Gestern habe ich einen türkischen Wein getrunken, der mich beeindruckt hat. Und das nicht deswegen, weil es sich um ein so herausragendes Produkt gehandelt hätte, sondern weil es für mich ein Paradebeispiel dafür ist, wie kluges Marketing erfolgreich funktionieren kann. Ich denke, dass sich eine Menge davon auch auf Deutschland übertragen ließe. Hersteller dieses Weins ist nämlich die solide Genossenschaftkellerei aus Şarköy, 200 Kilometer westlich von Istanbul am Marmara-Meer gelegen. Dass man dort anständige Rotweine zu einem angemessenen Preis herstellt, reichte in den Zeiten schwindenden Absatzes leider nicht aus.
Und so überlegten sich die Verantwortlichen bei der Genossenschaft, auf welche Weise man denn an ein attraktives Zielpublikum kommen könnte.
Überlegung 1: Man würde Geld in die Hand nehmen müssen. Über die schlechten Zeiten zu jammern, half nicht weiter. Jetzt musste investiert werden, um sich von den Konkurrenten auf dem Markt irgendwie absetzen zu können.
Überlegung 2: Wen wollte man mit seinem Wein erreichen? Die lokale Bevölkerung, die Stammkunden? Nein, lieber eine neu zu rekrutierende Kundschaft, die nicht nur aus Gewohnheit den Şarköy-Wein kauft. Die Türkei ist ein junges Weinland. Die Tradition des Weinkonsums liegt so weit zurück, dass sich niemand mehr persönlich daran erinnern kann. Wein gilt also ein bisschen als Modegetränk, das die jüngeren und moderneren Käuferschichten in den Städten zunehmend für sich entdecken. Eine schwierige Zielgruppe allerdings, denn den jungen Leuten kommt es nicht nur auf den Inhalt an, sondern auch auf die Verpackung. Ein anatolischer Bauerntropfen mit rückständigem Etikett wird bei der Kundschaft gegen Chile (der wichtigste “Gegner”) oder Südafrika keinen Stich machen.
Überlegung 3: Ein stimmiges Design muss her. Das Design darf aber ruhig mit einem türkischen Thema spielen. Dass der Wein aus der Türkei stammt, ist dann sogar ein Vorteil, denn die Kundschaft würde emotional vermutlich lieber zu einem türkischen Wein greifen. Aber er muss halt konkurrenzfähig sein.
Überlegung 4: Die Konkurrenzfähigkeit muss sich natürlich auch auf den Geschmack beziehen. Ein cooles Design nützt wenig (jedenfalls für den Nachkauf), wenn der Wein entweder dünn und sauer oder dick und plump oder zu kompliziert ist. Rot wirkt wertvoller als Weiß, und außerdem schmeckt er ohne Kühlung, kann also bedenkenlos auf Parties mitgebracht werden.
Überlegung 5: Zwei Weine muss es geben, beide reinsortig, weil das klarer und leichter unterscheidbar wirkt. Und beide müssen einen eigenen Namen bekommen.
Damit waren die Überlegungen abgeschlossen und man konnte zur Umsetzung übergehen. Jetzt wird es wild: Es wurde ein Design-Wettbewerb ausgeschrieben für die beiden Figuren, die den Weinen ihre Namen geben sollten. Hat nicht viel gekostet. Als Rebsorten hat man sich für Syrah und Öküzgözü entschieden, letztere ähnelt aromatisch am ehesten dem Cabernet franc. Nachdem das Gewinner-Designteam feststand, wurde ein Guerilla-Werbespot für das Internet produziert. Hat auch nicht viel gekostet. Die Namen der Protagonisten: Şirazettin (aus Shiraz und Siracettin, ein männlicher Vorname) und Öküzgözlüm (von Öküzgözü und Gözlüm, übersetzt Augen oder Blick. “Öküz” heißt übrigens “Ochse”, aber man konnte ja nicht gleich eine ganze Rebsorte umbenennen). Şirazettin ist ein putziges, schnauzbärtiges Männchen mit dicken Augenbrauen, Öküzgözlüm eine offensichtlich blond gefärbte Dame mit Wallermähne und, tja, Kuhaugen. Öküzgözlüm erstellte für sich sogar ein Facebook-Profil. Hat fast gar nichts gekostet.
Erst einige Zeit später, als die Figuren richtig in der Community angekommen waren (okay, so ist Guerilla-Marketing halt), wurde veröffentlicht, dass beide zu den neuen Weinen von Şarköy gehören. Cumartesi heißt übrigens Samstag, auch das ein Indiz für die Gelegenheit, zu der man diesen Wein mitbringen sollte. Es ist gerade das Spiel mit dem leicht aufgesetzt wirkenden Chic der sichtlich aus der Provinz stammenden Hauptfiguren, das sie so ungemein sympathisch werden lässt. Schließlich wird Wein nicht in der Großstadt gekeltert.
So weit, so gut. Jetzt aber zu dem Produkt, denn wie gesagt, es sollte bei einem realen Hersteller schon etwas hinter der Marketingkampagne stehen, sonst wird es schnell peinlich. Ich habe für diesen Wein etwa 6,90 € bezahlt, das Regal war wegen der Beliebtheit schon fast leer. Beim Entkorken gibt es gleich die nächste Überraschung: Das Styling beschränkt sich nicht aufs Etikett, die Figuren nebst ein paar anderen Geschöpfen machen sich auch auf dem Silikonkork breit. In der Farbe zeigt unser Şirazettin ein kräftiges Dunkelrot mit vielleicht ganz leicht bläulichem Rand. Ein junger Wein natürlich. In der Nase ist der Wein beerig, sehr beerig sogar, Brombeer, Johannisbeer, keine Fehltöne, voll auf die Mitte, klassischer Stahltank, würde ich sagen. Am Gaumen bleibt der Wein sehr fruchtig und beerig, die Säure ist vorhanden aber gut eingebunden, die Tannine ziemlich weggeschliffen. Später wird die Beerenfrucht dunkler, jetzt eindeutig Brombeere, ein bisschen Leder sogar, ein leicht anspruchsvollerer Geschmack. Insgesamt ist dies ein astrein internationaler Wein, fruchtig, schmackhaft, ausgewogen, 12,5vol% leicht. Nie könnte man sagen, woher er stammt, aber dafür sorgt ja das Etikett.
Mein Fazit: Ziel 100%ig erreicht, Hut ab. Dies ist der sauberste und jugendlich ansprechendste Wein, den ich bislang in der Türkei getrunken habe. Dafür dass ich definitiv nicht zur Zielgruppe gehöre, gefällt mir der Wein erstaunlich gut. Nichts wirkt künstlich oder getrimmt. Allerdings, um nicht missverstanden zu werden: Mir persönlich fehlen natürlich Charakter, Anspruch und Finesse, also alles das, was einen wirklich erstklassigen Wein ausmacht. Die ganze Geschichte erinnert mich sehr stark an die immens erfolgreiche Kooperative von Embres-et-Castelmaure im südfranzösischen Languedoc mit ihren ebenso beerigen Weinen (die Website ist nicht my cup of tea, das nur nebenbei). In der RVF haben die Castelmaurer im letzten Jahr den Preis für die beste Genossenschaft abgeräumt. Zwei Beispiele für ihr Etikettendesign seht Ihr in diesem Artikel. Das könnte doch mal eine Idee für eine innovative Genossenschaft aus deutschen Landen sein. Wöllsteiner, Kiechlinsberger, Dürrenzimmerner, Gengenbacher, wie sieht’s aus bei Euch?
Oder liebe Weinfreundinnen und Weinfreunde, wie sieht’s aus bei Euch? Könntet Ihr Euch einen innovativ designten Genossenschaftswein für den Alltag oder als Mitbringsel vorstellen? Oder achtet Ihr nie aufs Design?
Hallo Matze!
Marketing hin und her. Design. Produktplazierung. Generierung einer neuen Käuferschicht. Marktanalyse. Alles gemacht und offensichtlich erfolgreich gewesen, wie Du schreibst, denn das Regal im Supermarkt mit diesem Wein war fast leer – nur wer braucht dieses Zeugs wirklich. Ich definitiv nicht!
Grüße Jens
Naja, brauchen ist im Zusammenhang mit Wein natürlich ein großes Wort ;).
Du brauchst den Wein sicherlich nicht. Auch meine persönliche Linie ist das nicht, ich hatte es ja in dem Artikel angedeutet. Aber ich denke da an meine – mittlerweile weit entfernte – Vergangenheit, wenn ich diesen Wein sehe. Ich habe ziemlich umfassende Aufzeichnungen von meiner “Weinentwicklung”, meinem Excel-Freaktum sei Dank. Da steht am Anfang der Beaujolais von der Norma für 2,99 DM die Flasche. Ich gab ihm seinerzeit die Note 2-3. Das gehört definitiv auch zu dem von Dir erwähnten “Zeug”. Aber weil ich weiß, wie ich damals gedacht habe und wo ich heutzutage stehe, begreife ich so etwas wie diesen Syrah in erster Linie als Evolutionsmöglichkeit.
Die anvisierte Zielgruppe würde als Alternative zum schaumstabilisierten Bier aus hiesiger Produktion oder zu Alkopops greifen. Da ist dieser Genossenschaftswein eindeutig die bessere Wahl. Was man sich natürlich fragen kann (ich hoffe, ich interpretiere Dich da richtig): Wäre es besser, auf die Zielgruppe ganz zu verzichten und keinen Wein dieser Art herzustellen? Oder aber anders herum: Mit welcher Art Wein könnte ich sonst an eine junge Novizenschicht kommen? Ich denke gerade darüber nach, bin mir aber noch nicht schlüssig. Was meinst Du?
Wenn man die ganze Sache aus monetärer Sicht beleuchtet ist das natürlich ein toller Coup. Ich habe den Markt analysiert, eine Gesellschaftsgruppe- oder Schicht analysiert. Daraus meine Lehren gezogen, den Lifestyleaspekt (facebook) nicht außer acht gelassen und ein Produkt am Markt plaziert und das auch erfolgreich. Alles richtig gemacht, wenn ich wirtschaftlich orientiert arbeite.
Aus Gründen der Geschmacksnivellierung und der Globalisierung im allgemeinen halte ich als Projekt für fragwürdig. Wein ist der Ausdruck eines Klima, einer Region, eines Bodens und eines Winzers, der alle Komponeten in einen Zusammenhang bringt oder aber das bewußt nicht macht. Wein sollte nicht nivellierend sein.
Wenn Du mich schon so persönlich fragst, dann sollte man auf diese Zielgruppe verzichten.
Und auf die Frage mit der jungen Novizenschicht hab’ ich so recht auch keine Antwort.
Bei mir hat sich das im Laufe der Jahre entwickelt mit dem Wein. Zuerst Weißweine von der Loire im unteren Preissegment, über Sancerre und Champagner in Kombination mit Austern und anderem Meeresgetier während meiner zahlreichen Aufenthalte an der französischen Atlantikküste in Kombination mit dem französischen Lebensgefühl. Dadurch wurde meine Neugier geweckt und ich betrieb und betreibe immer noch empirische Studien auf diesen Gebieten.
Grüße Jens
Hallo Jens,
Du weißt ja, dass ich ein großer Verfechter von Charakter und “Authentizität” (was auch immer das ganz konkret sein soll) im Wein bin. Insofern natürlich d’accord, keine Nivellierung. Andererseits muss ich doch noch mal auf das zurückkommen, was ich beim letzten Post geschrieben hatte: Ich habe Wein nicht mit der Muttermilch aufgesogen und musste mich erst durch bewusste Entscheidungen herantasten. Eine davon hieß: Wie teuer? Mein Freundeskreis bestand aus lauter BAFöG-Empfängern, also gab es halt Beaujolais oder (wenn es von der Loire sein sollte) allerhöchstens Muscadet oder Touraine Sauvignon. Das waren in aller Regel solche Weine, die ich bei meinem Loire-Artikel als technisch erzeugtes Massenprodukt abgekanzelt habe. Schon fränkischer Silvaner war uns damals meist zu teuer.
Nach dem guten alten Motto “stay true to yourself” muss ich einfach konstatieren, dass ich ohne diese relativ charakterarmen und sicher auch nicht von einem bewussten Winzer im Einklang mit der Natur erzeugten Weine meinen weiteren Weg wohl nicht genommen hätte. Nach dieser Hürde kamen meine zwei Monate in der Provence, und ab da war eh alles anders. Insofern sage ich für mich: Ja, diese Weine haben eine Berechtigung als Teaser.
Was mich aber interessieren würde: Welche empirischen Studien betreibst Du denn? Hoffentlich doch keine Selbstversuche mit angegorenen Austern 😉
Viele Grüße, Matze
Pingback: Türkischer Wein: Corvus Bornova Misket 2008 | Chez Matze
Austern verspeise ich für gewöhnlich frisch und roh und manchmal auch gratiniert. Angegoren eher nicht. Lediglich angegorene Sardellen / Sardinen verwende ich in der asiatischen Küche in Form von Fischsoße. 😉
Die empirischen Studien beziehen sich eher auf das Verkosten von Wein und die Kombination von verschiedenen Speisen. In dieser Beziehung bin ich ein Suchender und ich hoffe ich komme nie an, denn schließlich ist ja der Weg das Ziel. 😉
Zurück zum Wein! Meinem dafürhalten nach gibt es bereits genug Wein den ICH und viele andere auch nicht brauchen und ich bin auch mit dem Virus Wein infiziert worden mit den von Dir bereits erwähnten, technisch produzierten “Massenweinen”.
Diese Mengen sollten auch für die Türken reichen um dem Virus zu verfallen….
Grüße Jens