Wie wäre es, wenn ich einfach mal einen ganz normalen Tag beschreibe, wie ich ihn hier in Tokio verlebe? Für Menschen, die noch nicht oft in Tokio waren, so dachte ich mir, könnte sowas ja auch ganz interessant sein. Außerdem ersetzt es ein bisschen das “Ereignis-Tagebuch”, das ich mir eigentlich zu schreiben vorgenommen hatte. Kommt also mit und schaut Euch an, was Euer Matze am gestrigen Dienstag so alles gesehen hat.
Auf dem Foto oben seht Ihr schon einmal meine Wohnung im Stadtviertel Shinjuku. Sie besteht zur Hälfte aus einem Balkon, was natürlich großartig ist, weil es jetzt im Oktober tagsüber immer noch über 20 Grad warm ist. Ansonsten wohnt man in Tokio nicht ganz so eng wie in Hongkong, aber mehr als ein Zimmer (plus ein Quadratmeter Nasszelle) für zwei Personen wäre schon sehr ungewöhnlich. Urbane Japaner haben auch nicht viele Möbel, ein Auto sowieso nicht, darf man ja gar nicht ohne Parkplatz-Nachweis.
Als ich mich von meinem wackeligen Schlafsofa erhebe, steht die Sonne schon hoch am Himmel. Das liegt weniger an der Uhrzeit, es ist halb acht, als vielmehr daran, dass Japan am extremen Rand seiner Zeitzone liegt.
Kaum aufgestanden, fängt der erste Unfug schon an: Ich teste vier verschiedene schwarze Dosenkaffees, eiskalt aus dem Kühlschrank. Es gibt fantastische Grüntees hier in Japan, ich weiß, und eine Umweltsauerei ist das auch mit diesen Blechdosen (wenigstens werden sie gesammelt und recycelt), aber ich wollte Euch ja einen echten Tag zeigen, und dieser hier beginnt nun einmal mit kaltem Kaffee. Kirin Fire hat mir glaube ich am besten geschmeckt.
Dafür ist mein Frühstücksessen ganz und gar japanisch: Onigiris, in ein Nori-Algenblatt gehüllte Reisdreiecke mit Füllung. In diesem Fall hatte ich mir zwei etwas abenteuerlichere Exemplare besorgt. Links seht Ihr eine Füllung aus frittiertem Gemüse (sehr schmackhaft) und rechts ein haariges Monster mit Bambus-Sojasaucen-Füllung. Die Hülle mag aus zerrupftem und geplättetem Kohl bestehen, aber genau weiß ich das auch nicht – eine reine Texturgeschichte jedenfalls.
Den Rest des Vormittags erspare ich Euch bildmäßig, denn da habe ich am Rechner gesessen und einen Termin vorbereitet, den ich hier am Freitag noch haben werde. Ich habe wieder furchtbar viele Tabs im Internet offen und unzählige Excel-Sheets. Irgendwie habe ich die schlechte Angewohnheit, erst einmal alles zu suchen und auf einen großen Haufen zu werfen, bevor ich es dann sortiere und endlich auch speichere.
Zum Mittagessen habe ich mir ein Lunchpaket besorgt (Sushi Standard für 5 €) und bin damit in den Park gegangen, der gleich gegenüber meiner Wohnung liegt. Der Shinjuku-gyoen, so heißt er, ist einer der Gründe, weshalb ich wieder zurück nach Tokio und zurück nach Shinjuku wollte. Mittlerweile habe ich mir eine Jahreskarte besorgt, die bis zum 14. Oktober 2016 gültig ist. Wenn es nach der Karte ginge, sollte ich wohl besser auch so lange hier bleiben.
Die Verpackungen schön wieder in die verschiedenen Mülleimer getrennt, folgt jetzt der richtig angenehme Teil des Tages. 23 Grad und Sonnenschein, da laufe ich einfach ein bisschen im Park herum und fotografiere. Eine Libelle auf einer Rosenknospe zum Beispiel.
Ohnehin ist die große Attraktion im Park zu dieser Jahreszeit die Rosenschau, und dass Japaner gern fotografieren und kleine Dinge betrachten, dürfte allgemein bekannt sein. Am 1. November folgt dann die fantastische Chrysanthemen-Ausstellung, aber da muss ich ja bereits abreisen. Oder eben nicht, wenn es nach der Jahreskarte ginge.
Was den Park so schön macht, sind die vielen verschiedenen Atmosphären, die er kreiert. Gerade noch im japanischen Teehaus, dann bei den Rosen von Versailles, bin ich jetzt unter den Platanen von Aix-en-Provence. Und die Besucher malen, picknicken, spazieren umher – und fotografieren natürlich.
Im Moment ist die Jahreszeit, in der die Ginkgo-Früchte von den Bäumen fallen. Sie duften ziemlich stark nach einer Mischung aus vergammelter Aprikose, gereiftem Herve-Käse und des Hundes Ablage. Aber die Nüsse, die im Fruchtfleisch stecken, sollen nicht nur gesund sein, sie schmecken auch wirklich gut, schön bitter und sehr individuell. Ich hatte in Bangkok ab und zu eine Packung mit gerösteten Ginkgo-Nüssen gekauft. Hier in Tokio habe ich so etwas noch nicht gesehen, bislang aber auch nicht wirklich darauf geachtet.
Jetzt geht es mit der Metro weiter, und zwar nach Ikebukuro. Diesen Stadtteil im Nordwesten Tokios besucht kaum ein Tourist, aber es handelt sich um eine echte Stadt in der Stadt. Der Bahnhof ist mit 2,7 Millionen Pendlern täglich einer der am stärksten frequentierten der Welt, und als ich aus der U-Bahn komme, kann ich zwischen 43 verschiedenen Ausgängen wählen. Ich bin aber aus einem ganz bestimmten Grund hier, weshalb ich schnurstracks in die Foodabteilung des Kaufhauses Tobu gehe (oben ein Symbolbild vom letzten Mal, ich fotografiere selten in Depachikas). Wie Ihr vielleicht wisst, esse ich gern Chips und sonstige knusprige Snacks. In Azabu-juban gibt es eine Snack-Manufaktur namens “Mamegen”, deren produit phare salzige, frittierte Reismehlstangen sind. Das hört sich nicht unmittelbar nach einer köstlichen Spezialität an, aber es ist eine. Und da sie im Laden immer von Hand hergestellt werden und entsprechend selten sind, gibt es sie außerhalb nur jeweils an einem bestimmten Wochentag in einem bestimmten Kaufhaus. Dienstags ist es das Tobu in Ikebukuro, und ich kaufe mir eine Packung davon.
Von Ikebukuro aus nehme ich die Yamamote-Line nach Nishi-Nippori. Die Yamamote-Line ist eine Ringbahn, die ganz um das Zentrum Tokios führt. Man sollte beim Einsteigen also immer darauf achten, ob man auch in der richtigen Richtung unterwegs ist.
Wenige Meter von der Bahnstation Nishi-Nippori entfernt beginnt die “Yanaka Ginza”, eine Einkaufs- und Bummelstraße, wie man sie im Tokioter Großstadtdschungel gar nicht so erwarten würde. Kleine Lädchen, inhabergeführt, man kauft Kleinigkeiten zum Essen, ein bisschen Kunsthandwerk, aber es gibt auch “normale” Läden für die Bewohner der Nachbarschaft. Ohnehin hat Tokio, wenn man mal ein bisschen herumschaut, noch etliche dieser sehr kleinstädtisch anmutenden Viertelszentren zu bieten. Asagaya, Shimo-kitazawa, Kagurazaka oder eben Yanaka, man muss nur ein bisschen aus dem Trubel hinausfahren, dann wird man die netten Ecken schon finden.
Oben an der Treppe, die zur Yanaka Ginza hinabführt, steht ein alter Mann und wartet. Er wartet darauf, dass die Sonne hinter dem Haus hervorkommt, und er von hier oben in aller Ruhe den Sonnenuntergang beobachten kann. Denn die Sonne geht schon wieder unter, jetzt um halb fünf. Ich bin aber aus einem ganz anderen Grund hier, denn ich möchte zum Wein- und Sakeladen Nodaya, der hier in Yanaka eigentlich genau im richtigen Viertel liegt. Es gibt dort Trouvaillen ungewöhnlicher Weine, vor allem aus Frankreich (Loire, Jura, Midi), aber auch Orange Wines und Artverwandtes vom Karst. Obwohl es mir immer in den Fingern juckt, kaufe ich keine europäischen Produkte hier, sondern suche interessante japanische Weine. Da hat es in den letzten Jahren einen riesigen Satz nach vorn gegeben, ich werde Euch noch gesondert davon berichten. Weil der Wein von Takahiko Soga wieder mal ausverkauft ist, nehme ich einen anderen Roten, diesmal aus den Bergen. Gekeltert wurde er aus der Waldrebe Yamabudo, ungefähr das Wildeste, was man sich unter Wein vorstellen kann. Ich bin schon sehr gespannt darauf.
Zum Abschluss der Runde geht es noch ins alte Einkaufsviertel Nihombashi, ins ebenso altehrwürdige Kaufhaus Takashimaya. Ich hatte ja schon einmal davon berichtet, dass Takashimaya Mitinhaber vom Maison Leroy im Burgund ist, und die Weine von Leroy (der Domaine), ansonsten ja so schwer zu bekommen, möchte ich mir anschauen. Ich schleiche also um die Grands Crus herum, der 2012er Jahrgang ist noch nicht angekommen. Im Takashimaya Times Square in Shinjuku waren die ersten drei Roten dagegen bereits da. Kaufen muss ich natürlich etwas ganz anderes, nämlich Frühstücksware für morgen. Ich entscheide mich, inspiriert vom Ginkgo-Baum, für ein Reisgericht mit Pilzen und eben Ginkgo-Nüssen. Kann man bestimmt auch kalt essen.
Als ich in die Metrostation gehe, sind die Ansagen nur noch auf Japanisch. Das ist ein schlechtes Zeichen, die Pusher-Zeit hat begonnen. “Pusher”, das sind die freundlichen Helfer am Bahnsteig mit ihren weißen Handschuhen, die dafür Sorge tragen, dass auch alle Fahrgäste in den Wagen passen. Das Ganze muss schnell gehen, denn eine Minute später kommt schon die nächste Bahn. Kleinere Menschen, womöglich noch mit Brille und langem Ohrschmuck, sollten sich besser überlegen, ob sie die Rush-Hour nicht doch lieber in einem Café abwarten. Ich hingegen fürchte eher um mein Gebäckstück, das ich noch kurz vorher im Takashimaya erstanden hatte und das jetzt akut in der Gefahr ist, zu einem schmackhaften Obstbrei zu werden. Zum Glück gibt es über den Sitzen in der U-Bahn eine Ablagefläche für Aktentaschen, und genau dahin rette ich mein Küchle.
Nachdem ich glücklich wieder in Shinjuku gelandet bin, allerlei Dinge sortiert und ein paar Mails beantwortet habe, soll es zum Abschluss des Tages noch einmal gemütlich werden. Auf dem Plan steht “Takoyaki essen in einer Kneipe”. Takoyaki sind mit Tintenfisch gefüllte Reisteigknödel, die in einer offenen Form gebacken und mit Thunfischflakes bestreut werden. Dazu gibt es Mayonnaise nach Wahl, und natürlich trinkt man Bier dazu. Das ist so eine Art “Currywurst aus Osaka”, eines der beliebtesten Gerichte für heimwehgeplagte Kansai-Migranten in Tokio. Da die Japaner ausgesprochen gern auswärts essen (zumal ein so duftintensives Gericht wie Takoyaki), ist es nie weit bis zur nächsten Lokalität. Wenn Ihr übrigens ernsthaft daran interessiert seid, ein bestimmtes Restaurant mit einer bestimmten Küche in Tokio zu finden, vertraut nicht auf Tripadvisor, sondern schaut hier rein: Tabelog. Viel Spaß für die nächsten Stunden.
Der nächste Ort bei mir in der Nähe, an dem es Takoyaki geben sollte, ist ein Restaurant namens “Koteya”. Kaum dass ich die Tür zu dem Laden geöffnet habe, kommt schon der Wirt herbeigestürzt: “Sorry! Sorry! No English, no pictures!” Wie bitte? Das hier ist kein Restaurant, sondern eine Spelunke! Der Typ ist kräftig, hat eine Bandana um den Kopf gebunden und trägt Bermudashorts. Und er hat mich offenbar unmissverständlich wissen lassen, dass er keine englischsprachigen Gäste mag, erst recht keine, die auch noch fotografieren.
Aber wie das so ist mit dem kulturellen Kuddelmuddel, stellt sich die Situation in Wirklichkeit völlig anders dar. Der ausgesprochen herzliche Wirt wollte sich nur dafür entschuldigen, dass er keine englischsprachige Speisekarte hat, die Gerichte auch nicht übersetzen kann, und seine Karte zudem keine Fotos aufweist, auf die der gemeine Tourist dann einfach deuten könnte. Ansonsten bin ich aber herzlich willkommen. Auf diesen Schreck erst einmal ein Bier. Selbstverständlich ist es gar kein Problem, hier Takoyakis zu bekommen, alles frisch gebrutzelt und schmackhaft. Der Laden selbst ist eine zwar winzige, aber urgemütliche, holzvertäfelte Sportkneipe, in die die Leute gern nach der Arbeit kommen, ein Bierchen trinken und ein paar Happen dazu essen. Wenn die Rechnung später etwas höher ausfällt als gedacht, dann liegt das garantiert nicht am Essen, sondern am Bier. Wie an vielen Orten der Welt (außer in Franken), kostet ein großes Bier schon mal 8 €, während man ein japanisches Tellergericht fast für die Hälfte bekommt. Bier ist halt Luxus.
Ganz zum Abschluss des Tages hole ich in der Wohnung dann noch das Gebäckstück vom Takashimaya aus dem Kühlschrank. Es stammt von Christophe Adam, der nach 15 Jahren Fauchon im Jahr 2012 seinen ersten eigenen Laden eröffnet hat, “L’Eclair de Génie”. Mittlerweile hat er sechs Stück davon in Paris und drei Counter in Japan. Das Konzept ist einfach, es gibt Eclairs in allen Formen, Farben und Zutaten. Dieses hier heißt “Le Framboisier” und besteht – welch Überraschung – aus Himbeeren, dazu Pistazien, Pistaziencreme, Minzblätter und Himbeercrunchies. Sehr fein. Auf den Hersteller bin ich übrigens gekommen, weil er die Titelseite des (alle Vorstellungen sprengenden) “Christmas Cake”-Sonderprospekts von Takashimaya ziert. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte für einen anderen Tag. Meiner ist jetzt nämlich zu Ende, und mit der gebotenen Vorsicht begebe ich mich auf mein Wackelbett. Bevor ich einschlafe, denke ich noch, dass man wahrscheinlich ein ganzes Leben lang durch Tokio streifen könnte, und immer wieder würde man etwas Neues entdecken. Zum Glück bin ich ja wenigstens noch ein paar Tage hier…
Vielen Dank für die wunderbaren Einblicke in das Leben…
“Leben” ist vielleicht ein bisschen hoch gegriffen 😉 Obwohl ich mich natürlich an ein Leben als jet-settender Ab-und-zu-Berichterstatter gewöhnen könnte 🙂
Sehr spannend dieses Japan – und auch ein bisschen fremd. schöne Idee mit dem Tagebuch, ich lese weiter mit!
Las ich sehr gerne, danke und bitte fortsetzen!
Mhhhhhhhh lecker 😊
Ich kann mich noch gut erinnern: Nach einem ganz normalen Tag in Tokio steht man gefühlt kurz vor der Pleite. Irgendwie ist alles super teuer, nicht nur das Bier. Ist das tatsächlich so oder muss man (wie so oft) nur wissen, wo es die Dinge zu vernünftigen Preisen gibt?
Kommt auf Anspruch und Lebensstil an, würde ich sagen. Gerade haben wir uns beim Essen in einer Izakaya darüber unterhalten: Es gibt hier zum Beispiel die 100 Yen-Shops, die (auch dank Yakuza-Mithilfe, wie man munkelt) wirklich sehr sehr billig sind. Dann die ganzen kleinen Ramen-Bars und Restaurants, die wirklich schmackhafte und frisch zubereitete Sachen für etwa 4-10 € anbieten. Dann gibt es aber auch von wirklich allen Dingen die große Meisterschaft bis hin zum totalen Luxus. Eine Teeschüssel bekomme ich für 50 Cent oder für 500 €, ganz wie ich will. Und ich glaube, unter diesem “Teuer-Image” leidet Japan immer noch ziemlich. Und ich muss schon zugeben, die Tatsache, dass es von allem diese extratollen Spezialitäten gibt, verführt einen (= mich) natürlich schon dazu, es auch mal auszuprobieren. Ergo: Latente Pleitegefahr existiert weiterhin, aber man könnte ihr leicht entkommen, wenn man nur wollte 😉