verfeinerte Meeresküche, erhielt Olivier bereits im Jahr 1984, zwei Jahre nach seinem Start, den ersten Michelin-Stern. Der zweite folgte vier Jahre später, nach zehn Jahren gab es 19,5 Punkte im Gault Millau, und schließlich – nach 22 Jahren unermüdlicher Anstrengung – im Jahr 2006 den dritten Michelin-Stern. Olivier war im Olymp angekommen. Im Märchen würde er jetzt glücklich und zufrieden weiterleben bis ans Ende seiner Tage. In der Realität sieht sich so ein Dreisterner ganz anderen Herausforderungen gegenüber: Was geht noch? Kann ich nicht eigentlich nur verlieren? Kann es mein einziges Ziel zu sein, 18 Stunden jeden Tag zu schuften, um meinen status quo zu halten? Schaffe ich das körperlich und mental überhaupt? Wenn ja, wie lange? Nach einiger Zeit des Grübelns entschied sich Olivier Roellinger, Ende 2008 sein Restaurant zu schließen und seine drei Sterne freiwillig abzugeben.
Zu unser aller Glück war das jedoch noch nicht das Ende vom Lied, nur wird es jetzt ein wenig leiser gesungen – aber genauso farbig. Das Imperium von Olivier und Jane Roellinger umfasst heute nämlich: eine Pâtisserie, eine Gewürzhandlung, eine Kochschule, ein paar Ferienwohnungen und ein (etwas bescheideneres) Restaurant. Natürlich machen sie das nicht alles selbst, sondern haben damit ihren ehemaligen Dreisternniveau-Mitarbeitern die Möglichkeit eröffnet, in der Region zu bleiben und weiter ihrem Metier nachzugehen, aber bitteschön mit weniger Stress.
Zunächst zur Pâtisserie “Grain de Vanille“, die ich mit Abstand am häufigsten aufgesucht habe. Hier steht Oliviers alter Weggefährte Yannick Gauthier an den Öfen und produziert Großartiges. Vom Kouign-Amann habe ich hier schon berichtet, aber genauso hätte ich einen ganzen Artikel über den Pommé schreiben können, ein apfelgefülltes Blätterteigstück. Oder aber über die berühmte Brioche, die leider immer recht schnell ausverkauft ist. Oder über die feinen Pâtisserieprodukte wie das köstliche Millefeuille. Einmal in der Woche – immer am Freitag ab 14:30 Uhr – gibt es auch Brot, Yannicks Bäckervergangenheit entsprechend. Das mag arg selten sein, und man sollte auch entweder vorbestellen oder nicht allzu spät dort erscheinen. Aber, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, so ein Brotlaib könnte sich auch die ganze Woche über frisch halten – wenn man ihn denn ließe. Das Geschäft befindet sich übrigens ein wenig auf der Rückseite des Zentrums der Oberstadt. Aber so weitläufig ist es hier nicht, und den Place de la Victoire werdet Ihr sicher problemlos finden. Wenn Ihr entsprechend erschöpft seid, könnt Ihr im angeschlossenen Salon de Thé die Köstlichkeiten auch gleich verspeisen.
Das zweite, vielleicht noch etwas faszinierendere Geschäft ist eine Epicerie, die ihre Bezeichnung (= Gewürzhandlung) mehr als verdient hat. Bei “Epices Roellinger” gibt es nämlich die ganze Vielfalt der Gewürzwelt. Was das bedeutet, könnt Ihr beim Stöbern auf der Website erahnen. Allerdings ersetzt diese Vorstellung nicht das Erlebnis, einmal tatsächlich sein mehr oder weniger feines Näschen über die vielen Tester gehalten zu haben, die Olivier respektive Bertrand Tizon in seinem Laden in Cancale bereit hält. In Paris gibt es ebenfalls bereits eine Niederlassung, eine zweite ist in Planung. Aber in Paris gibt es eh alles… Wer Spaß am Kochen hat, wird hier eine Vielfalt und eine Qualität erschnüffeln können, die ich noch nirgends sonst bislang gerochen habe. Gekauft habe ich dann eine Tahaa-Vanilleschote für die traditionelle Silvester-Süßspeise, den “Poudre de Neptune” für meine hiesigen Meeresgerichte, den Szechuan-Pfeffer, das “Fleur de Feu” für die hoffentlich bald startende Grillsaison und noch ein anderes Gewürz, das noch nicht im Katalog aufgeführt wird: den “Piment de la Vera”. Dabei handelt es sich um getrocknete, geräucherte und gemahlene Paprikaschoten aus Spanien. Ich muss gestehen, dass ich wahrscheinlich noch ein zweites Exemplar kaufen werde, und zwar als “Riechfläschchen”. Dieser große Gewürzschwerpunkt erinnert mich sehr stark an das Konzept des Nürnberger “Essigbrätleins”. Wer weiß, vielleicht ist in Franken nach dem dritten Stern ja auch Schluss, und wir können uns über den Verlust mit einer neuen Gewürzhandlung hinwegtrösten…
Ein Restaurant, ich hatte es ja schon angesprochen, ist nach dem Ende der Dreisternigkeit im Roellinger-Imperium übrig geblieben. Es handelt sich um das “Coquillage“, untergebracht in einem Schloss mit Blick aufs Meer, ein paar Kilometer südlich von Cancale gelegen. Neben einigen “kleineren” Menüs gibt es hier für 135 € auch noch den standesgemäßen, achtgängigen Gaumenschmaus, der in ähnlicher Form bereits von Olivier Roellinger zu seinen Hochzeiten kreiert worden war. Da ich selbst das Restaurant nicht besucht habe, kann ich nichts Näheres darüber berichten, aber vielleicht war ja jemand von Euch bereits dort…
Kochschule und Ferienwohnung habe ich ebenfalls nicht in Anspruch genommen, so dass ich jetzt eigentlich das Kapitel “Roellinger-Imperium” schließen könnte. Aber es tauchen in Gesprächen mit ortsansässigen Feinschmeckern (und das scheinen irgendwie alle Einwohner von Cancale zu sein) immer wieder Namen von Personen auf, die zwar bei Roellinger gelernt und gearbeitet haben, heute jedoch keine symbiotische Geschäftsbeziehung mehr zum Imperium pflegen. Zu ihnen zählt das “Breizh Café” direkt am Pier von La Houle, das nur oberflächlich einer typisch bretonischen Crêperie ähnelt. Das heißt, teilweise ist es tatsächlich eine Crêperie, eine sehr gute und beliebte sogar, und zwar im Erdgeschoss. Als “typisch bretonisch” würde ich allerdings allein die Auswahl an Cidres und Poirés nicht bezeichnen, denn mit einer ausgesuchten Cidre-Karte von 20 Positionen können wenige Crêperien hierzulande aufwarten. Unter anderem gibt es dort auch die unglaublich guten Cidres und Poirés von Eric Bordelet, die Ihr vielleicht sogar selbst kennt.
Über der Crêperie im ersten Stock befindet sich allerdings noch eine Überraschung, “Le Table Breizh Café“, ein bretonisch-japanisches Restaurant von, natürlich, Roellinger-Schüler Raphaël-Fumio Kudaka. Hier geht es preislich, qualitativ und innovationsmäßig schon sehr in Richtung einer veritablen Sterne-Küche. Und die verschiedenen Algen wachsen quasi vor der Haustür und müssen nicht (mehr) importiert werden.
Jedenfalls, das könnt Ihr diesem Artikel sicher entnehmen, hat Cancale kulinarisch auch jenseits der allgegenwärtigen Austern eine Menge zu bieten. Die Gewürze werde ich mitnehmen können, die Gebäckstücke aber wenigstens in bester Erinnerung behalten. Was ich faszinierend finde, sind die Kreise an Inspiration, die ein Spitzenkoch mit einem Spitzenrestaurant in einem doch eher abgelegenen Winkel auslösen kann. Ich habe mir sagen lassen, dass dies bei Michel Bras in seiner auvergnatischen “Einsiedelei” ganz ähnlich sein soll. Lokale Produzenten können so endlich zeigen, zu was sie in der Lage sind, innovative Genusskünstler müssen nicht in die Großstädte abwandern. Wer jetzt noch auf schnelle Autos und windige Anlagegeschäfte verzichten kann, weil halt nicht die halbseidene Szene, sondern die wahrhaft Essbegeisterten zu Gast sind, muss sich dann später auch nicht beim Schachtelwirt verdingen…
Danke für diese Story über einen Koch, dessen Portrait ich vor einigen Jahren im Fernsehen gesehen habe. Er hat mich als Persönlichkeit schwer beeindruckt.
Ich habe auch das Gefühl, dass hier im Ort alle Leute unheimlich stolz sind und voll des Lobs. Persönlich habe ich ihn leider bislang noch nicht getroffen, aber ein- bis zweimal werde ich sicher noch im Gewürz- und im Pâtisserie-Laden vorbeischauen…
Ja Matze! Deine Zeit ist ja bald um! Leider natürlich. Genieße den Rest noch. Weihnachten am Rhein?
Jens
Wahrscheinlich. Wenn die Klapperkiste mich wieder zurückbringt, aber das sollte ich besser nicht sagen, ist sonst möglicherweise beleidigt 😉
er ist super nett und lässig cool, kannst stundenlang mit ihm übers Fischen reden, waren oft bei ihm, er hat im Verlag meiner schlechteren Hälfte mehrere Kochbücher herausgebracht, obwohl ich jetzt sein Konzept besser finde! Authentischer.
Mir gefällt sein Konzept auch sehr, wobei man wahrscheinlich so ehrlich sein muss zuzugeben, dass der jetzige Erfolg auch zu einem Gutteil auf seinem Ruf beruht, den er sich hart erarbeitet hat. Der Name zieht halt schon. Sternekoch zu sein, ist für mich übrigens einer der Horrorberufe schlechthin. In körperlicher, aber vor allem auch in psychischer Hinsicht. Rechtzeitig den Absprung zu schaffen, bevor man in beiderlei Hinsicht völlig kaputt ist UND noch etwas Neues aufzubauen, davor habe ich wirklich Respekt.
Ich habe 2004, damals zwei Sterne, bei Olivier Roellinger das beste Mittagsessen in meiner Gourmetlaufbahn genießen dürfen.
St. Pierre „retour des Indes“
Lammcarré „grand caravane“
Das feinste von der Schokolade
Ah, das ist ja interessant: “Retour des Indes” und “Grande Caravane” gibt es noch als Gewürzmischungen bei ihm zu kaufen. Nicht dass ich jetzt auf zwei Sterne komme, wenn ich das Lamm damit einpudere, aber ich fand die Gewürze rein olfaktorisch schon ziemlich großartig.