Hölderlin hat sie besungen in den höchsten Tönen, die schöne Garonne. Als ich jedoch an ihren Gestaden stehe und herabblicke auf die muddig-braune Brühe, die langsam in Richtung Atlantik schwappt, steigen Zweifel in mir auf. So etwas kann er doch unmöglich gemeint haben. War der Dichter bereits umnachtet? Oder hat er sich gegenüber den Daheimgebliebenen einen Scherz erlaubt? Wie kommt es überhaupt dazu, dass das Wasser so schlammig ist?
Nun, das Geheimnis des schlammigen Wassers liegt am Zusammenspiel der Wasserkräfte der Flüsse und des Meeres. Garonne und Dordogne, zwei Flüsse, deren Wasser schwerpunktmäßig aus Mitelgebirgslandschaften stammt, fließen hinter Bordeaux zusammen und bilden den Trichter der Gironde. Dort, wo die Gironde den Atlantik erreicht, herrscht starker Tidenhub, wobei Trichter und Buchten (wie beim Mont St-Michel oder der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms) die Wirkung der Gezeiten noch verstärken. Permanent also fließt das Wasser entweder vom Fluss zum Meer oder vom Meer zum Fluss, wodurch ständig Sedimente, also Schlamm, Sand und manchmal auch kleine Steine, hin- und hergespült werden. Ihre schlickigen Ablagerungen machen das Wasser trüb.
Gleichzeitig bedeutet das Vorhandensein von Fluss- und Meerwasser, dass die Gironde (ebenso wie kleinere Flüsse, die in den Atlantik münden) einen gewissen Salzgehalt besitzt, was man wiederum als Brackwasser bezeichnet. Einige Tier- und Pflanzenarten haben sich auf diese semi-salzigen und gleichzeitig sehr nährstoffreichen Bedingungen eingestellt. Die Brackwasserzone gilt dabei als artenarm, aber individuenreich. Mit anderen Worten: Es fühlen sich nicht viele Arten hier wohl, aber wer es tut, der tut es richtig. Da wir hier aber nicht bei Heinz Sielmann, sondern auf einem Genussblog sind, geht es in der Folge primär darum, was die Franzosen kulinarisch aus dieser Erkenntnis gemacht haben.
Zunächst einmal gibt es einige Wanderfische, die meist im Frühjahr aus dem Meer in die Flüsse schwimmen, um dort abzulaichen. Früher waren diese Fische fast überall in den größeren europäischen Flüssen heimisch, aber durch Überfischung, Umweltverschmutzung und Zerstörung der Laichplätze stehen sie mittlerweile alle unter Schutz. In der Gironde kommen diese Fische noch wild vor, teilweise gibt es auch Zucht- und Besatzprogramme, aber ihr Fang ist dennoch staatlicherseits limitiert und auf eine bestimmte Saison beschränkt. Ein bisschen zu spät dran war ich beispielsweise, um die Alse (auch Maifisch genannt, auf Französisch alose) anzutreffen. Dieser grätenreiche Fisch wird an den Ufern von Garonne und Dordogne gelegentlich gegrillt, ansonsten aber eingedost angeboten – da sind die Gräten dann weicher…
Ebenso habe ich die Neunaugen-Saison verpasst. Das Neunauge (auf Französisch lamproie) ist ein lebendes Fossil von leicht unsympathischem Verhalten – es heftet sich nämlich an größere Fische, um Blut zu saugen. In Lissabon hatte ich schon einmal Neunauge gegessen und hier darüber berichtet. In der Gegend von Bordeaux wird insbesondere in den kleinen Flusshäfen wie Macau oder Saint-André-de-Cubzac der Fang und das Verspeisen von Neunaugen als uralte Tradition hoch in Ehren gehalten. Wer wie ich zur Unzeit in der Region ist, hat immer noch die Möglichkeit, eingedoste Neunaugen zu verspeisen. Die traditionelle Variante à la bordelaise besteht außer den Neunaugenabschnitten aus Sauce und Porree. Das passt nicht nur gut, sondern es wirkt auch optisch eindrucksvoll, denn Porree ist ebenso in Schichten aufgebaut wie das Neunauge – Ihr könnt es auf dem Foto vielleicht ahnen. Mittlerweile gibt es mit Carole und Jean Barbier aus Izon auch einen “Luxuseindoser”, der Neunauge nicht nur mit Billigwein, sondern mit Saint-Emilion oder Sauternes kombiniert. Ansonsten isst man in Bordeaux diese und andere regionaltypische Spezialitäten sehr gut im “La Tupina“.
Zu solchen regionalen Spezialitäten zählt auch der Stör. Dabei muss es nicht immer Kaviar sein (den es hier natürlich gibt). Stör als Flussfisch wird nämlich auch frisch angeboten oder zu verschiedenen Brotaufstrichen verarbeitet. Auf dem oberen Bild seht hier deshalb eine Reihe von typischen Pasteten und Aufstrichen, die ich in der Epicerie in der Rue de la Halle in Fouras gekauft habe. Gut, Meersalz mit Algen ist darunter, dann aber auf dem zweiten Stapel von oben nach unten: Austernpastete mit Pineau des Charentes (eine Art Likör aus Cognac und süßem Traubenmost); Stör-Rillettes mit Kaviar (Rillettes bedeutet Fleisch, das in eigenem Saft und Fett lange gekocht und damit konserviert wurde); Pastete aus geräucherten Austern. Auf dem rechten Stapel oben sehr Ihr Angelika-Konfiture, die Spezialität aus Niort. Es handelt sich dabei um mit Zuckersirup eingekochte und pürierte Stängel der Engelwurz. Ein erdiger, kräuteriger und süßer Geschmack, der sich mit nichts vergleichen lässt. Und schließlich noch Nutria-Pastete, verfeinert mit Cognac.
Moment mal, Nutria? Ist das nicht Bisamratte? Und die soll man essen? Ja und nein. Essen kann man sie sehr gut, der Geschmack geht ein bisschen in Richtung Wildgeflügel, und – so habe ich gehört – in manchen Gegenden Südamerikas gelten sie deshalb sogar als Delikatessen. Andererseits soll auch in DDR-Gefängnissen das Gericht “Nutria und Pellkartoffeln” gereicht worden sein, was eher darauf hindeutet, dass es sich um eine Armenspeise handelt. Nutrias (Myocastor coypus) sind aber keine Bisamratten (Ondatra zibethicus), obwohl es sich bei beiden um aus Nordamerika eingebürgerte Neozoen handelt, die im von unzähligen Kanälen durchzogenen Hinterland der Atlantikküste einen perfekten Lebensraum gefunden haben. Dabei scheint es ihnen so gut zu gehen, dass der Verkaufsstand von Nutria-Produkten im Örtchen Brouage auf einem Schild darauf hinwies, dass man mit dem Kauf der Pasteten etwas für die heimische Fauna tun würde. Angeblich würde nämlich ein einziges Nutria-Pärchen im Laufe von zwei Jahren bis zu 90 Kinder, Enkel und Urenkel hervorbringen können – eine gewisse Analogie zur Kaninchenplage in Australien.
Aal kann man in der Fischhalle von Fouras auch kaufen – und zwar lebend. Allerdings fragt die Verkäuferin einen schon, ob sie den Aal “zubereiten” solle, und da nickt man dann am besten.
Wenn Ihr an der schlickreichen Atlantikküste seid, werden Euch vielleicht die Hütten auf Stelzen auffallen, die Ihr auf dem Bild sehen könnt. Dabei handelt es sich um pêcheries, im landläufigen Jargon als carrelets bezeichnet. “Carrelet” heißt eigentlich “Scholle”, der Plattfisch also, und wie die Plattfische, die gern am Boden des Gewässers herumgründeln, lässt man bei den Carrelets die Netze ganz flach auf den Boden sinken. Wenn man sie wieder hochzieht, haben sich dort in aller Regel keine Fische verfangen, sondern kleine Krebse und Garnelen, die auf dem Schlickboden zu Hause sind.
Schaut mal ganz genau hin, was da auf meiner Schlickhand krabbelt. Genau, einer der winzigen Krebse. Auf die haben es natürlich in erster Linie die Möwen abgesehen, aber eben auch die Schlickfischer.
Die Garnelensorte, die man hier im Grenzgebiet zwischen Fluss und Ozean findet, heißt auf Märkten crevette blanche (Palaemon longirostris), weil sie auch beim Kochen nicht rosa wird. Diese Garnelen verbringen ihren gesamten Lebenszyklus im Umfeld der Flussmündungen und werden meist kurz frittiert und nicht geschält – das wäre auch eine sehr mühsame Arbeit bei derart kleinen Würmchen.
Da die französischen Autoritäten ja wissen, dass ihre Leute wie wild darauf sind, ihr Essen eigenhändig aus dem Meer zu angeln oder zu sammeln, gibt es diese Hinweistafeln, die die Mindestgröße für bestimmte Spezies festlegt. Während man eine Meerspinne ehrlich gesagt eher selten an den Küsten mit der Hand fängt, ist der Hinweis schon wertvoll, dass Miesmuscheln mindestens vier Zentimeter lang zu sein haben, um nach Hause getragen zu werden. Die genauen Mengenangaben könnt Ihr übrigens hier finden, wobei da jede Region ihre eigenen Bestimmungen hat. In der Charente-Maritime gelten fünf Kilogramm pro Kopf und Tag als Obergrenze, andere besitzen Höchstgrenzen bei bestimmten Arten.
Nachdem Ihr jetzt einiges von Neunaugen, Nutrias und lebenden Aalen gehört habt, also für Vegetarier eher weniger geeignete Themen, komme ich jetzt noch zu den Meerespflanzen. Algen gibt es in vielen Meeren, und die allermeisten davon sind auch irgendwie genießbar. In dem angespülten Haufen auf dem Foto sind mindestens zwei Sorten, die man blanchiert und eine, die man sogar roh genießen kann. Auch wenn es gar nicht so schrecklich kompliziert ist, würde ich Euch dennoch empfehlen, nicht gleich mit einer Gabel zu kommen und alles hineinzumampfen. Es gibt mittlerweile ein paar Bücher (zum Beispiel dieses oder dieses), in denen die wichtigsten Algensorten vorgestellt werden mitsamt den entsprechenden Rezepten.
Ziemlich gut auf einem dunkleren Brot macht sich auch Butter mit Algen. Kann man selbst machen, kann man aber auch kaufen. Großes Vorbild ist immer noch die Butter von Bordier, aber es gibt von “Pâturage”, der Eigenmarke von Intermarché, mittlerweile auch ein ganz anständiges me too-Produkt.
Sehr angesagt als gedämpfter Begleiter von Seefisch ist derzeit das obige Seegemüse: salicorne, auf Deutsch “Queller”. Salicorne wird zwar angebaut, aber man kann ihn auch überall wild finden. Sieht ein bisschen aus wie Mini-Spargel, bleibt auch gedämpft oder kurz blanchiert knackig und schmeckt nach Jod, Zitrone, Salat und Erfrischung. Gut auch in Rührei.
Während der Queller direkt auf dem Sandboden wächst und bei Flut auch überspült werden kann, findet Ihr die criste marine, auf Deutsch “Meerfenchel”, eher ein wenig zurückversetzt im Felsbereich. Sie besitzt ein kräftiges ätherisches Öl, das man schon wahrnehmen kann, wenn man an einem der abgepflückten Blätter riecht: ungeheuer zitronig. Deshalb verwendet man den Meerfenchel auch nur in geringeren Mengen als knackiges Gewürz statt eines Spritzers Zitrone. Da sowohl Salicorne als auch Criste marine ausgesprochene Saisonpflanzen sind und eigentlich Anfang bis Mitte Juni ihre Hochzeit haben, legt man sie auch in Essig ein, um sie als Condiment das ganze Jahr über verfügbar zu haben.
Mit einem der Sonnenuntergänge, die man an nach Westen ausgerichteten Meeresküsten ja so unvergleichlich prachtvoll zu sehen bekommt, möchte ich mich vorerst von der französischen Atlantikküste verabschieden. Halt, ein Artikel wird noch kommen, und zwar jener zu “alternativen” Weinen aus dem Bordelais. Ja, auch die gibt es, aber ich muss sie erst einmal selbst probieren.
Übrigens ist es nicht so, dass Austern und andere Meeresfrüchte an der Küste ausschließlich für Touristen bereitgehalten werden. Auch die einheimische Dame rechts auf dem Bild ist durchaus von den Errungenschaften der lokalen Küche überzeugt.
mal wieder ein sehr schöner und kurzweiliger Bericht……Danke…..!!!!
Ein wundervoller Bericht, super. 🙂
Hallo Matthias,
NutriaPASTE? Ich bin enttäuscht. Schwer! Nutriakeule sous vide aus dem Campingkocher wäre das Mindeste gewesen, was ich von Dir erwartet hätte. Den Cognac kippst Du dann hinterher 😉
LG
Thomas
Vor einer Weile war ich mal bei einem Sportaustausch dabei. Es gab die Tschechoslowakei damals noch, muss also tatsächlich ein bisschen länger her sein. Gastgeber war mein Freund Franta, der Kugelstoßer, respektive seine Eltern. Im Garten hat mir Franta dann stolz gezeigt, womit sich sein Vater ein paar Kronen dazuverdiente, nämlich mit der Zucht von Nutrias. Die Viecher kamen mir ganz schön mächtig vor damals, sehr robust, lange Zähne. Gegessen haben wir die dann auch; meine Sportkollegin Silvia verzichtete darauf und hat dafür Äpfel bekommen. Nachdem ich diese Geschichte über die Jahrzehnte fast vergessen hatte, war mir fast nostalgisch zumute bei dem Verkaufsstand mit Nutriaprodukten in Brouage.
Auf dem Campingkocher (oder eher in der normalen Pfanne) habe ich mal in Istanbul einen Steinbutt gebraten. Das war ziemlich kompliziert, denn der Butt hatte durchaus größere Ausmaße als die Pfanne 😉 https://chezmatze.wordpress.com/2011/02/26/kalkan-yeah/