Irgendwann in der jüngeren Vergangenheit hatte ich einmal proklamiert, ich müsse jedes Jahr mindestens einmal nach England fahren. So richtig daran gehalten habe ich mich seitdem leider nicht. Und die schlüssige Begründung dafür, warum ich denn so etwas machen müsse, bin ich auch schuldig geblieben. Das soll nun dank meiner drei tollen Tage auf der Insel nachgeholt werden.
1. Grund: die Überfahrt
Es mag Menschen geben, die es eilig haben und die deshalb ganz unempathisch den Tunnel benutzen. Aber so geht das nicht. Ich bitte Euch, wer fährt denn schon durch einen Tunnel, um eine Insel zu erreichen, die ringsherum von Meereswasser umgeben ist? Einer Insel nähert man sich nicht durch die Erde, sondern mit dem Schiff übers Wasser. Aus alter Gewohnheit und weil uns in jüngeren Jahren Calais mit seinen vielen Fähren zu anstrengend wirkte, kommen wir immer über Dunkerque. Zwei Stunden Fahrt, bis die weißen Klippen von Dover in Sicht kommen. Vorfreude.
2. Grund: das Meer in all seinen Erscheinungsformen
Die Unterkünfte in England zählen ganz sicher nicht zu den modernsten und auch nicht zu den günstigsten der Welt. Trotzdem würde ich in der Neben- und Überhauptnichtsaison immer ein Zimmer mit Meeresblick empfehlen. Von denen gibt es in den Seebädern entlang der Küste genug. Und es ist einfach spektakulär, wie sich das Meer immer wieder ändert.
„The coast is always changing“, hieß vor einigen Jahren ein mittelerfolgreicher Song der Band Maximo Park. „I’ll bring my camera out to sea, the coast is always changing.“ Und so ist es auch. Kaum in Eastbourne angekommen, zieht schon ein heftiger Schauer über den Strand und verschwindet alsbald als dunkler Fleck am Horizont.
Vormittags bricht sich das Licht ganz seltsam impressionistisch in den Wolken, während die See keinen Wellengang zeigt.
Nachmittags tobt dann urplötzlich ein Sturm vom Atlantik herein und verwandelt das morgens doch so glatte Meer in einen Gischtkessel.
3. Grund: der Country Walk
Die Engländer lieben ihre Countryside und wandern an schönen Tagen mit Kind, Kegel und Picknickkorb durch das grüne Land. Wenn ein Country Pub in der Nähe ist, auch gern ohne Picknickkorb. Ganz sicher kein Geheimtipp ist die Wanderung am Cuckmere River entlang zu den Seven Sisters, der berühmten Kreidefelsformation. Wochentags außerhalb der Saison wird man sich allerdings nicht gegenseitig auf den Füßen herumtreten und die Landschaftsempfindungen genießen können.
Im Tal rasten im Frühjahr und Herbst oft große Schwärme von Zugvögeln, aber auch die standorttreuen Enten, Gänse und Möwen sind fotogen genug.
Leider gibt es bei diesen Country Walks auch manchmal Abschnitte, bei denen ich ahne, warum die englischen Wanderer immer ein paar Gummistiefel im Auto mit dabeihaben.
4. Grund: die Felsen und Steine
Der Anblick der Felsen am Meer lässt dann schnell die Schlammklumpen an den Füßen a.k.a. einstmals schmucke Turnschuhe vergessen.
Und wenn man auch nicht baden kann bei diesen Temperaturen, gibt es wohl kaum einen besseren Ort zum Sammeln von Steinen als die englische Kreideküste. Die Feuersteinknollen besitzen einen enormen Farben- und Formenreichtum, Lochsteine inklusive. Wenn Ihr mit Kindern unterwegs seid, werdet Ihr auf dem Rückweg also einen ganzen Sack voller Steine schleppen dürfen. Wenn Ihr Euch die kindliche Begeisterung erhalten habt, ebenso.
Ohnehin ist es immer wieder erstaunlich, welche Formen und Prinzipien sich die Natur so ausdenkt. Oft sieht es so aus, als hätte Andy Goldsworthy dort gerade seine neueste Installation aufgebaut.
5. Grund: die Lämmer
Besonders schön finde ich den Seven Sisters Walk zur Frühlingszeit, wenn die ganzen neu geborenen Lämmer mit auf den Wiesen sind, und die Luft erfüllt ist von Vogelgesang und Schafsgesprächen. Die ganz Kleinen sind allerdings noch im Stall, üben aber schon mal, wie das Zeug so schmeckt, das die Großen immer essen.
6. Grund: die Middle Farm
Solltet Ihr in der Gegend zwischen Eastbourne und Brighton unterwegs sein und Euch für Essen und Trinken interessieren (Letzteres bei der freiwilligen Lektüre dieses Blogs vorausgesetzt), fahrt doch unbedingt einmal zur Middle Farm direkt an der A 27, die die beiden Seebäder verbindet. Hier beherbergt man nicht nur die „National Collection of Cider and Perry“, sondern auch andere ausgewählte kulinarische Erzeugnisse kleiner Hersteller, eine gute Auswahl an Rohmilchkäsen beispielsweise, dazu viele englische Biere, die je nach Gusto unter dem Label „Real Ale in a Bottle“ oder „Craft Beer“ firmieren (wobei alle „Real Ales“ irgendwie auch „Craft Beers“ sind). Ihr könnte Kurse belegen, in den Ferien mithelfen oder gleich einen Hühnerstall samt Hühnerschar erwerben.
Die Auswahl an guten englischen Bieren ist in den letzten Jahren schlichtweg explodiert. Gab es in den 1990ern noch kaum ein anständiges, unindustrielles Bier mehr nach dem großen Brauereiensterben, zählt man heute wieder über 900 gewerbliche Braustätten im Vereinigten Königreich, und immer mehr von ihnen füllen auch in Flaschen ab. So wie die allerdings höchst traditionelle, bereits 1790 gegründete Brauerei Harveys (samt Brauereiladen) in Lewes, nur ein paar Meilen weiter von der Middle Farm in Richtung Brighton. Lewes mit Burg und alten Gassen ist ohnehin einen Ausflug wert.
7. Grund: das Country Pub
Natürlich könnt Ihr auch in Lewes in ein Pub gehen. Aber Ihr könnt auch irgendwo auf dem Land ein „Country Pub“ aufsuchen, am einfachsten mit der ziemlich genialen Suchmaschine von CAMRA, Karte, Fotos und Öffnungszeiten inklusive. Oft handelt es sich um Häuser, die schon mehrere Jahrhunderte auf dem Buckel haben, einen Kamin besitzen, eine sehr niedrige Decke, Nischen und Zimmerchen zum Essen, eine Bar mit Bier aus Handpumpen – kurzum: der Inbegriff von Gemütlichkeit.
Biere gibt es natürlich auch, schön bis zum Rand gefüllt, nicht zu kalt wegen der besseren Geschmackswahrnehmung und bekömmlich niedrig in der Kohlensäure. Links im Bild das „Best Bitter“ von Harveys, rechts das „Oatmeal Stout“ der Brauerei Downlands, ein Haferbier also.
8. Grund: die Menschen
Nicht zuletzt fahre ich nach England auch der Menschen wegen, ihrer ganz besonderen Art, ihrer Themen, ihres Umgangs miteinander. Die gesetzten Herren an der Theke des Pubs „Brewers’ Arms“ in Lewes waren beispielsweise mit großem Eifer und Begeisterung dabei, ein höchst kompliziertes Kreuzworträtsel zu lösen.
9. Grund: die Nostalgie
Im Allgemeinen neige ich nicht dazu, die Vergangenheit zu glorifizieren, und das aus mancherlei Gründen. Trotzdem muss ich zugeben, dass mich eine gewisse Faszination erfasst, wenn ich immer wieder auf Elemente eines, tja, irgendwie „Good Old England“ stoße. Das sind die Herren beim Kreuzworträtsel, das sind Damen bei „lovely conversation“ im Tearoom, das kann aber auch ein Auto wie der Morris Minor mit Holzrahmen für den Kombiaufbau sein.
Oder auch die Häuser, Backsteine, Schornsteine, dazu immer mal wieder eingeflochtene Extravaganzen, Orientalismen, Schnörkel und Kitsch.
Oder auch Häuserreihen und Arbeitersiedlungen wie aus dem Song „Dirty Old Town“: „I met my love by the gas works wall, dreamed a dream by the old canal, I kissed my girl by the factory wall, dirty old town, dirty old town“. Häuser in England – das heißt immer noch zwei Wasserhähne pro Waschbecken, und sei es noch so klein, das heißt immer noch undichte Fenster, durch deren Ritzen der Wind pfeift, das heißt alte Teppiche über knarrenden Dielen.
Als ich mich mit einer jungen polnischen Hotelangestellten darüber unterhalten habe, wie das Leben in England so ist, meinte sie leicht verzweifelt: „Ach, es ist immer alles so „gemütlich“ hier, „so cozy, so lovely“. In Wirklichkeit heißt das, es ist alt und verbraucht und funktioniert entweder nicht mehr oder fällt demnächst auseinander. Ich möchte auch mal wieder in einem modernen Hotel arbeiten! Mit geraden Wänden, mit neuen Steckdosen, mit Türen und Fenstern, die nicht schon 100 Jahre alt sind… Ständig diese Feuertüren, die man beim Saugen immer auf- und zumachen muss, überall diese kleinen Winkel und Ecken!“ Tja, des einen Freud, des andern Leid.
10. Grund: die Chipsauswahl
Und damit ganz zum Schluss noch der zehnte Grund für echte Gourmets, ab und an mal wieder nach England zu fahren: die Chipsauswahl, hierzulande „Crisps“ genannt („Chips“ auf der Speisekarte sind Fritten). Die Konkurrenz ist nämlich groß. Tyrrells kennt man ja auch in Deutschland, allerdings nicht die ganzen englischen Sondersorten. Für Kettle hat Chefkoch Chris Barnard neue Sorten entwickelt wie „Gressingham Duck, Plum Sauce and Spring Onion“, und die Kaufhauskette Marks & Spencer steht ebenso nicht zurück mit Sorten wie „Salt Marsh Lamb and Mint“ oder „Lemon Harissa“. Goldene Zeiten mithin für Menschen, die unter dem Begriff des “Gesunden” auch mal etwas Fettiges verstehen.
Und damit geht es im minimal vollgepackten Auto wieder zurück auf den Kontinent. Nur drei Tage auf der Insel, und schon wieder so viele Eindrücke! Man müsste so etwas öfter machen…
Nach gut 2,5 Jahrzehnten (seitdem ich in England studiert hatte) geht es in den Sommerferien mit der Familie nach England. Die waren noch nie dort. Ich denke, die werden begeistert sein. Aber auch ich muss England wieder neu für mich entdecken. Und die Ales, den Käse und und und.
Die Chipsauswahl wäre mir jetzt nicht eingefallen, die anderen 9 Gründe teile ich bedingungslos.
Bezüglich “cosy” Hotels: ich durfte mal 4 Wochen lang in Woking mit einer Badewanne mit 2 Wasserhähnen und ohne Abflussstöpsel zurecht kommen und in Oxford mit einer Kaltwasserdusche am Gang.
Zugegeben, bei der Chips-Geschichte spielen eher persönliche Vorlieben eine Rolle 😉
Diesmal hat bis auf das zugige Fenster eigentlich alles sehr schön funktioniert. Gut, bis auf die Tür zum Bad, aber Privatsphäre wird ja ohnehin überbewertet. Bei einer früheren Unterkunft fand ich den “Meter” sehr nett, den man immer mit einer Pfundmünze füttern musste, damit der Strom weiterläuft.
Wenn ich deine Beiträge lese, habe ich danach jedes Mal entweder Hunger, Durst oder Fernweh. In diesem Fall vor allem letzteres, denn ich habe mein Herz im letzten Jahr hoffnungslos an England verloren. Was ich hier auch noch vermisse: Biersorten aus dem Supermarkt, die Einhörner auf dem Etikett haben und malzig-kräftig nach Schokolade schmecken. 🙂
Liebe Grüße
Ida
Hello Matthias
I hope you also enjoyed the eleventh good reason to go to England, especially to the seaside — some proper fish and chips! And to make it a full dozen, for me, it´s definitely English gardens, something to enjoy all year round.
All the best,
Eva
Yes, you are absolutely right! Fish and Chips, of course, they were by the way really tasty (both the batter and the fish itself) at the Brewers Arms in Lewes. Unfortunately, Sissinghurst wasn’t open yet, only the building. I have to admit that although I own a big book about English gardens I have hardly seen one in full bloom 😉
Well, yes, it is a bit tricky, the gardens are always changing, just like the coast 🙂 But then, there is always something to enjoy in every season (if they are open, of course…) The white garden and bluebell walk in Sissinghurst are really worth seeing in full bloom, though. So good luck next time!
And thank you for the lovely photos of the coast, the light is beautiful.
So tolle Bilder von der Insel. Ich bin auch eine große England-Liebhaberin und kann deine Aufzählung nur bekräftigen. Ich würde noch das englische Frühstück dazu nehmen und die Tea-Time.
Ich muss Abbitte leisten beim englischen Frühstück, Du hast vollkommen recht. Als ich vor einigen Jahren mal über einen Monat in der Nähe von Bristol gewohnt habe, hatte ich sogar einen kleinen Artikel darüber geschrieben (einen meiner ersten übrigens, damals lasen diesen Blog ungefähr 30 Leute 😉 – https://chezmatze.wordpress.com/2010/11/21/full-english/
Mittlerweile muss ich zugeben, dass meine Unterkünfte in England genau ein einziges Pflichtkriterium besitzen, nämlich dass es dort ein “Full English” gibt. Man kann es auch einen Spleen nennen, denn zu Hause frühstücke ich nie üppig. Aber vielleicht genau deshalb: Das Full English bedeutet für mich einfach, unterwegs zu sein…
Es gibt ja inzwischen überall in England auch airB&Bs die absolut Spitze sind. Vor kurzem in Hastings in einer super-de-luxe Bleibe… Das mit dem Meerblick, oh ja, da hast du Recht.
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