Das ist eine ebenso einfache wie große Frage. Und ein ebenso kluger wie reflektierter Mann wie der italienisch-kanadische (sic!) Weinexperte Ian d’Agata sollte doch darauf eine Antwort haben. Sonst hätte er ja nicht sein großartiges Buch „Native Wine Grapes of Italy“ schreiben können.
In der Tat hat mich die Frage, wann etwas oder jemand „einheimisch“, also „autochthon“ sein und werden kann, schon seit vielen Jahren verfolgt. Im Grunde dreht sich die ganze Migrations- und Integrationsdebatte um dieses Thema. Und eine wirklich nietundnagelfeste Antwort gibt es nicht darauf. Jedenfalls dann nicht, wenn man rein statistische Definitionen als unzureichend begreift, weil sie der Komplexität der Sache nicht gerecht werden. Aber selbst wenn man sich dann einig sein sollte, ob jemand einheimisch ist oder nicht, hat das noch nicht geklärt, ob sich jemand auch so fühlt oder von seiner Umgebung auch so wahrgenommen wird. Nebst all den Zwischentönen, die es zwischen den vorgeblichen Polen „Sein“ und „Nicht sein“ so gibt.
[Interessanterweise ist es in der rechtlichen Praxis ausschließlich dann möglich, mit einer derartig schwierigen Frage umzugehen, wenn man sie auf die einfache statistische Dimension reduziert. Das wird zwar der Komplexität nicht gerecht, vermeidet aber Subjektivität und Spekulationen.]
Wie sieht das also mit Reben aus? Auch so kompliziert?
Nicht ganz. Rebsorten, die in anderen Gegenden entstanden sind und sich entwickelt haben, bezeichnet d’Agata als „international“ – und beschreibt sie nicht. Rebsorten, die in Italien selbst entstanden sind, gelten dementsprechend als „native“, also einheimisch. In die Zwickmühle kommt der Ansatz aber dann, wenn es sich um Rebsorten handelt, die zweifellos irgendwo anders entstanden waren, die aber seit langer Zeit in der lokalen Kultur verwurzelt sind. So beispielsweise der Cannonau (= Garnacha) in Sardinien oder auch der seit dem 18. Jahrhundert im Veneto angebaute Merlot. D’Agata führt hierfür also noch eine dritte Kategorie ein und nennt sie „traditional“.
Grob gesagt, nach etwa 300 Jahren wird eine Rebsorte traditionell, weil sie dann mit dem biologischen und sozialen Ökosystem verwoben ist. Manche Autoren sind da auch lockerer und gestehen der Rebsorte nach dieser Zeit bereits den Autochthonen-Status zu. In jedem Fall ist es ein enorm langwieriger Prozess.
Wo gibt es die meisten Rebsorten?
Italien besitzt nach d’Agatas jahrzehntelangen Forschungen ungefähr 500 Rebsorten, aus denen auch kommerziell Wein bereitet wird. Das ist die mit Abstand größte Zahl aller Länder der Welt. Robinson, Harding und Vouillamoz kommen in ihrem Monumentalwerk „Wine Grapes“ übrigens auf 377 kommerziell angebaute Rebsorten in Italien und exakt 1.368 in aller Welt.
Pierre Galet, um auch noch das andere große Nachschlagewerk zu zitieren, hatte in seinem „Dictionnaire Encyclopédique des Cépages“ unglaubliche 9.600 Rebsorten beschrieben. Allerdings sind einige darunter, die mittlerweile dank DNA-Analyse als identisch gelten können. Wieder andere (der Hauptteil sogar) findet man hingegen in den großen Genpools, im Kaukasus, in Zentralasien bis hin nach China. Da dies für unsere professionelle Ampelologie weiterhin der „unsichtbare“ Teil der Welt ist (wer bezahlt schon Grundlagenstudien in Usbekistan), wissen wir nicht, ob die Rebsorte Tchotchvakh noch in irgendwelchen Gärten steht oder gar Wein aus ihr bereitet wird.
Italia bella e diversificata
Solange das so ist, bleibt Italien für uns das bedeutendste Kaleidoskop, die größte Wundertüte für autochthone Rebsorten und für die aus ihnen bereitete Weine. Wer also behauptet, er kenne sich exzellent aus mit italienischen Weinen (ich wähle bewusst die „Er“-Form, denn sowas können nur Männer behaupten), der möge doch die „Native Wine Grapes of Italy“ von Ian d’Agata kaufen, die 600 unbebilderten Seiten durchlesen und darin nichts Neues erfahren. Allen anderen jedoch, die sich für Wein im Allgemeinen und seltene lokale Rebsorten im Besonderen interessieren, wird das Buch eine Lektüre sein, die sie nicht mehr missen möchten. (Das Buch gibt es bei diversen Anbietern, ihr werdet es finden.)
Damit bin ich am späten Freitagabend am Ende meiner italienischen Woche angelangt. Hier findet ihr die Auflistung der anderen Artikel, falls ihr nur zufällig per Google auf diesen Blogpost gestoßen seid:
Die italienische Woche:
- Montag: Weinläden in Bari
- Dienstag: Pasta Senatore Cappelli
- Mittwoch: Ein Tag bei der “Slow Wine” in München
- Donnerstag: Hungrig auf Interrail
- Freitag: Ab wann gilt man als einheimisch?