Dass es Stuttgart 21 überhaupt noch gibt, war mir ehrlich gesagt komplett entfallen. Und wahrscheinlich nicht nur mir, denn in den Medien werden längst andere Säue durchs Dorf getrieben, während in Stuttgart der Alltag weitergeht. “Alltag” bedeutet offenbar eine zerpflügte Großbaustelle namens Schlosspark, tägliche Demos in der Fußgängerzone und eine Trotzkind-artige Vernachlässigung des Altbahnhofs. Wie Ihr Euch denken könnt, bin ich allerdings nicht wegen der hübschen Innenstadt nach Stuttgart gefahren, sondern weil es dort in der Weinhandlung Kreis eine der regelmäßigen Weinproben gab, die ich bislang noch nie besucht hatte. Diesmal musste es aber wirklich sein, denn auf dem Programm standen Weine von der Loire, meiner erklärten Lieblingsregion.
Irgendwie habe ich mittlerweile das Gefühl, dass keine einzige der hochkarätigen Weinhandlungen der Republik wirklich zentral gelegen ist. Egal ob K&U, Visentin oder Kölner Weinkeller (to name but a few), immer haben es die Inhaber vorgezogen, eine Lagerhalle mit Parkplatz im Industriegebiet anzumieten anstatt eines netten Häuschens in der Innenstadt. Die Weinhandlung Kreis bildet da nur bedingt eine Ausnahme, denn obgleich in einem veritablen Wohnviertel gelegen und nett eingerichtet, kann man als Laufkunde den eher mager beschilderten Eingang im Hinterhof schon mal verfehlen. Aber – und das ist die andere Seite der Medaille – mit einem derartigen Portfolio hätten solche Weinhandlungen in der Fußgängerzone wahrscheinlich auch gar nichts verloren. Wer hier hinkommt, macht das ganz bewusst, und verkauft wird vermutlich ohnehin meist über das Internet.
Jetzt also Loire. 31 Weine habe ich probiert, verteilt auf vier weinliche Hauptgruppen, nämlich Schaumwein (3), Weißwein (10), Rotwein (14) und Süßwein (4) – denn schließlich hat die Loire in jeder Kategorie etwas zu bieten.
Weil man gelegentlich gern alles wissen möchte, habe ich mich dazu entschlossen, diesmal auch alle Weine kurz zu beschreiben. Alle 31. (Alles lesen müsst Ihr aber nicht, wir können auch trotzdem Freunde bleiben.) Die Preise in Klammern sind – wer hätte es gedacht – die Ladenpreise bei Bernd Kreis. Den üblichen Disclaimer schicke ich gleich mal vorweg: Es handelt sich um meine subjektiven Empfindungen dieser Weine an diesem Tag. Nur für den Fall, dass noch jemand unter Euch glauben sollte, es gäbe so etwas wie Messbarkeit, Objektivität oder gar Wahrheit in Geschmacksdingen…
- Domaines Landron, „Atmosphères“ (12,80 €)
Interessanterweise leicht rötlich in der Farbe und auch mit einem gewissen Tanningefühl ausgestattet. Ich vermute Grolleau in der Mischung, aber in Wirklichkeit ist es Pinot Noir. Ein guter Speisenbegleiter jedenfalls, sehr vielseitig. - Domaine Breton, Vouvray méthode traditionelle „Dilettante“ (17,20 €)
Wesentlich blasser, süßlich-blütig in der Nase und damit eine völlig andere Ausrichtung. Am Gaumen bleibt der Schäumer sehr lecker und leicht, wenig fordernd. Ich könnte mich über seine mangelnde Ernsthaftigkeit beschweren, ich könnte ihn aber auch einfach im Sommer auf der Terrasse ohne Reue wegsüppeln. - Domaine Pithon-Paillé, Crémant de Loire „Brut de Chenin“ (17,80 €)
Ein paar Worte zum Hersteller, denn der taucht hier noch öfter auf: Nach dem finanziellen Reinfall mit der eigenen Domaine und dem leicht unfreiwilligen Verkauf an einen willigen Industriellen hat Jo Pithon zusammen mit Joseph Paillé hier ein neues Projekt gestartet. Teilweise handelt es sich um Négociant-Weine, teilweise um solche von eigenen Parzellen. Qualität besitzen sie aber immer, was man vom früheren Süßwein-König aber auch erwarten kann. Trotzdem fällt es mir nicht leicht, durchs komplette Portfolio eine ganz bestimmte Handschrift zu spüren. Im Vergleich mit dem gerade probierten “Dilettante” ist dies hier jedenfalls ein völlig anderer Wein: Recht dunkel in der Farbe, Holz und Spontinoten in der Nase und auch am Gaumen so ernsthaft, wie der Vorgänger leichtfüßig war. Kräftig, reif, dennoch mit deutlicher Säure, eine Art reifer Lagerchampagner, nichts fürs schnelle Gläschen zwischendurch.
- Domaine Henry Pellé, Sancerre „La Croix au Garde“ 2014 (16,50 €)
Innerhalb der ersten Zehntelsekunde ereilen mich zwei Erkenntnisse gleichzeitig, nämlich weshalb viele Menschen derzeit Sauvignon Blanc mögen, ich jedoch nicht: Also, viele Menschen mögen die Rebsorte, weil sie hier überhaupt etwas riechen können, und weil sich deshalb mit dem Ausruf “Ah, Sauvignon!” auch ohne großen Weinverstand bei einer Blindprobe auf dicke Hose machen lässt. Ein Ego-Polsterer also, dieser Sauvignon. Mir hingegen ist die Rebsorte durchweg zu aufdringlich parfümiert, und das gilt auch für diesen letztendlich sehr säurefrischen, aber trotzdem aromatisch vorpreschenden Wein. - Domaine Henry Pellé, Menetou-Salon „Clos des Blanchais“ 2013 (19,00 €)
Ebenfalls ein Sauvignon, aber weniger aufdringlich in der Nase, fruchtiger, dazu ein bisschen weißes Weingummi. Am Gaumen ist der Wein sehr trocken und säuerlich, um nicht zu sagen richtig herb. Ich erinnere mich daran, einem solchen Weißen solo schon einmal wenig abgewonnen zu haben, bevor er dann als Begleiter von Ziegenfrischkäse (auch von der Loire) seine wahre Bestimmung gezeigt hat. - Domaine Didier Dagueneau, Pouilly-Fumé „Pur Sang“ 2012 (65,00 €)
Sehr gespannt war ich natürlich auf die vermutlich teuersten Sauvignons der Welt, jene von Louis-Benjamin Dagueneau, der offenbar stilistisch und qualitativ recht problemlos in die großen Fußstapfen seines Vaters gestiegen ist. In der Nase gleich ein kleiner Stinker, verbunden mit der Sauvignon-typischen Stachelbeere und einem weichen Holzeindruck. Am Gaumen ist der Wein dann sehr glatt, ausgestattet mit einer gewissen Säure, insgesamt aber recht karg. Man ahnt zwar die typische Aromatik, aber alles erscheint flächig und tiefergelegt, zurückhaltend vorn, dafür relativ lang hinten. - Domaine Didier Dagueneau, Pouilly-Fumé „Silex“ 2012 (90,00 €)
Eigentlich hätte der “Silex” jetzt noch eine Steigerung bieten sollen, aber ich habe das Gefühl, dass beide Weine derzeit in ihre Verschlussphase hinabgestiegen sind. Beide Weine sind ohne jeden Zweifel als Brüder im Geiste zu erkennen, derselbe Stinker, dieselbe Stachelbeere, dasselbe weiche Holz. Der “Silex” besitzt auf der Zunge dann vielleicht noch weniger Sauvignon-Aroma als der “Pur Sang”. Beides sind aber keine Weine, die ich derzeit aufmachen würde. Meine leichte Enttäuschung bezieht sich dann auch weniger auf die Qualität des Weins als vielmehr darauf, dass sie sich in der Mitte zwischen Genussphase I und Genussphase II befinden, mithin in der faden Delle. - Domaine des Roches Neuves, Saumur „L’Insolite“ 2013 (24,60 €)
Der erste Chenin und gleich ein riesiger Unterschied. Allerdings kommt bei diesem Wein in dieser Phase auch irgendwie alles gleichzeitig – oder zumindest in kurzer Abfolge während der ersten beiden Sekunden: Birne und Quitte in der Nase, soweit also noch alles in Ordnung. Am Gaumen wirkt der Wein dann aber zuerst weich und weitmaschig, dann folgt ein kurzer Moment überraschender Dünnheit, bevor der Säureknall so richtig loszieht. Insgesamt spannend, schon ein bisschen kontrovers und definitiv ein Lagerwein. Die starke Säure des Jahrgangs wird aber in jedem Fall bleiben. - Domaine Saint-Nicolas, Fiefs Vendéens „Le Clous“ 2013 (12,40 €)
Huch, das ist doch wohl kein Gärfehler? Sauerkraut in der Nase, weitere Gäraromen und frische Champignons. Am Gaumen erscheint der Wein sehr trocken und säurebetont, hinten folgt eine saure rote Johannisbeere. Um ehrlich zu sein, habe ich den Kleinen von Thierry Michon auch schon einmal in besserer Form erlebt. - Domaine François Chidaine, Montlouis sec „Clos du Breuil“ 2013 (18,10 €)
Aprikose und leichtes Lösungsmittel in der Nase, wirkt süßer und reifer als der “Insolite”. Am Gaumen dann Holz, das aber gut passt, etwas mehr Körper und dieselbe starke Säure wie gerade beim “Insolite”. Ein Lagerwein, und zwar ein mehr als beachtlicher. Ich war ja schon bei Chidaine auf dem Weingut, und ich habe auch eine ganze Reihe an Weinen von ihm getrunken. Zwar hakt es bei den Etiketten noch ein bisschen mit dem corporate design, aber die Produkte waren alle gut, keine einzige Enttäuschung darunter. In jedem Fall ein punktemäßig besserer Wein (wenn ich mal kurz ins Mechanistische abdriften darf) als alle Sauvignons davor – wobei die 2013er Säure schon nichts für schwache Nerven ist. - Domaine Pithon-Paillé, Anjou „Mozaïk“ 2012 (15,50 €)
Für mich persönlich wieder ein kleiner Schritt zurück: An der Nase irgendwie leicht schwefelfrei traubig-basisch, am Gaumen dann ziemlich neutral, gute Säure, feine Frucht, ein anständiger Wein, aber nicht so kernig und tief wie sein Vorgänger. - Domaine Pithon-Paillé, Savennières „Clos Pirou“ 2012 (22,30 €)
Ein deutlicher Spontistinker in der Nase, der die Frucht überdeckt. Im Mund ist dies hier ein überraschend karges Produkt, ich vermute wieder eine gewisse Verschlussphase und damit quasi eine Lagerpflicht für den hoffnungsvollen Käufer. Trotzdem hätte ich hier nie auf einen Savennières getippt, eher auf einen Saumur, zu wenig gelb und schwer wirkt der Wein. - Domaine Pithon-Paillé, Anjou „Clos des Treilles“ 2012 (41,80 €)
Der letzte trockene Weiße, und das ist eine wahre Wuchtbrumme: Birne in der Nase, üppig, Alkohol auf Stein, ein Süßwein in Trocken. Am Gaumen ist der Wein sehr würzig, der erste bislang mit diesem Anklang, deutlich gehaltvoller und vollmundiger als die anderen davor. Was völlig klar ist: Hier handelt es sich um einen edlen Wein, ein sehr hochwertiges Produkt. Allerdings muss man schon ein wenig Wuchtigkeit mögen, selbst wenn die Materie gut eingebunden wirkt.
- Domaine Saint-Nicolas, Fiefs Vendéens Brem „Reflets“ 2014 (14,00 €)
Farblich eher blau als rot, vom Geruch her macération carbonique oder semi-carbonique, jedenfalls frisch abgefüllt (ich sehe erst nachher, dass es tatsächlich ein roter 2014er ist). Auch wenn ich erst glaube, dass ausgerechnet sowas nicht wirklich meine Sache ist, denke ich gleich in der nächsten Sekunde um – das nennt man argumentatives Rückgrat. Der Wein ist einerseits leicht, andererseits recht bitter und jung-gerbig, geht aber auf diese Art jetzt schon, und zwar als leicht gekühlter Sommerroter. Allerdings hatte ich gerade neulich einen gereiften “Reflets” im Glas, und der gefiel mir doch noch ein bisschen besser… - Domaine Saint-Nicolas, Fiefs Vendéens Brem „Jacques“ 2008 (18,70 €)
Eine deutlich gereifte Farbe und Nase, eine Mischung aus Busch und Pinot. Das sind auch die entscheidenden Elemente am Gaumen, dazu eine markante Säure. Die Reife der Frucht wirkt allerdings schon ziemlich gezehrt, was möglicherweise an den in dieser Gegend nicht sehr günstigen Wachstumsbedingungen des Jahrgangs liegt. Nicht gerade vollmundig, der Wein, irgendwie fehlt der Bauch. - Domaine des Roches Neuves, Saumur-Champigny 2013 (14,20 €)
Thierry Germain ist ein Edelwinzer, und dies ist der “einfache” Hauswein, wie so oft der Fingerabdruck des Winzers, nicht biometrisch allerdings, sondern biodynamisch. Die Nase verspricht eine Kräuterbuschigkeit, die den Gegnern der Loire-Roten so auf die Nerven geht. Am Gaumen haben wir es dafür mit einem enorm angenehmen Produkt zu tun: ein leichter Fluss, elegant-fein, eine gute Frucht, sehr trinkig insgesamt. Dass hier die imposante Mitte fehlt, ist nicht nur geschenkt, sondern liegt an der Art des Weins – der gehört sich so. - Domaine des Roches Neuves, Saumur-Champigny „Marginale“ 2012 (34,90 €)
Eher zurückhaltende Nase, mehr in Richtung Sauerkirsche als in Richtung Kräuter. Im Mund fühle ich mich unwillkürlich an etwas erinnert, das ich eigentlich gar nicht mehr kennen dürfte. Vielleicht ist es auch eher ein Gefühl als ein Geschmack. Jedenfalls denke ich spontan bei dem recht straffen und fordernden Angang an einen jungen Bordeaux aus der Zeit vor Parker und Rolland. Aber an einen guten, weil ausreichend reifen Bordeaux ohne grüne Noten: zwar durchaus sauerfruchtig, aber gleichzeitig elegant und ausgewogen. - Domaine des Roches Neuves, Saumur-Champigny „Franc de Pied“ 2013 (37,00 €)
Sehr jung im Glas, blaurot. Die Nase hält dann den deutlichsten Kräuterton bereit, wobei “Kräuter” ja irgendwie zu unpräzise ist. Was ich an diesen Cabernet Francs von der Loire rieche, das ist eine Mischung aus tatsächlich getrockneten Küchenkräutern, aber nicht etwa den Garrigue-Kräutern, sondern den bei uns heimischen, dazu ein Anflug von Buschrinde – Holunder, Wacholder, Buchs, und zwar immer der ganze Busch – nebst unterholzigen Fruchtnoten von schwarzer Johannisbeere über Schlehe bis zu helleren Tönen. Ein Touch Unreifegefühl ist häufig auch dabei, aber das äußert sich nicht in Parika- oder Grasnoten, sondern wie gesagt in diesen Verästelungen. Diese für mich typischen Loire-Cabernet-Anklänge finde ich in dem Wein wieder, der ja von wurzelechten Reben stammt und später bestimmt einmal ein eleganter Klassiker wird. Am Gaumen spüre ich die herben Kräuter wieder, andererseits aber auch Himbeere und eine dichte Mitte – 100% Loire, würde ich sagen. - Domaine Breton, Bourgueil „Nuits d’Ivresse“ 2012 (17,90 €)
Wow, das ist mal ein trüber Wein, die trunkenen Nächte; ein Glück, dass man sich hier nicht um AP-Nummern scheren muss. Die Nase gefällt mir sehr gut, weil sie zunächst einen kleinen Stinker zeigt, insgesamt aber sehr fruchtig-natürlich wirkt und weniger kräutergeprägt. Im Mund gibt es hier viel dichten Saft, der bereits trüb schmeckt und irgendwie sehr entspannt und wenig getrimmt. Ich sehe erst im Nachhinein, dass dies ein (Bio-)Wein ohne SO2-Zugabe ist. Gefällt mir ausnehmend gut, wenn man wahrscheinlich auch mit der Lagerung ein bisschen vorsichtig sein sollte. - Domaine Breton, Bourgueil „Clos Sénéchal“ 2011 (23,90 €)
Ebenfalls ein naturtrübes Produkt und ebenfalls mit leicht natürlich-gärigem Anklang in der Nase, dazu viel Frucht. Am Gaumen gibt es einen guten Fluss, gepaart mit Würze und Tannin. Spontan fühle ich mich an den “Varonniers” erinnert, die Crozes-Hermitage-Einzellage von Chapoutier, auch ein Wein übrigens, den ich sehr empfehlen kann. Nachdem ich den noch folgenden “Perrières” probiert habe, werde ich sagen, dass der “Clos Sénéchal” von allen seinen Daseinsäußerungen her exakt zwischen dem “Perrières” und dem “Nuits d’Ivresse” liegt. - Domaine Breton, Bourgueil „Perrières“ 2010 (30,50 €)
Leicht trüb in der Farbe, vor allem aber dunkler als seine Vorgänger. Kräuter und Beeren in der Nase, dazu eine Bordeaux-artige Minze/Eukalyptus-Mischung. Am Gaumen kommt der Wein zunächst glatt und weich daher, bevor Tannin und Säure das Ganze zu einer harmonischen Einheit formen. Eine elegante Frucht, ein hochwertiger Eindruck – dies ist der Wein der Bretons, der sicher den meisten Konventionell-Trinkern schmecken dürfte. Mir ist er vielleicht ein wenig zu zahm, aber das ist zugegebenermaßen Jammern auf hohem Niveau. - Domaine du Bel Air, Bourgueil „Les Vingt Lieux-Dits“ 2012 (11,00 €)
Gut, jetzt wird erst einmal zwei Gänge zurückgeschaltet: Gärstinker und Kräuter in der Nase, das lässt man sich noch eingehen im loirischen Paradies. Im Mund gibt es dann vor allem eine gewisse Säure, eine schwarzrote Johannisbeere, viel Busch und insgesamt schon einen herben Eindruck. - Domaine du Bel Air, Bourgueil „Les Marsaules“ 2010 (17,40 €)
An die Nase haben wir uns jetzt schon gewöhnt, und in der Tat werde ich später sagen können, dass dies der purste Wein der Domaine ist. Stilistisch ähnelt er dem “einfachen” Roches Neuves, bleibt aber nach meinem subjektiven Empfinden qualitativ dahinter zurück. - Domaine du Bel Air, Bourgueil „Grand Mont“ 2010 (27,60 €)
Wer Probleme mit allzu individuellen Rotweinen hat, sollte vielleicht diesen hier einmal probieren. Irgendwie habe ich das Gefühl, hier ein in vielerlei Hinsicht kompatibles, wenngleich keineswegs schlechtes Produkt der Kategorie “allgemeiner Rotwein” vor mir zu haben. Säure, Frucht und Tannin, alles da, alles fein, nur halt mit einem geringen Wiedererkennungswert. - Domaine du Bel Air, Bourgueil „Clos Nouveau“ 2009 (35,00 €)
Uff, damit hätte ich jetzt wirklich nicht gerechnet: die reinste Kokosbombe in der Nase, modern, viel neues Holz. Am Gaumen merke ich, dass wir hier (noch) zwei Welten nebeneinander stehen haben, einerseits das weiterhin weich-übertriebene Holz, andererseits einen recht strikten Körper, der auch noch Jahre der Reife vor sich hat. Ob sich diese beiden Komponenten jemals einbinden werden, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Mein Stil ist das jedenfalls nicht, soviel steht fest. - Domaine Philippe Alliet, Chinon „Vieilles Vignes“ 2012 (17,80 €)
Den Stinker in der Nase kennen wir schon, die recht strenge Säureanmutung führt dafür nach dem Kokostopf wieder zurück in die Weinwelt. Fast im Gegensatz zur Nase haben wir hier am Gaumen einen deutlich reiferen und gehaltvolleren Roten vor uns. Ich muss an eine rote Spätlese denken, die fast noch moussierend wirkt, dennoch mit Säure. Ein insgesamt dunklerer Stil, mehr Brombeere, dazu eine mineralische Note, die mir vorkommt wie Schiefer und Feuerstein, wenngleich das natürlich nicht die Formationen sind, die den Chinon-Untergrund ausmachen. - Domaine Philippe Alliet, Chinon „Coteau de Noiré“ 2012 (27,50 €)
Zum roten Abschluss wieder mal ein Bewertungs-Spalter: krass viel Streichholz in der Nase, dazu Kuhstall. Nichts für empfindliche und auf Harmonie bedachte Weinfreunde bis hierhin. Im Mund ist der Wein nicht so stark reif wie sein kleiner Bruder, eher tief und lang. Leicht minziges Holz vernehme ich, daneben viel Gehalt und Säurefrucht. Wenn man mal von den gewöhnungsbedürftigen Einstiegsnoten abstrahiert, haben wir hier ganz zweifellos einen hochwertigen und zudem individuellen Wein vor uns. Ohnehin haben mich die Roten in ihrer stilistischen Bandbreite überzeugt, und ich vermute ganz stark, dass diese Bandbreite in erster Linie der Handschrift des jeweiligen Winzers zuzuschreiben ist.
- Domaine François Chidaine, Montlouis demi-sec „Clos Habert“ 2011 (18,60 €)
Hell in der Farbe und in der Nase mit einem Apfel-Sponti-Stinker. Am Gaumen ist der Wein gleichzeitig bitterfruchtig und von einer leichten Süße. Wer mal einen wirklich komplexen Weißen vor sich haben möchte, der aber nur vielschichtig und nicht anstrengend wirkt, bitteschön, dies ist er. Ich bräuchte eine noch viel längere Zeit, um alle Nuancen riechen und schmecken zu können. “Sternanis” schreibe ich ein bisschen im Wolkigen rudernd in mein Notizheft. Ein taktil glatter Wein (schrieb ich da gerade “taktil”?), sehr gut in jedem Fall, etwas für wirklich Weininteressierte. - Domaine Pithon-Paillé, Coteaux du Layon „Les 4 Vents“ 2011 (22,00 €)
Goldgelb. Plombenziehereindruck in der Nase, viel Säure, viel Süße und Botrytis, wirkt nicht gerade wie ein Leichtgewicht. Im Mund schmecke ich nicht nur Quitte und Honig, sondern es gibt auch eine gewisse Adstringenz, die anzeigt, dass der Wein von seinen einzelnen Bestandteilen her noch nicht auf seinem Höhepunkt ist. Nicht so süß übrigens wie Farbe und Nase andeuteten, dafür ein Wein für viele kommende Jahre. - Domaine François Chidaine, Vouvray moelleux 2010 (23,60 €)
So, jetzt zu etwas wirklich Exzellentem. Frühlingshonig in der Nase, Angélique, weißer Pfirsich, mannomann, hier geht ja viel mehr in der Nase als bei den trockenen Weinen. Leicht bitter am Gaumen mit einem guten, halbtrockenen Fluss, dazu Botrytis, eine schöne Säure und auch dank der vielschichtigen Frucht ein gleichzeitig hochspannender und leckerer Wein. Sowas trinkt man viel zu selten. Viel zu selten! - Domaine François Chidaine, Montlouis moelleux „Les Lys“ 2009 (55,00 €)
Adstringierende Nase, Schwefelholz. Im Mund dominieren tropische Noten, gelbe Früchte, leicht Mango, Ananas. Interessanterweise wirkt der Wein beim Schwenken viel viskoser, als er dann tatsächlich geschmacklich ist. Ich weiß, dass mir in dieser Hinsicht nicht alle zustimmen werden (obwohl sie’s vielleicht täten, wenn sie’s nur wüssten…), aber gegen so ein gleichzeitig saftig-reifes, süß-vollmundiges und dank der Säurefrische auch ausgewogenes Edelfäuleprodukt lasse ich jeden Sauternes stehen. Wer nicht bis zu seinem Siebzigsten mit den Süßweinen warten möchte, sollte vielleicht mal über seinen Schatten springen und neben der Goldkapsel-Auslese von der Mosel auch einmal einen großen süßen Loirewein erstehen.
Nun habe ich ja schon an anderer Stelle ausgiebig über die Weine der Loire geschrieben. Falls sich niemand mehr erinnern sollte, hier ist der erste Teil, und einige weitere folgten. Die heutige Weinprobe hat mich ehrlich gesagt in meiner subjektiven Einschätzung bestätigt, dass man – bis auf die schweren Rotweine – als Weinliebhaber an der Loire eigentlich alles finden kann, was das Herz begehrt. Das liegt zum einen an den hier heimischen Rebsorten, namentlich den beiden Größen Cabernet Franc und Chenin. Das liegt aber auch daran, dass sich überall am Fluss verteilt Winzer niedergelassen haben, die ihren ganz individuellen Stil pflegen, der aber trotzdem in die Traditionen der Region eingebettet ist. Bei den Weißen hat mir Chidaine diesmal am besten gefallen, bei den Roten kann ich mich zwischen den prototypischen Weinen von Germain, dem natürlichen Fluss von Breton und dem reifen Urwuchs von Alliet nicht für einen einzigen Favoriten entscheiden. Selbstverständlich sei jedem zugestanden, die Weine von der Loire nicht zu mögen. Aber wer sich derartig äußert, der verpasst erstens etwas. Und zweitens wage ich zu behaupten, dass er die richtig guten Sachen noch nicht probiert hat.
Coda: Weil der Mensch ja nicht vom Wein allein lebt, sind wir nach der Weinprobe noch ein paar Schritte weiter zum Essen gegangen. Im Goldenen Adler kann man – so man denn will – zwar international-gehoben essen und einen Barolo dazu trinken. Man kann aber auch im Ländle bleiben, aus der wirklich ausgezeichneten württembergischen Weinkarte wählen und sich an Maultaschen oder Kalbsbries laben. Und das habe ich dann auch getan. In jedem Fall ein optimaler Ausklang eines ziemlich kurzen Ausflugs nach Stuttgart. Beim nächsten Mal muss ich mir zumindest die Markthalle anschauen, das habe ich bereits beschlossen.
Stuttgart, meine “Wahlheimat” ist und bleibt die Kraft am Neckar! 🙂
Die WG Bad Cannstatt (https://www.badcannstatt-weine.de/) hat wirklich auch herausragende Tropfen und ich kann sie Dir nur ans Herz legen. Vielleicht zusammen mit einem “Gebackenen Kalbskopf auf “Älbler ” Linsensalätle”. Nicht ganz so bekannt aber etwas besonderes! 🙂
Na, das hört sich ja interessant an. So sehr ich Fränkische Bratwürste, Karpfen, Schäuferle und Kellerplatte auch schätze, hier in Nürnberg (und Umgebung) würde ich mich sehr schwer tun, eine wirklich interessante und gleichzeitig traditionelle Karte zu finden. Vielleicht neigt man im Südwesten doch eher zum Genießertum als hierzulande…
Hallo Matze!
Ich war 2010 bei Pithon Paille auf der Domaine und hatte wirklich eine tolle und aufschlussreiche Führung mit anschließender Verkostung. Joseph der Stiefsohn von Jo und seine südafrikanische Freundin Wendy haben damals die Domaine geschmissen und Jo war aus irgendwelchen Gründen nur beratend tätig (so hab ich es zumindest verstanden). Ich habe alles probiert was es damals gab und das Portfolio war ziemlich heterogen. Ich hatte das Gefühl, dass sich da alles noch irgendwie finden muss, obwohl kein Wein schlecht war. Den Clos de Treilles und einen Chinon VV fand ich damals am besten. Ich hab damals von allem etwas gekauft, was die Beiden im Programm hatten und geh ab und zu an ein Fläschchen ran. Alles war Jahrgang 2008. Die Weißen sind schon zugänglich, die roten brauchen noch ein oder zwei Jahre.
Grüße Jens
Sehr interessant! Soweit ich weiß, hatte sich Jo mit seinen wahnsinnig aufwändigen Süßweinen finanziell ein bisschen übernommen und hat dann einen Investor ins Gut gelassen und letztlich verkaufen müssen (der Investor hat gleichzeitig noch das Château de Chamboureau in Savennières gekauft – von dem habe ich noch einen Altwein im Keller). Beide Domainen zusammen firmieren heute unter dem Namen “Domaine FL” – mittlerweile von Stéphane Derenoncourt önologisch beraten, keine Schande natürlich, aber nicht “die” Loire, wie ich sie vor Augen habe 😉
Ja….ganz genau. Domaine FL. Braucht man nicht wirklich. 2010 hatte die Pithon’s gerade in St. Lambert du Lattrey ein Lager eröffnet und planten dort auch in Zukunft Kunden zu empfangen. Ich war noch draußen a la Campagne wo die Weine gemacht wurden. Joseph und Wendy bewohnten dort ein altes Schloss und in dem Schlosskeller lagerten die Weine in Barriques. Es gab keine Heizung im Schloss und die Beiden bewohnten nur drei Räume. Sehr primitiv aber auch irgendwie Beeindruckend. Hab’ schöne Erinnerungen an die Tour damals. War eine Woche an der Loire mit Unterkunft in Chinon. Die Loire und auch die Weine zählen zu für mich auch zum Schönsten, was Frankreich zu bieten hat…..neben der Champagne natürlich……;-)
Grüße Jens
Hallo Matze!
Auch meine Frau und ich mögen Weine von der Loire sehr, seitdem wir uns einige Male in der Region jede Menge Weine probiert hatten. Was uns dort auffiel war, dass viele Winzer erzählten, dass sie zwar ins Ausland exportieren, aber kaum oder gar nicht nach Deutschland. Und tatsächlich ist das Angebot hier beschränkt, wenn man es mit Wein aus anderen Anbaugebieten in Frankreich vergleicht. Da haben wir den Schritt gewagt, uns nebenberuflich als Weinhändler zu versuchen, wobei wir uns ausschließlich auf die Loire beschränken. Wir haben zwei längere Einkaufstouren gemacht, ein Transportunternehmen beauftragt, und jetzt haben wir einen Keller voller Wein. Die Webseite ist seit einigen Tagen online. Ich weiß nicht, ob ich die Adresse hier aufschreiben darf (ich nenne sie mal, wenn du das nicht möchtest, kannst du sie ja entfernen: http://www.weinvonderloire.de). Für einen Loire-Liebhaber gibt es auf jeden Fall einiges zu entdecken, jede Menge Muscadets, aber auch authentische Winzer im Anjou, die man hier erstaunlicherweise kaum findet (Vincent Ogereau, Claude Papin von Pierre-Bise, Christophe Daviau von Bablut) und die sich freuen, dass sie jetzt auch in Deutschland vertreten sind, daneben Touraine und natürlich Sancerre und co. Jetzt hoffen wir, dass unsere Initiative auch ankommt… so viel wie wir gekauft haben, können wir gar nicht alleine trinken. Wir würden die Auswahl gerne weiter ausbauen, sowohl in der Breite, also weitere Appellationen, als in der Tiefe – noch mehr aus den bekannteren AOC, wie die weißen Sancerres 2014 von Stéphane Riffault, die jetzt abgefüllt werden, die Pouillys von Serge Dagueneau & Filles und noch einiges aus Chinon, Bourgueil und Saumur-Champigny. Chidaine hatte wegen zwei schlechter Ernten hintereinander keinen Wein zu verkaufen, aber die 2014er kommen im Laufe des Jahres, da sind wir auch dabei.
Grüße
Rob
Also, normalerweise (ein Terminus, der irgendwie dem juristischen “grundsätzlich” zu entsprechen scheint) schicke ich Kommentare von Weinhändlern ja immer gleich in den Spam-Ordner. Mit Ausnahmen allerdings 😉 . Wenn ich mich recht erinnere, habe ich mir vor etlichen Jahren Respekt unter meinen belgischen Kollegen dadurch verschafft, dass ich bekannt gab, der Savennières sei einer meiner bevorzugten Weine. Zwei Tage vorher hatte ich zum ersten Mal einen getrunken, und zwar – wenn ich mich nicht täusche – einen von Claude Papin. Viel Glück und Erfolg also beim Promovieren der Loire-Weine in Deutschland. Dass diese Weine, obwohl qualitativ herausragend und noch dazu mit einem sehr guten Preis-Genuss-Verhältnis ausgestattet, hierzulande den wenigsten Nicht-Freaks etwas sagen, ist zwar bedauerlich, Euch aber sicher bekannt. Vielleicht sollte der Loire-Tourismus-Verband allen deutschen Weininteressierten mal eine Fahrt in die Region spendieren, convincing by trying sozusagen 😉
Danke für die ermunternden Worte! Es ist uns klar, dass wir mit unserem Angebot Mövenpick oder Jacques’ Weindepot nicht in die Pleite treiben werden, aber wir hoffen doch, nicht nur die Freaks zu erreichen, sondern auch ein paar neue Weinliebhaber zu überzeugen. Und es macht Spaß, fast 200 verschiedene Loire-Weine im Keller liegen zu haben… Claude Papin hat seinen Sitz zwar am linken Ufer, aber er hat tatsächlich auch Weinberge in Savennières, einen sogar in Roche-aux-Moines. Wir haben uns lange mit ihm unterhalten und er hat uns auch durch seine Domaine geführt. Gesprächsthema Nummer eins: Terroirismus. Claude meint, dass Rebsortentypizität und Terroir sich gegenseitig ausschließen, mit anderen Worten, dass Weine, die ihr Terroir ausdrücken – die einzigen, die er echt interessant findet – ihre Rebsorte nur am Rande zeigen. Er macht übrigens alle möglichen Weinstile, zwischen Rotwein und Sekt, auch Süßweine. Es fällt übrigens auf, dass immer mehr Winzer an der Loire, vor allem die jüngere Generation, anfangen, ihre Parzellen getrennt zu vinifizieren und abzufüllen. So bietet zum Beispiel Stéphane Riffault inzwischen eine Palette von fünf verschiedenen weißen Sancerres an, obwohl er nur etwa zehn Hektar bewirtschaftet.
Grüße
Rob