Vielleicht war der Sommer 2018 so etwas wie eine Zeitenwende. Also in kleinem Umfang, nämlich mein persönliches Wegfahrverhalten betreffend. Seit ich mich erinnern kann, wollte ich im Sommer immer in den Süden. Schon als Kind bezeichnete ich die Autobahn in Richtung Süden als „toll“ und die in Richtung Norden als „doof“. Zum Leidwesen meiner Schwestern empfand mein Vater heimlich genauso, „einmal im Jahr schönes Wetter haben“, und so ging es in den Sommerferien deutlich öfter in den sonnigen Süden als ans Nordmeer.
Der Sommer 2018 raubte mir jedoch den letzten Nerv. In der brütenden Hitze der Stadtwohnung ohne Balkon, die selbstverständlich komplett nach Süden auf eine eng bebaute Straße ohne Baum und Strauch zeigt, wurde uns klar: So geht das nicht weiter. Aber schließlich ist es zum Umdenken nie zu spät. Also beschlossen wir in diesem Jahr zwei entscheidende Veränderungen. Erstens: Wir fahren mitten in den Sommerferien weg, weil da die Hitze in der Stadt am schlimmsten ist und es die Auftragslage am ehesten zulässt. Zweitens: Wir fahren nicht weit und quartieren uns zwischen München und Salzburg in einem Dorf im Chiemgau ein. Kleine Seen gibt es dort genug, und wenn man nicht direkt am Chiemsee oder am Alpenrand ist, kann man dem größten Trubel entgehen.
Vielleicht würde es ja sogar ein bisschen fad sein. Vielleicht würden wir ein Buch lesen können und Gummibärchen schnullen, während es draußen regnet auf die grünen Wiesen. Eine verblüffend attraktiv wirkende Aussicht. Tatsächlich war und ist das Wetter aber weitgehend angenehm, und so folgen hier acht kleine Etappen vornehmlich kulinarischer Art (große Überraschung), die wir im Chiemgau absolviert haben.
1. Neuwirt, Truchtlaching
Die Gastwirtschaft Neuwirt macht von der Straße aus einen denkbar schlechten Eindruck. So dicht brausen Autos und dank der gesperrten Bundesstraße momentan sogar riesige Lkws am Haus vorbei, als würden sie jedes Mal ein kleines Eckchen davon abbrechen wollen. Dafür tut sich auf der anderen Seite des Hauses ein kleines Paradies auf. Der schattige Biergarten blickt direkt auf das Flüsschen Alz, und so passiert es nicht selten, dass hier eine ganze Kanufahrtruppe einkehrt. Auf der Speisekarte steht frischer Fisch von lokalen Fischern. Jene gibt es rund um den Chiemsee übrigens noch in deutlich größerer Zahl als ich befürchtet hatte. Ich nehme Saibling, und es schmeckt gut.
2. Schlosswirtschaft, Wildenwart
Wildenwart ist eher ein größerer Weiler als ein echtes Dorf und liegt im Westen des Chiemgau. Ein schmales Sträßchen führt von einem Kreisverkehr bergab, was garantiert, dass niemand hierher kommt, der es nicht will. Die Schlosswirtschaft ist ein Slow Food-gelistetes Refugium guter, frischer und regionaler Küche. Ich hatte schon direkt nach meinem Besuch auf Facebook und Instagram davon berichtet, aber doppelt schadet in diesem Fall wirklich gar nicht. In der häufig wechselnden Speisekarte (es gibt auch noch eine zusätzliche Tagesoption) werden alle Lieferanten gelistet, sei es für Fleisch, Fisch, Gemüse oder Backwaren. Ich wählte zunächst eine Brühe, weil ich mich ein bisschen schwächlich fühlte. Alsdann war die Konstitution gut genug für eine Kalbsleber mit selbst gemachtem Apfel-Chutney.
3. Alter Wirt, Seeon
Der Alte Wirt in Seeon ist ein wahrhaft stattliches Haus. Das gilt sowohl für das Äußere als auch für das Innere, wo der Gastsaal von einer dicken steinernen Säule getragen wird. Draußen gibt es einen sehr schönen Biergarten, der im Sommer offenbar nur einen Nachteil kennt: Er ist schnell voll. Alles ist liebevoll angerichtet, der Service sehr freundlich und professionell. Die Speisekarte hingegen kennen Stammgäste allzu gut, hat sie sich doch in den vergangenen zehn Jahren kaum verändert. Aber wer nicht seinen ganzen Urlaub hier verbringt, wird mit dem Seeoner Jungbullengulasch oder den Drei Guadn aus Tirol (drei Knödelvariationen) sicher absolut zufrieden sein.
4. Malerwinkel, Chiemsee
Der Chiemsee wirkt eigentlich nur so richtig komplett, wenn man die Berge im Hintergrund sieht. Eine der schönsten Stellen hierfür ist der Malerwinkel südwestlich von Seebruck. Es gibt hier ein gleichnamiges Hotel mit Restaurant, aber man kann auch einfach so auf Steg und See und Berge am Horizont schauen.
5. Sacher Grill, Salzburg
Salzburg gehört ganz zweifellos nicht zum Chiemgau, hat es nie getan und wird es aller Voraussicht nach auch nie tun. Dennoch bietet sich gerade ein wettermäßig weniger freundlicher Tag für einen Ausflug in die kleine Weltmetropole an. Der Sacher Grill im gleichnamigen Hotel befindet sich auf der schäl Sick, wie die gemeinen Salzburger das der Altstadt gegenüber liegende Ufer nennen. Die Kellner sind zahlreich, livriert und dienstfertig. An den Nachbartischen finden Gespräche statt, denen ich in bester Gerhard Polt-Manier nun wirklich nicht lauschen will. Aber was soll ich tun, wenn Stammgast S. mit Pomp begrüßt wird…? Er nimmt wie immer ein Achterl Veltliner, „ah naa, wissen’s, bringen’s mir glei a Viertel. Wann mer scho amol a Ruh hat vor der Gattin…“. Einen Tisch weiter deklamiert ein Festspielorganisator über “dieses andere Hotel, Sie wissen schon, unmöglich, da hab ich ja allein an Unterkunft für’s Orchester schon 50.000 ausgegeben, da ist noch keine einzige Note gespielt!“
Aber natürlich kommt man des Essens wegen in den Sacher Grill, der nur ein einziges Grillgericht auf der Karte hat, den „SalzBurger“, ansonsten aber allerlei traditionell Österreichisches. Wir haben es uns deshalb nicht nehmen lassen, die Salzburger Nockerln zu probieren. Jetzt bin ich ja kein großer Kenner, was Mehlspeisen im Allgemeinen anbelangt und Nockerln schon gar nicht. Aber als kleiner Hinweis auf die Schwierigkeit des Bereitens mag dieses Foto herhalten. Es zeigt die unterschiedlichen Konsistenzstufen übereinander, die sich im Nock bilden müssen.
6. Sporer, Salzburg
Einer der Orte auf der touristendurchfluteten Getreidegasse, der sich einen ganz anderen Charme erhalten hat, ist der, tja, Alkoholausschank Sporer. Es gibt hier hausgemachte Brände und Liköre, aber auch Weine, die seit 1903 glasweise an der immer gerammelt vollen Theke ausgeschenkt werden. Der Lage nach müsste man vermuten, dass es sich um eine klassische Touristenfalle handelt, und das ebenfalls seit dem Jahr 1903. Aber nichts da. Bereits ein kurzer Blick auf einige der ausgestellten Weine zeigt, dass es beim Sporer wirklich interessante Dinge gibt. Ich habe mich für den Amphorenwein von Dorli Muhr entschieden, aber nicht für den abgebildeten Grünen Veltliner, sondern für einen 2013er Blaufränkisch.
Wer an dieser Stelle übrigens auf ein Update zum Mozartkugel-Artikel wartet: Alles beim Alten, Fürst mit dunkler Schokonote, Habakuk mit flüssigerem Nuss-Nougar, beide gut, dann lange nichts.
7. Wanderung zur Klausenhütte
Unvollständig wäre ein Aufenthalt im Chiemgau ohne eine kleine Wanderung in den Bergen. Nun wisst ihr als Stammleser/innen ja sicher, dass ich ab und zu sehr gern durch die Landschaften wandere, egal ob in diesem Frühjahr in Andalusien, letztes Jahr am Plansee oder auch (um mal eine ganz andere Welt einzubringen) in Bangkok. Die Tour, die ich mir im Chiemgau ausgesucht habe, ist ganz sicher nicht die spektakulärste oder landschaftlich schönste. Aber ich bin unterwegs den Tag über lediglich einer einstelligen Zahl von Menschen begegnet, und so schlecht ist die Aussicht vom Klausenberg nun auch wieder nicht. Weshalb hier direkt an der Grenze zwischen Österreich und Deutschland so wenig los ist, liegt natürlich auch daran, dass die Klausenhütte geschlossen hat und man sich deshalb Essen und Trinken im Rucksack mitnehmen muss.
8. Camba Bavaria, Seeon
Wer noch die Anfänge in Truchtlaching direkt an der Alz kennt, kann wirklich nur staunen, was aus der Camba geworden ist. Die Lage im Gewerbegebiet ist vielleicht ein bisschen weniger romantisch, dafür aber umso praktischer. Die beeindruckenden BrauKon-Anlagen im Echtbetrieb kann man mittlerweile (wie bei Cantillon in Brüssel) auf einem kleinen Rundweg selbst besichtigen und sich nachher dann noch zwei Biere zapfen. Vielleicht ist Cantillon als konstrastierender Vergleich auch gar nicht schlecht, denn während in Brüssel noch das 19. Jahrhundert ächzt und dampft, blitzt hier das 21. aus allen Ecken. Individuelle Biere kann man aber sowohl mit alter als auch mit neuer Technik machen.
Ein Beispiel von vielen bei Camba ist dieses Weißbier neuer Prägung namens „Jager Weiße“. Vier Hopfensorten sind hier am Werk, nämlich Hersbrucker und Tradition auf der einen und Simcoe und Chinook auf der anderen Seite. Dadurch kommt bei gemäßigter Bitterkeit (IBU 29, für ein Weizen natürlich hoch) eine schön frische Aromanote in einen Biertyp, der ansonsten eher zur dichten Bananigkeit neigt. Sollte man auf jeden Fall probieren, ebenso wie die Brote aus der hauseigenen Bäckerei.
Und damit geht es aus der Sommerfrische im Chiemgau so langsam wieder zurück in städtische Gefilde. Vielleicht zeigt sich der August dieses Jahr ja gnädig und sieht ein, dass sonnige 23 Grad eigentlich am allerbesten sind für Mensch und Natur…
Chiemgau-Rückfahrt – Biohotel Hörger
Ein kleiner Nachtrag: Wenn auf der A 9 nördlich von München ein nerviger Stau droht und sich auch noch ein plagendes Hungergefühl einstellt, für den haben wir etwas gefunden. In Hohenbercha, nicht weit von der Abfahrt Allershausen entfernt, gibt es das Biohotel Hörger, das zusätzlich als “Tafernwirtschaft” fungiert. Die alte Gaststube wird gerade hergerichtet, aber es gibt auch jetzt schon genügend Platz drinnen wie draußen.