Meine lieben Freundinnen und Freunde, wir wissen nichts über China. Beispiel gefällig? Sage und schreibe 105 Städte in China haben mehr als eine Million Einwohner. Bitte nennt doch mal ein paar davon außer Peking und Shanghai. Übrigens geht auch mir nach einer Handvoll schnell die Puste aus. Shenyang? Gibt’s immerhin Direktflüge ab Frankfurt, 7 Mio. Einwohner. Hangzhou? Die neue Luxusmetropole, Sitz von Alibaba, 9,2 Mio. Einwohner. Shijiazhuang? Hauptstadt der kulinarisch wichtigen Provinz Hebei, 5 Mio. Einwohner. Dabei bleibt es nicht, denn auch von der Sprache verstehen wir kein Wort, können kein einziges originales Schriftzeichen lesen. Schon bitter irgendwie, diese Ignoranz. Nun, die Sprache werdet hier auf einem Ess- und Trink-Blog leider nicht lernen. Aber ich habe etwas anderes aus dem real life, das uns eine intensivere Beschäftigung mit China im besten Wortsinne schmackhaft machen kann. Richtig, die Alltagsküche.
Wie ich zur chinesischen Alltagsküche gekommen bin
Ich schmücke mich ungern mit fremden Federn. Insofern gebe ich offen zu, dass ich nicht durch eigenes Tun zur chinesischen Küche gekommen bin, sondern inspiriert von meiner allernächsten Umgebung. Seit ein paar Jahren folgen Julia und ich Xi Chen alias eatinginberlin auf Instagram. Zu Anfang hatte Xi noch eher Restaurantchecks gemacht, Imbisse ausprobiert, also jene Art der kulinarischen Exploration, die wir auch betreiben. Im letzten Frühjahr machte Julia mich aber darauf aufmerksam, dass Xi unter dem »internationalen« Namen Sissi Chen ein Kochbuch veröffentlicht hat. Mit selbst ausprobierter chinesischer Alltagsküche. Natürlich hat sie es sofort bestellt. Und dieses Buch wiederum hat unsere Alltagsküche total umgewandelt.
Julia und ich arbeiten zwar in unterschiedlichen Branchen, aber beide grundsätzlich remote (»Home Office« ist ja so ein lustiger falscher Freund…). Gleichzeitig sind wir aber Anhänger der warmen Mittagsmahlzeit. In der Vergangenheit hatte das dazu geführt, dass es entweder so etwas gab wie Spaghetti Pesto, oder ich anderthalb Stunden der wertvollen Arbeitszeit irgendwie rumgeköchelt habe. Beides nicht ideal. Außerdem stand uns der Sinn auch nach interessanten Speisen, Geschmäckern, die wir noch nicht kannten. Für beides sorgte das Buch. Zum einen versprach Xi darin, dass fast alle Gerichte in 15 Minuten fertig seien. Zum anderen musste man dafür nur etwa ein halbes Dutzend an chinesischen Alltags-Utensilien kaufen, die wir definitiv vorher nicht in der Küche stehen hatten. Jene sind zwingend notwendig für den, tja, »authentischen« Geschmack.
Was heißt für mich »authentische« Alltagsküche?
Meist wird der Begriff »authentisch« verwendet im Sinne von »echt« und »ursprünglich«, ist also positiv konnotiert und gleichzeitig auf eine als wahrhaftig empfundene Alltags-Vergangenheit bezogen. Was dabei gern mal vergessen wird: Das Spannende am Alltag besteht darin, dass er Wandlungen unterliegt. Insofern ist »authentisch« eigentlich alles, was an einem bestimmten Ort tatsächlich gegessen wird. An kulinarisch besonders dynamischen Orten macht sich das natürlich stärker bemerkbar als beispielsweise in der Kantine einer Versicherung, die ich kürzlich besucht habe. Da gab es nämlich »authentische« deutsche Küche der frühen 1980er Jahre. Hackbällchen, Kartoffeln, Spießbraten, Mischgemüse, ihr wisst schon.
In vielen ostasiatischen Großstädten gibt es hingegen »Fusion« als Megatrend. Das heißt, Elemente, die es urprünglich in einer bestimmten »Nationalküche« gab, werden zwecks Weiterentwicklung miteinander verschmolzen. Weil sie als cool gelten und den Leuten einfach schmecken. Einen kleinen Einblick in diese Welt am Beispiel der Gebäcke konnte ich schon einmal bei einer fantastischen Food-Messe in Seoul erhalten. Und mein Croissant-Trend-Artikel bezieht sich ebenso darauf. Ganz hot war vor kurzem auch die Netflix-Serie Culinary Class Wars, in der Köchinnen und Köche gegeneinander antraten. Millionen von Menschen haben die Serie gesehen, und die Auswirkungen sind noch nicht abzusehen. Falls ich jetzt den Eindruck vermittele, zu weit von der versprochenen chinesischen Alltagsküche abzukommen, hier kommt die Abbiegung.
»Pointed Cabbage« – Spitzkohl als neues Lieblingsgemüse
Spitzkohl hatte ich bislang kaum beachtet. Vor allem deshalb nicht, weil ich nicht wusste, wie einfach man ihn in der Pfanne (!) zubereiten kann. In Sissi Chens Buch gibt es mehrere Varianten ebenso wie auf Instagram. Diese hier haben wir zuerst ausprobiert und sind total überzeugt. Der Spitzkohl wird in vier Viertel geschnitten und in der Pfanne mit etwas Neutralöl von allen drei Seiten angebraten (Deckel drauf, damit es nicht zu sehr spritzt). Dann gibt man für die letzten Bratminuten eine Soße darüber, die aus zerdrückten Knoblauchzehen, Sojasoße und »Crispy Chilli in Oil« besteht. Letztere gibt es von der Marke Laoganma in jedem Asia-Supermarkt. Oder online. Das Ganze wird mit Reis serviert, ist super schnell fertig und sehr schmackhaft.
Für eine andere Variante davon brät man Hack an und gibt es mit der Soße zum fertigschmorenden Kohl. Oder man nimmt statt der chinesischen Laoganma ein koreanisches und ein europäisches Element, nämlich Gochujang und Butter. Da sind wir dann auch bei Fusion und den Culinary Class Wars, denn das war eines der Gerichte, das ein Koch in Zeitnot mit großem Erfolg entwickelt hat. Gochujang ist eine fermentierte Würzpaste aus unter anderem Klebreismehl und Chilli, die in der koreanischen Küche nie fehlen darf. Bekommt man auch easy im Asia-Markt, teilweise sogar schon bei Rewe oder Edeka. Butter leicht angeschmolzen, mit der Paste und etwas Wasser vermischt und dann zum bratschmorenden Kohl geben. Genial einfach und, tja, authentisch.
Hot & Dry Wuhan Noodles – Frühstück (sehr) alternativ
Wuhan ist auch eine dieser Millionenstädte, die eigentlich nicht viele deutsche Normalos kennen würden. Dabei hat sie 12 Millionen Einwohner, liegt am Zusammenfluss von Jangtse und Han und besteht seit nicht weniger als 3500 Jahren. Hierzulande ist Wuhan jedoch fast ausschließlich als die »Covid-Stadt« in den Medien. Dabei gibt es dort eine kulinarische Spezialität, die zu den absoluten Klassikern der chinesischen Alltagsküche zählt. Oder vielmehr zu den Klassikern der Hubei-Küche. Ich spreche von den Hot & Dry Noodles oder »Re Gian Mian«, die es in vielen verschiedenen Varianten gibt (siehe Titelfoto oben).
Grundlage hier sind Mian, also getrocknete Weizennudeln. Weil sich jene völlig anders verhalten als ihre italienischen Counterparts, sollte man sie im Asia-Markt kaufen. Die Soße ist ein bisschen tricky, denn sie besteht aus Sesampaste, Sesamöl, Sojasoße, chinesischem Essig, weißem chinesischen Pfeffer, scharfem Chilliöl und aromatischem Chilliöl von Lao Gan Ma. Das muss alles miteinander verrührt werden. Gleichzeitig kann man schon die Beilagen vorbereiten, die bei uns aus Gurkenstiften, Koriander und grünen Frühlingszwiebeln bestehen. Nachdem die Nudeln fertig gekocht sind, was nie lange dauert, vermengt man sie mit der Soße und nimmt nach Belieben die Beilagen dazu. Erdnüsse kann man übrigens ebenso reichen wie – Achtung, kulinarische Erweckung für mich – Chinese Pickles.
Die fermentierten und gewürzten Gemüse gibt es praktischerweise in kleinen Beuteln. Meine absoluten Lieblinge sind Senfkohl-Stängel, Zhacai. Es ist unglaublich, wie, tja, »authentisch chinesisch« das schmeckt. Kostet kaum etwas und erweitert den Horizont total.
Wo man sonst noch chinesische Alltagsküche finden kann
Bücher haben wir mehrere, zwei möchte ich hier nennen. Einmal das schon erwähnte Buch »Einfach chinesisch« von Sissi Chen. Und dann das deutlich umfangreichere »Die chinesische Küche« von Handa Cheng. Handa Cheng lebt in Paris, und wie durch ein Wunder wurde das Buch bereits ins Deutsche übersetzt. Ihr findet dort nicht nur etwas komplexere Versionen der Alltags-Rezepte zwischen Shanghai und Sichuan, sondern auch interessante Erklärungen und Einordnungen wie die 35 Kochtechniken.
Was aber eigentlich die Szene beherrscht, das sind die Social Media-Kanäle der Protagonist:innen, auf denen sie nicht nur Fotos zeigen, sondern auch viele Rezepte vorkochen. Ich persönlich finde, dass Instagram da immer noch die beste Quelle ist, aber wer auf TikTok sucht, wird sicher ebenso fündig. Deshalb gleich noch mal die entscheidenden Links:
- eatinginberlin – Xi Chen/Berlin, 119.000 Follower, ständig neue Rezepte, Reels und Entdeckungen. Auch vegetarisch/vegan, wir sind ja in Berlin – unsere erste Inspiration.
- red.house.spice – Wei Guo/London, 59.800 Follower, gibt’s auch als Blog. Profi und Vorreiterin. Die Rezepte sind meist etwas komplexer.
- chifan_paris – Handa Cheng/Paris, 49.100 Follower, ein bisschen weniger reine Rezepte, eher Grundsätzliches.
- jingche – Jing Chen/Wien, 121.000 Follower, »Restaurateur & Quasiphysiker«, viel praktische Tipps, Philosophisches, Unterhaltung – und ein eigenes Messer (haben wir natürlich).
Was noch fehlt…
sind eigentlich mindestens zwei Sachen. Erstens natürlich eine Reise nach China selbst, um Eindrücke und Inspirationen vor Ort sammeln zu können. Gut, ich war schon in Hong Kong, aber die (ebenfalls großartige) Hong Kong- und Guangdong-Küche, die es dort gibt, ist etwas ganz anderes. Dann war ich auch in Shanghai, aber leider viel zu kurz. Da gibt es also noch room for improvement.
Das Zweite, was man als fehlend betrachten könnte auf einem prinzipiellen Weinblog, wäre eine passende Getränkeempfehlung. Fast überall liest man, dass zu »chinesischer Küche« ein leicht fruchtsüßer Riesling gut passen würde. Und tatsächlich zeigen aktuelle Daten, dass deutsche Rieslinge in China überdurchschnittlich gut performen. Wenn ihr mich persönlich fragt, würde ich allerdings zu der Aussage neigen, dass es sich dabei um ein ausgesprochen stark erlerntes Phänomen handelt.
Zum einen ist eine solche Empfehlung ebenso gekonnt, als würde man zur »europäischen Küche« grundsätzlich Cabernet-Sauvignon reichen. Gerade junge Rieslinge mit ihrer meist noch sehr hellen, apfelig-zitronigen Frucht tun sich beispielsweise mit einer rot-rauchigen Schärfe à la Sichuan und erst recht der eingekocht-braunen Süße der Guangdong-Küche weitaus schwerer als kraftvollere Typen. Zudem: Gerade bei gedämpftem Kohl finde ich Süße ungefähr genauso attraktiv wie bei Sashimi – nämlich gar nicht.
Ich selbst trinke am liebsten neutral-erdige Gebräue wie Hōjicha dazu. Oder Bier. Aber probiert es ruhig ganz offen für euch selbst aus. Das ist ja das Gute am Fusion-Ansatz, dass erlaubt ist, was gefällt – um zum Abschluss noch einmal völlig unvermittelt Goethe zu zitieren.
Mir hat die chinesische Alltagsküche (primär der mittleren Provinzen) jedenfalls total die Augen geöffnet, was neue, aufregende Geschmäcker unter der Woche anbelangt. Dafür herzlichen Dank an Julia (auch weit nach dem Valentinstag) und vor allem den hier genannten Kulturvermittlern. Und glaubt mir, lasst ihr euch erst darauf ein, garantiere ich für nichts.
Sissi Chens Buch ist seit deiner Vorstellung bei uns regelmäßig im Einsatz. Danke für den Tipp!
Mein Zugang zur chinesischen Küche läuft über den Youtube Kanal von “Chinese Cooking Demystified” – zwar auf englisch, aber danach habe ich regelmäßig Lust zum Nachkochen. Kennst du sicher auch
Dieses – zugegeben recht akademische Video – erklärt außerdem hervorragend, wie vielfältig die chinesiche Küche wirklich ist:
https://youtu.be/fTa_T2pVwuk?si=8IL98udkFOKClqiI
Danke für das Verlinken! Das hatte ich tatsächlich auch schon gesehen
. Und dazu spricht er ja noch sehr schnell, also es ist wahnsinnig viel in die 40 Minuten hineingepackt.
Die Vielfalt ist schon ungemein faszinierend. Wahrscheinlich darf man einfach keine Angst davor haben, Dinge nicht beim ersten Mal zu verstehen oder auch nur erfassen. Das könnte vielleicht auch einer der wichtigeren Gründe dafür sein, weshalb sich verhältnismäßig wenige Menschen hierzulande mit China beschäftigen. Die Komplexität suggeriert, dass du gar nicht erst anzufangen brauchst, wenn du erst in 20 Jahren “fertig” werden kannst. Dabei lohnen sich schon die ersten Schritte…
…insbesondere das mit dem Spitzkohl muß ich wohl auch mal probieren, vielen Dank für die Anregung(en)! Weinmäßig könnte ich mir dazu auch gut was länger Maischevergorenes oder auch was leicht Oxidatives vorstellen…
Ja, definitiv, das wäre sicher die beste Kombination!