In der letzten Ausgabe der Revue du Vin de France sprach Chefredakteur Denis Saverot in seinem Vorwort etwas an, das offenbar viele Franzosen kennen: Wenn die Schwiegermutter zu Besuch kommt, würde sie vorher immer die vergewissernde Frage stellen: “Denis, Du hast doch bestimmt einen anständigen Bordeaux im Keller?” Was sie damit meint: Sie würde ohnehin keinen anderen Wein anrühren, denn in ihrer Welt zählt nur der rote Bordeaux als “anständiger Wein”. Den Gegenentwurf für diese durchaus konservative Haltung liefern die neuen Bistrots von Paris. Im Paul Bert 6 beispielweise, einem der angesagtesten Läden, gibt es auf der umfangreichen und ausgesuchten Weinkarte keinen einzigen Bordeaux: “zu langweilig, zu gleichförmig, die Musik spielt woanders”.
Auch die Weinkritiker der RVF hatten in letzter Zeit häufiger angemahnt, dass man sich im Bordelais nur um sich selbst drehen würde. Da gibt es die vielleicht 20 bis 30 Châteaux von globalem Ruf, die zunehmend für den globalen und spekulativen Markt produzieren würden (nicht mehr für die klassischen Weinliebhaber) und dahinter eine Armee von copy cats: Châteaux, die anderswo auf der Welt weniger bekannt sind und die auf Punkte in Primeurverkostungen setzen, um wahrgenommen zu werden. Diese Punkte, so die RVF-Experten, scheine man am leichtesten zu bekommen, indem man sich im Bereich des uniformen Weltgeschmacks bewege, und der favorisiere derzeit die reifen, weichen, fruchtigen, früh zugänglichen Gewächse ohne Ecken und Kanten. Als Folge davon könnten die Kritiker bei Blindtests des neuen Jahrgangs häufig gar nicht mehr sagen, welche Ecke des Bordelais, geschweige denn welches Château sie da vor sich hätten.
Nun muss ich zugeben, dass mein persönlicher Parcours in den letzten Jahren auch immer weiter vom roten Bordeaux weggeführt hatte. Dabei waren das vor etlichen Jahren die ersten Weine, die ich mir in den Keller gelegt hatte – und irgendwie denke ich, dass fast jeder Weinliebhaber in seiner Anfangszeit eine solche “Bordeauxphase” hat. Im Laufe der Zeit fand ich die Produkte aus beispielsweise dem Roussillon oder von der Loire wesentlich spannender, weil dort noch echte Winzer auf echten kleinen Höfen mit Liebe und in Handarbeit Weine produzieren, die ihre Individualität in den Vordergrund stellen.
Dieser Blindtest (denn um den handelt es sich) sollte mich also wieder ein bisschen zurück zu meinen eigenen Rotweinwurzeln führen und mir gleichzeitig helfen, die Zuschreibungen sowohl meiner bevorzugten Literatur als auch meine eigenen Vorurteile wieder einmal zu überprüfen.
Das Organisatorische war dann hier in Bordeaux natürlich ganz unproblematisch: Ich ging einfach in einen Laden und kaufte mir vier Rotweine aus den vier “Ecken” des Bordelais: einen Médoc, einen Graves, einen Saint-Emilion und einen Pomerol. Alle stammten aus demselben Jahrgang, nämlich 2011, und kosteten auch ungefähr gleich viel (zwischen 19,95 € und 25,90 € pro Flasche). Die Weine wurden über acht Stunden gelüftet, bevor ich sie mir dann blind einschenken ließ und sagen sollte, in welche der vier Ecken in den jeweiligen Wein stecken würde. Zwecks Überprüfens des Weincharakters an sich und der möglichen geschmacklichen Gleichmacherei.
Kandidat Nr. 1: Château Fombrauge, St-Emilion Grand Cru, 14,5 vol%
Vielleicht der Prototyp des „neuen“ Bordeaux, wenn man die Entwicklung der 1990er Jahre noch als neu bezeichnen möchte. Unter der Regie des ganz leicht personenkultig auftretenden Bernard Magrez wurde in dem größten St-Emilion-Gut viel modernisiert und optimiert, um einen sehr reifen und sehr starken Gaumenschmeichler zu erhalten. 85 ha Anbaufläche, 77% Merlot, 14% Cabernet Franc, 9% Cabernet Sauvignon.
Kandidat Nr 2: Clos René, Pomerol, 13,5 vol%
Der einzige Pomerol, der zuverlässig in der grande distribution zu finden ist. Auch an seinem Etikett kann man erkennen, dass hier noch ein weniger moderner, weniger kraftstrotzender Einfluss vorherrscht. Wird – so liest man – in seiner Jugend (also wenn es um die Punkte und die Verkaufspreise geht) gern mal unterschätzt. 12 ha Anbaufläche, 70% Merlot, 20% Cabernet Franc, 10% Malbec.
Kandidat Nr. 3: Château Sociando-Mallet, Haut-Médoc, 13 vol%
Der klassische Fall eines zur Unzeit unberücksichtigten Médoc-Guts, das bei der Klassifizierung von 1855 einfach nicht dabei war. Mittlerweile gilt der seit Jahrzehnten von Jean Gautreau produzierte Wein trotz seines relativ hohen Merlot-Anteils als einer der traditionellsten des Médoc, kräftig, kompromisslos, langlebig. 85 ha Anbaufläche, 55% Cabernet Sauvignon, 40% Merlot, 5% Cabernet Franc.
Kandidat Nr. 4: Château La Louvière, Pessac-Léognan, 13,5 vol%
Gehört André Lurton und somit wie bei Château Fombrauge einem Mann, der im Bordelais durchaus begütert ist. Angebaut werden auf dem dort typischen kieselsteinigen Untergrund – angespült und gerundet vom Wasser der Garonne – sowohl rote als auch weiße Reben. Einer der kleinen Klassiker der Region. 61 ha Anbaufläche insgesamt, der Rote aus 64% Cabernet Sauvignon, 30% Merlot, 3% Cabernet Franc, 3% Petit Verdot.
Das dürften alles in allem Unterschiede sein, die groß genug sind, um auch herausgeschmeckt zu werden. Und jetzt folgt die Probe aufs Exempel:
Was mir sofort auffällt: Alle Weine sind sehr dunkel, was ich zunächst nur farblich gesehen im Glas meine. Die Weine Nr. 1 und Nr. 3 (von denen ich natürlich nicht weiß, wer wirklich dahintersteckt) erscheinen mir gar blickdicht, Nr. 2 ist minimal heller, Nr. 4 im Vergleich noch am hellsten, aber auch alles andere als ein Trollinger. In der Nase setzen sich diese dunklen Noten fort, wiederum am stärksten beim Wein Nr. 1, aber die anderen folgen nicht weit dahinter. Alle vier Weine pendeln zwischen reifer Brombeere, mal auch ein bisschen Cassis, besitzen spürbares, aber nicht übertriebenes Holz und zeigen sich noch ein wenig verschlossen. Die Nr. 1 besitzt die stärksten Graphitnoten, die Nr. 4 die offenste Nase, aber es wird deutlich, dass man hier einen ganz bestimmten Typ Wein anstrebt.
Am Gaumen werden die Unterschiede ein bisschen deutlicher. Wein Nr. 1 wirkt samtig, reif, weich und gleichzeitig würzig, alkoholwarm, ein wenig Fleisch, ein wenig Teer – das ist für mich ein Merlottyp, ganz klar rechtes Ufer. Ich tippe auf den St-Emilion und liege richtig. Wein Nr. 2 besitzt mehr Säure, und obwohl die Traubenaromatik dieselbe ist, kommt er mir einfach ein bisschen weniger reif, ein bisschen weniger wuchtig vor. Ich entscheide mich wegen der höheren Säure und der geringeren Reifeanmutung für den Médoc und liege leicht daneben. Wein Nr. 3 besitzt noch stärkere Cabernet-Noten, mehr Cassis, insgesamt ein herberer Anklang, aber dafür weniger Säure. Auch hier ist das Gesamtbild sehr dunkel, keinerlei grüne Paprikanoten, wie man sie im (veralteten?) Lehrbuch gern dem Cabernet Sauvignon zuschreibt. Obwohl mich die geringere Säure ein wenig irritiert, tendiere ich jetzt – nachdem es der Wein davor ja nicht war – in Richtung Médoc. Und so ist es. Wein Nr. 4, der sowohl von der Farbe als auch von der Nase her vergleichsweise am leichtesten wirkte, kann deshalb nur der Graves sein. Minzig und reif ist er zwar auch, aber ich spüre den vermeintlich geringsten Alkoholeinfluss.
Mit anderen Worten: Ich bin stereotyp davon ausgegangen, dass die merlotbasierten Weine vom rechten Ufer mehr Alkohol und mehr Üppigkeit besitzen, also etwas „parkerisierter“ sind, wenn man das so sagen darf. Ebenso war mein stereotypes Vorurteil, dass Weine aus dem Médoc herber und kräftiger, jene aus den Graves zugänglicher und leichter sind. Diese Zuschreibungen scheinen nach wie vor zu stimmen, auch wenn mir klar ist, dass mein Vierer-Test weit entfernt ist von jeglicher Repräsentativität.
Was mich aber mehr überrascht hat als die Unterschiede der Weintypen, das war ihr Hinstreben auf ein gemeinsames Ideal. Bei allen vier Weinen, die ja erst seit gut zwei Jahren abgefüllt sind und noch eine lange Flaschenreife vor sich haben können, erschienen mir die Tannine extrem poliert. Nachdem ich sie ein paar Stündchen vorher geöffnet hatte, zeigte sich keiner der Weine so verschlossen, dass man ihn nicht schon jetzt gut hätte trinken können. Daneben waren alle grüne Noten absent, es ging stattdessen eindeutig in die dunkle, pflaumig-würzige Richtung, also das, was man früher vielleicht einem Pomerol zugeschrieben hätte. Und 2011 war wahrhaftig kein großer Jahrgang im Bordelais.
Das alles scheint mir die Konzession an den Welt-Bordeaux-Geschmack zu sein, der in dieser Region mit einer topmodernen technischen Ausstattung (die alle getesteten Weingüter besitzen) und einer Haltung weit entfernt von weinromantischen Idealen offenbar hinzubekommen ist. Wirkliche individuelle Unterschiede gibt es hier nicht zu entdecken, aber das ist auch nicht das Ziel des Bordelais. Abweichungen von der (derzeit geltenden) Norm scheinen nicht erwünscht, gefährden sie doch die einheitliche Positionierung auf dem Weltmarkt.
Bei aller Kritik an diesem Ansatz möchte ich eins jedoch nicht verschweigen: Die Weine haben mir alle geschmeckt; auch der St-Emilion hatte seinen beträchtlichen Alkohol wirklich gut eingebunden. Ich hatte dabei die Gelegenheit, die vier Weine über mehrere Tage verteilt zu verschiedenen Speisen zu kombinieren, und natürlich bleibt rotes Fleisch dabei die beste Begleitung. Wer also einen halbwegs edel wirkenden Wein kredenzen möchte, der liegt mit einem klassischen roten Bordeaux unter 30 € weiterhin nicht falsch. „Klassik“ nach dieser Definition ist dementsprechend die Perfektionierung des Mainstreams – und das erkenne ich sehr wohl als Leistung an, auch wenn mein persönliches Credo immer die Vielfalt individueller Ansätze bleiben wird.
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