Neulich hatte ich im Mafo-Newsletter des Deutschen Weininstituts gesehen, wie sich die registrierten Weinverkäufe in diesem Jahr entwickelt haben (ich zeige das gleich weiter unten). Während die ersten Monate ein wenig zäh waren, ging es im zweiten Quartal richtig ab. Und der überragende Gewinner dabei war die Weinfarbe Rosé mit exorbitanten Steigerungsraten. Warum könnte das so sein? Und was lernen wir als Weinleute daraus? Ich habe mich hier mal ein wenig aus der Deckung gewagt und präsentiere ein paar Grafiken und analytische Überlegungen, die mit Weinkonsum, Demographie und Diversität zu tun haben. Wäre ja schade, wenn ich meine beruflichen Skills nur beim Plaudern während des Abendessens anwende…
Rosé boomt – sogar im Lockdown…
So sah es mit den Weinverkäufen im ersten Quartal 2020 aus im Vergleich mit dem Vorjahresquartal. Ihr könnt sehen, dass Wein insgesamt einen kleinen Rückgang zu verzeichnen hatte, der besonders durch den gesunkenen Rotweinverkauf bedingt war. Rosé verkaufte sich jedoch fast 4% besser als im Vorjahr. Hier sind übrigens nicht die Einkaufsmengen, sondern die Einkaufswerte gemeint. Wenn ihr euch die Originalquelle anschaut, werdet ihr aber sehen, dass beides parallel verläuft.
…und erst recht danach
Das sind die Werte für das zweite Quartal, wiederum verglichen mit dem Vorjahr. Hier wird noch deutlicher, dass Roséweine die absoluten Überperformer waren. Und diese Tendenz zeigt sich schon seit einigen Jahren. Der Durchschnittspreis für Rosé hat sich gleichzeitig in diesem Quartal um mehr als 5% erhöht, weil das untere Preissegment zulasten der oberen Preissegmente zurückgegangen ist. Also nicht nur mehr Rosé, sondern auch noch teurer.
Jetzt muss man natürlich relativierend anmerken, dass im Nielsen Homescan Panel zwar der private Hauskonsum repräsentativ abgebildet wird, nicht jedoch der Außer-Haus-Verbrauch. Soll heißen: Wenn ein Restaurant geschlossen ist (oder ich nicht hingehen möchte) und ich den Wein, den ich letztes Jahr noch dort getrunken habe, jetzt zu Hause genieße, dann geht das hier als Steigerung mit ein. Auch das veränderte Urlaubsverhalten wirkt sich entsprechend aus. Aber gehen wir nicht zu sehr ins Detail. Der hauptsächliche Bias dürfte nämlich nur für die Entwicklung des Konsumverhaltens insgesamt gelten und nicht primär für die Weinfarbe. Es bleibt also dabei: Rosé rocks.
Fast 49% der Wertanteile des Rosés beziehen sich übrigens auf deutsche Weine. Frankreich kommt auf 16%, Spanien auf 12% und Italien auf 11%. Es ist also durchaus nicht so, dass nur Rosés aus der Provence profitiert haben.
Wer trinkt Wein in Deutschland?
Um diese Frage beantworten zu können, möchte ich auf eine sehr interessante Untersuchung verweisen. Sie stammt zwar schon aus dem Jahr 2017, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass die starken Zahlen, die dort präsentiert wurden, noch gar nicht bei allen angekommen sind. Jedes Jahr wird unter der Regie des Geisenheimer Professors Gergely Szolnoki eine Repräsentativbefragung zu Kauf- und Konsumverhalten bei Wein durchgeführt. Das ist an sich schon sehr spannend, und ich empfehle allen, sich das einmal anzuschauen.
Zusammen mit seiner Professoren-Kollegin Simone Loose hatte Szolnoki darüber hinaus beim 40th World Congress of Vine and Wine einen Beitrag zum Thema Alter und Konsumverhalten erstellt, und aus jenem stammen die Werte für meine folgende Grafik. Bei den Ergebnissen handelt es sich sozusagen um die Gesamtschau der Panelabfragen von 2006-2014, weshalb kein einzelnes Jahr angegeben ist.
Die Alten retten die Weinwelt!
Führt euch bitte die obige Grafik einmal zu Gemüte. Auch hier muss man wieder eine methodische Einschränkung festhalten, nämlich dass es sich um Eigenauskünfte der Befragten handelt. Wenn also aus irgendeinem Grund bei unterschiedlichen Altersgruppen eine unterschiedlich ausgeprägte Einstellung zu wahrheitsgemäßen Angaben vorhanden sein sollte, dann wirkt sich das als Bias hier aus.
Sollte sich diese Verzerrung hingegen in Grenzen halten, ist das Ergebnis schlichtweg beeindruckend. Menschen in Deutschland trinken den meisten Wein in den Altersgruppen zwischen 65 und 74 Jahren. Selbst die über 80jährigen trinken pro Kopf und Jahr noch mehr als die unter 50jährigen.
Nun zeigt die Bevölkerungspyramide in Deutschland, dass es weniger 80jährige als 50jährige gibt. Das bedeutet, dass von den reinen Weinmengen her die Altersgruppe zwischen 55 und 59 Jahren den meisten Wein trinkt.
Was bedeutet das für den künftigen Weinkonsum in Deutschland allgemein? Und was bedeutet das konkret für den Rosé?
Wie sieht die Zukunft des Weintrinkens aus?
Wenn wir diese Frage genau beantworten könnten, könnten wir auch andere Fragen über die Zukunft beantworten. Vermutlich würden wir dann eher zu anderen Themen befragt werden als ausgerechnet zum Weinkonsum. Also: Prognosen, die mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auch zutreffen und die etwas anderes sind als eine bloße Fortschreibung, sind furchtbar kompliziert. Aber es existieren ein paar Indizien, in welche Richtung es gehen könnte.
- Der Weinkonsum ist wie der allgemeine Alkoholkonsum pro Kopf heute niedriger als vor einigen Jahrzehnten. Nach Angaben der WHO lag der Pro-Kopf-Verbrauch von Wein in Deutschland in den 1980er Jahren noch um fünf Liter höher.
- Die Altersverteilung war damals allerdings auch eine ganz andere. In den 80er Jahren lag der sogenannte Altenquotient bei 24, jetzt liegt er bei 36. Das heißt, die Bedeutung des Verhaltens der Älteren ist heute wesentlich größer für den Durchschnitt als damals.
- Wenn heute die Älteren den Weinkonsum pro Kopf heben, er früher aber insgesamt noch deutlich höher gewesen ist, dann müssen früher die Jüngeren grosso modo (mindestens) so viel getrunken haben wie die Älteren heute. Das ist auch nicht so schrecklich überraschend, denn schließlich handelt es sich zu einem gewissen Teil um dieselben Personen.
- Diese etwas langatmige Erklärung führt zu einer wichtigen Vermutung: Man kann nicht davon ausgehen, dass die heute 30jährigen mit 70 genau so viel Wein trinken werden wie die heute 70jährigen, nur weil man “automatisch” mehr Wein trinkt, wenn man älter wird.
Die Bedeutung von Verhalten und Diversität
Noch zwei wichtige Komponenten hinsichtlich des Verhaltens der jüngeren Generation kommen hinzu:
Der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund im weiteren Sinn beträgt bei den unter 5jährigen 40%, bei den 25-35jährigen 33%, bei den 65-75jährigen jedoch nur 15%. Unsere Gesellschaft ist also schon diverser geworden, und das wird auch weiter zunehmen. Nun gibt es da jede Menge zu präzisieren und zu relativieren, aber dennoch erscheint es mir plausibel anzunehmen, dass es unter den Menschen mit Migrationshintergrund einen größeren Anteil mit weinfernerer Familiensozialisation gibt.
Zusätzlich ist es auch insgesamt bei der jüngeren Generation in Deutschland so, dass außerhalb der Weinbaugebiete die alkoholische Initiation nicht primär über Wein erfolgt.
Wir werden es also zukünftig mit einem höheren Anteil an Wein-Noviz/innen zu tun haben. Das ist allerdings keineswegs katastrophal. Nur müssen wir Weinleute uns durch den fehlenden Automatismus mit dem Erreichen neuer Zielgruppen mehr Mühe geben. Zielgruppe meine ich übrigens nicht nur bezüglich der Konsument/innen, sondern auch bezüglich der Produzent/innen. Von wegen role model, you know? Ich warte beispielsweise immer noch auf die erste türkischstämmige Starwinzerin in einem deutschen Weingut. Das sind ja nicht nur alles Betriebe in jahrhundertealtem Familienbesitz bei uns.
Aber jetzt kommen wir endlich zu der Frage, was der Roséwein in dieser Hinsicht für uns tun kann.
Weshalb Rosé jetzt also die Weinwelt rettet
Rosé ist akzessibel, und das gleich in mehrfacher Hinsicht, weshalb er Noviz/innen entgegenkommt.
- Er ist vergleichsweise preisgünstig. Es gibt keinen Rosé, der hunderte von Euros kostet.
- Deshalb gibt es auch kein entsprechendes Brimborium darum. Der Rosé als Prestigeobjekt wird (anders als hochwertige Rotweine) atmosphärisch nicht von vermögenden alten Männern besetzt. Die trinken den zwar auch mal, philosophieren aber nicht darüber.
- Durch das fehlende Philosophieren und Brimborisieren ist die Schwelle viel geringer, sich mit der Materie zu beschäftigen. Rosé flößt nicht die Angst der Unwissenheit ein. Man muss nicht Teil einer bestimmten Elite oder Tradition sein, um Rosé trinken zu können.
- Auch beantwortet ein Rosé im Supermarktregal die schwierige Frage, ob zu Essen xy eher ein Roter oder eher ein Weißer passt. Dann wird stattdessen als Kompromiss der Rosé genommen, bei dem man nie so ganz falsch liegen kann.
- Schließlich wirkt Rosé durch seine Farbe psychologisch leicht, sommerlich und feminin. Rosa ist eine Modefarbe, die gerade nicht dem 85jährigen ehemaligen Vorstandsvorsitzenden vorbehalten ist. Frauen (= die Hälfte der Bevölkerung) sagen sich so intuitiv, “dieser Wein ist auch für uns gedacht” (aus Gründen der Sozialisierung natürlich, die Rosa-Vorliebe ist nicht angeboren…).
- Finanziell, bildungsmäßig, ethnisch und geschlechtlich bewegen wir uns hier also auf einem vergleichsweise wenig diskriminierenden Territorium. Das ist schon mal sehr wichtig.
Geschmacklich kommt ein Rosé oft auch den Einsteigern entgegen. Da kann man tatsächlich auch von der Fruchtsüße sprechen, muss es aber nicht. Als besonders schwierig gelten nämlich insbesondere zwei Komponenten, die Rosé selten besitzt, bitter und gerbig. Wer das nicht glaubt, bitte mal das Video der beiden YouTuber Sturmwaffel und Julien Bam anschauen. Die haben nämlich gar keine Ahnung von Wein und bringen das bei der leicht ungewöhnlichen Weinprobe so offen rüber, dass man als Weinprofi einiges dabei lernen kann.
Weinmenschen, die ich kenne, kritisieren oft am Rosé, dass es sich um ein sehr technisch hergestelltes Massenprodukt handelt. Ganz klar, die meisten Supermarkt-Rosés sind genau das. Aber das liegt meiner Meinung nach nicht primär an der Weinfarbe. Es gibt Rosé auch in Saignée, Unfiltriert, Natural, Lokal, Rebsortencharakteristisch. Rosé muss nicht technischer sein als andere Weintypen.
Fazit
Ein langer Artikel zu einer einfachen Frage, die aber dann doch relativ komplex ist. Ich fasse also zusammen:
- Rosé hat in der jüngeren Vergangenheit große Zuwächse beim Verkauf aufweisen können.
- Das liegt daran, dass er gleich auf mehrere Arten nicht diskriminierend wirkt, dass er also nicht von bestimmten Merkmalen besetzt ist, die persönlich ausschließend wirken können.
- Auch zukünftig wird die zunehmende Diversität der Bevölkerung in Deutschland und die Abnahme des tradiertes Ess- und Trinkverhaltens der Vergangenheit die Weinwelt quasi dazu zwingen, sich mit neuen Zielgruppen zu beschäftigen.
- Umso dringender brauchen wir einen adäquaten Weintypus mit geringen Schranken.
Der Rosé wird also unsere Weinwelt eher retten können als jeder andere. Allerdings lohnt es sich, genau in diesem erfolgversprechenden Segment mehr Auswahl zu bieten. Etiketten, Namen, Rebsorten, Bereitungsarten, zielgruppenspezifische Trigger, auch Preisdifferenzierung – ich sehe da noch jede Menge Luft nach oben.
Was meint ihr dazu? Und gehört ihr auch zu den Rosé-Käufern des Jahres 2020?