Was mich immer gewundert hat bei all den Istanbul- und Türkei-Reiseführern, die ich in die Hand genommen hatte: Pastanes mit ihrem Angebot an Baklava werden überall gelistet, Lokum-Shops auch, aber Muhallebicis viel zu selten. Konnten die Autoren das Wort nicht schreiben? Kam ihnen das dort Gebotene zu wenig exotisch vor? Konnten sie hier nichts bezüglich Übersüße und Kalorienschwere der türkischen Süßigkeiten ablästern? Ich weiß es nicht. Allerdings weiß ich, dass Muhallebicis eine enorme Rolle im täglichen Leben der Istanbuler spielen. Und in meinem auch, denn Sütlaç habe ich noch häufiger als Kokoreç in Istanbul gegessen. Was ist also eine Muhallebici?
Ganz einfach, eine Muhallebici ist ein Milchspeisen-Laden. Der berühmte „Pudding-Shop“ übrigens, der sich gegenüber der Hagia Sophia befindet, und in dem sich die ganzen kiffenden Indienfahrer der Spätsechziger getroffen haben, ist kein solcher mehr. Zwar kann man im „Lale Restaurant“, wie es mittlerweile heißt, auch einen Pudding essen. Aber hauptsächlich gibt es Fleischiges oder Vegetarisches, und die Legende hat sich eh längst überlebt. Zurück also zur echten Muhallebici. Das ganze Konzept erinnert ein wenig an die Milchbars oder auch Mokka-Milch-Eis-Bars der DDR. Dass diese Idee eines Gastronomiebetriebs dieser Art, der Milchspeisen und nichtalkoholische Getränke ausschenkt, aus den Prohibitionszeiten der USA stammen soll, habe ich hingegen der Literatur entnommen. Ich bin mir aber sicher, dass die Milchbar im Osmanischen Reich bereits eine lange Geschichte aufzuweisen hat.
Das mit Abstand wichtigste Produkt einer Muhallebici ist der Sütlaç. „Süt“ heißt „Milch“, und „laç“ heißt, glaube ich, gar nichts. Zusammen bedeutet es Milchreis. Wenn der Milchreis nicht nur gekocht, sondern auch gebacken wurde, damit es eine richtig schön eingebrannte Oberfläche gibt, nennt man das Ganze „Fırın Sütlaç“, also „Backofen-Milchreis“. Im Sütlaç sind enthalten: Milch, Zucker, Reis, Reismehl, nach Geschmack ein bisschen Vanille – und Zimt. Der Zimt kann entweder gleich mit in die Masse gegeben oder später auf den fertigen Sütlaç gestreut werden. Der Variationsbreite sind ohnehin wenig Grenzen gesetzt. Bei Nizam gibt es beispielsweise den einfachen Sütlaç, der dort augenzwinkernd als „Diät-Sütlaç“ angeboten wird. Da Nizam ein Haus aus der Schwarzmeer-Region ist, ist die Sütlaç-Normalversion diejenige mit gehackten Haselnüssen als Beigabe, also „Fındıklı“. Die gehobenen Varianten werden noch ein wenig üppiger: Beim „Ballı Muzlu“ gibt es Honig und Bananenscheiben dazu, beim „Atom Sütlaç“ sind auch noch getrocknete und kandierte Früchte mit dabei. Aber selbst die einfache Sütlaçvariante ist alles andere als eintönig. Bei Saray ist das Reismehl so fein und der Sütlaç so elegant, dass man tatsächlich an eine Palastküche denken könnte. Bei Nizam hingegen wird auf deutlich spürbare Reiskörner Wert gelegt und Reismehl praktisch gar nicht benutzt. Viele mögen Nizam gerade wegen seiner etwas „bäuerlicheren“ Herangehensweise. Das besondere Valentinstag-Menü bei Nizam bestand zum Beispiel aus zwei Hackfleisch-Pide und zweimal Sütlaç. Bei Sakarya hingegen gibt es in erster Linie Baklava und eingelegte Früchte und nur in zweiter Linie Sütlaç. Jener setzt dann voll auf den Kontrast zwischen besonders fest gebackener Kruste und besonders zarter Milchspeise mit bereits integrierter feiner Zimtnote. Ich könnte jeden Tag Sütlaç essen. Darüber sollte man aber die anderen Köstlichkeiten der Muhallebici nicht vernachlässigen.
Weitere wichtige Speisen in der Muhallebici sind die Hühnerbrust-Puddings. In manchen Reiseführern als Kuriosität dargestellt, schmecken sie überhaupt nicht kurios. „Tavuk Göğsü“ ist die klassische Version, wieder mit Reismehl und Zucker und – klar – ganz fein geriebenen Streifen gekochter Hühnerbrust. Die Konsistenz liegt irgendwo zwischen Pudding und Gummibärchen, also ziemlich fest, aber noch mit dem Löffel zerteilbar. „Kazandibi“ ist dasselbe, nur der Legende nach am Topfboden vergessen und deshalb rundherum angebraten. Schmeckt köstlich, das wird jeder bestätigen können, der es einmal probiert hat. Ich habe die beiden Produkte, bestreut mit Zimt, bei Lades gegessen. Hier gibt es das Frühstücksangebot, nach dem sich alle traditionellen Engländer sehnen würden, würden sie es kennen: Kleine Pfännchen mit Rührei, Spiegelei, gebratener Wurst, gebratenem Rinderschinken, auch alles vermischt mit Paprika und Tomate – und als Dessert all die Milchspeisen, von denen ich hier schreibe. Das Lades 2 gegenüber ist dagegen ein kebablastiger Ort für den späteren Hunger.
„Aşure“ ist eine legendäre Nachspeise. Die Legende geht so: Noah und seine Frau hatten die große Sintflut überstanden und endlich wieder trockenen Boden unter den Füßen. Der Hunger war aber geblieben, und auf der Erde wuchs noch nicht allzu viel. Da kratzte er alle Vorräte zusammen, die ihm auf der Arche geblieben waren, seine Frau kochte jede Zutat einzeln, und am Ende wurde alles vermischt. Es handelte sich um getrocknete Bohnen, Kichererbsen, Weizen, Reis, Rosinen, Nüsse, Puderzucker und Wasser. Tatsächlich ist diese Speise bereits seit vorchristlicher Zeit bekannt und wird heute nicht nur in der Türkei, sondern auch in Armenien, im Nahen und im Mittleren Osten gern gegessen. Die sieben Bestandteile (plus Wasser) müssen zwingend enthalten sein, und am zehnten Tag des islamischen Monats Daî (Muharrem) wird Aşure traditionell an mindestens sieben Nachbarn und Freunde verteilt. Leider ist der letzte Aşure- oder auch Aschura-Tag am 16. Dezember 2010 gewesen, der nächste also noch eine Weile hin. Anderseits bleibt bis dahin noch genügend Zeit, die Zubereitung einmal selbst auszuprobieren. Das Ergebnis schmeckt wie eine fruchtige Mischung aus dicker Suppe und Apfelmus mit den entsprechenden Einlagen. Bei Saray sind noch wesentlich mehr Bestandteile enthalten, zum Beispiel Granatapfelkerne, Kokosflocken und Feigen, der Fantasie sind also keine Grenzen gesetzt.
Da wir gerade bei getrockneten und eingelegten Früchten sind: „Ayva Tatlısı“ ist eine besondere Köstlichkeit, die von Westerners so gut wie nie geordert wird. Sie sieht aus wie eine rötliche, gallertartige Masse, an der der Zuckersirup schon hinunterläuft, gekrönt von einem riesigen Berg fest gewordener, alter Sahne. Die Wirklichkeit unterscheidet sich in wenigen, aber bedeutsamen Punkten davon, weshalb ich den Genuss von Ayva Tatlısı ausdrücklich empfehle. Es handelt sich nämlich um eine eingelegte Quittenhälfte, die natürlich süß ist und natürlich von einer Haube aus „Kaymak“ bedeckt wird, die selbstverständlich nicht als kalorienarm durchgeht. Das Geheimnis liegt in der Konsistenz und in der Aromatik: nicht zu süß, nicht zu sauer, nicht zu weich, nicht zu rübig. Kaymak ist übrigens nichts anderes als Schichtsahne, die mittlere Schicht des Schichtkäses. Die kleine Molkerei, in der ich als Schüler in den Ferien gearbeitet habe, war berühmt für ihren Schichtkäse. Mittlerweile ist die Molkerei längst eingegangen, und guter Schichtkäse dürfte praktisch nirgends mehr zu bekommen sein. Aber das ist eine andere Geschichte.
Das letzte Produkt, das ich Euch hier vorstellen möchte, nennt sich „Sakızlı Muhallebi“. Sakızlı bedeutet Mastixharz. Genau, das ist dasselbe Produkt, das die Griechen in ihren Retsina geben. Oder vielmehr, das Produkt, das die Griechen in ihren Retsina aus vorindustrieller Produktion gegeben haben. Denn das ist schon wieder eine andere Geschichte. Wenn ich bei Wikipedia übrigens nach „Mastixharz“ suche, wird mir als Alternative „Mastercard“ vorgeschlagen. Das ist wahrhaftig eine bezeichnende Geschichte… In Wirklichkeit liegt es aber daran, dass es doppelt gemoppelt ist: Mastix bezeichnet bereits das Harz des Mastixstrauches. Wonach schmeckt also „Sakızlı Muhallebi“, nach Klebstoff? Nein, überhaupt nicht. Es schmeckt nach Kräutern, Gewürzen, süßer Milch, Pistazien, sehr interessant, aber niemals überfordernd. Nun kommt natürlich dazu, dass man bei Saray noch einmal extra gemahlene Pistazien auf die Speise legt und ein Stück eingebrannte, leicht karamelisierte Milchhaut. Das macht das Ganze noch raffinierter. Aber auch sonst muss ich sagen, dass ich den Sütlaç zwar am meisten gegessen habe und Kazandibi mir auch große Freude bereitet hat. Aber Sakızlı Muhallebi war für mich die überraschendste und raffinierteste Nachspeise, einer Sterneküche würdig. Die umgerechnet gut zwei Euro, die ich dafür ausgegeben habe, habe ich wahrscheinlich schon einmal schlechter angelegt.
Alle meine Tipps stammen aus Beyoğlu, was mir einerseits etwas Leid tut, denn in Istanbul gibt es fast überall gute Muhallebicis. Für diejenigen, die auf Nummer sicher gehen wollen, die Kette „Özsüt“ ist weit verbreitet. Saray besitzt auch mehrere Filialen, die berühmteste davon ist aber das Stammhaus in der Mitte der Istiklal Caddesi. Nizam gibt es nur einmal, und zwar in der Kalyoncu Kulluğu, das zweite Haus links von der Hamalbaşı Caddesi kommend. Sakarya befindet sich nur wenige Meter davon entfernt in der Dudu Okaları Sokak. Die Gasse ist so klein, dass man schnell einmal daran vorbeiläuft. Die beiden Lades-Geschäfte liegen in der Sadri Alışı Sokak, auch nur ein paar Meter von der Istiklal entfernt.
Wieder zurück aus Istanbul, muss ich jetzt unbedingt herausfinden, ob auch hierzulande eine gute „Sütlaçeria“ (wie ich sie immer genannt habe) ihre Pforten geöffnet hat. Manche Schnellimbisse haben jedenfalls einen klassischen Sütlaç im Angebot, bei den anderen Speisen bin ich bislang nicht fündig geworden. Vielleicht kennt Ihr ja entsprechende Adressen und mögt sie mit der Leserschaft teilen…
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