Tokio liegt am Meer, was man ehrlich gesagt überhaupt nicht realisiert, wenn man unter der Woche durch die Straßen und Passagen von Shinjuku und Shibuya hetzt. Am Wochenende aber zieht es die Tokioter an den Strand. Die einfachste Möglichkeit dafür bietet die (künstliche) Insel Odaiba, ein gleichzeitig biederes wie irrwitziges Ausflugsziel. Es sei denn, Ihr haltet haushohe bewegliche Roboter nicht für irrwitzig.
Bevor Ihr weiterlest, möchte ich Euch einen kleinen Kniff empfehlen, um in die originale Odaiba-Stimmung zu kommen. Schließt Eure Kopfhörer an und klickt auf einen der folgenden Links. Das ist der Soundtrack zum Inselbesuch, denn aus den vielen kleinen Lautsprechern auf Odaiba tönt genau solche Musik, zu deren Klängen die Installationen wahrscheinlich schon errichtet worden sind: Larry Heard – Futuristic Island Life; Yoshinori Sunahara – Whirlpool; Yoshinori Sunahara – Sun Song ’70s. Larry Heard war in den 90ern bestimmt hier und Yoshinori Sunahara sowieso. Der Weg auf dem linken Bild führt Euch dabei zielgerichtet von der Station der Yurikamome-Line (= Seemöwe) zum Strand. Ich habe das Gefühl, weil mir das schon öfter aufgefallen war, dass Japaner eine bestimmte Art der guidance, der “Geleitetheit”, mögen. Überall hängen Bedienungsanleitungen, auf denen genau und Schritt für Schritt erklärt wird, wie Dinge am besten funktionieren. Sehr hilfreich bei Automaten, aber auch angewandt für alles andere, vom korrekten Schminken bis zur Klobedienung.
Am Strand angekommen, setze ich mich erst einmal auf eine Bank im Schatten, denn es ist ziemlich heiß. Dabei fällt mir zuerst auf, dass am Strand irgendwelche Vorbereitungen für ein Event getroffen werden, denn überall hängen Fahnen, und bestimmte Bereiche sind abgesperrt. Triathlon, nehme ich an. Dann entdecke ich eine Gruppe von Männern, die gespannt in den Himmel starren. Was es da wohl zu sehen gibt?
Es ist ein Fliewatüüt. Mit ordentlichem Geknatter schwebt dieses Ungetüm über dem Strand, gesteuert von einem Mann mit Baseballcap und einer kleinen Fernbedienung. Als das Gerät erfolgreich wieder auf der Erde gelandet ist, brechen die umstehenden Männer spontan in einen begeisterten Applaus aus. Ingenieurskunst und Spielerei – das ist doch genau das, was wir uns unter “typisch Japan” vorstellen, oder?
Da ich nicht besonders früh losgekommen war und jetzt schon Mittagszeit ist, beschließe ich, das Einkaufszentrum “Aqua City” aufzusuchen, das sich praktisch direkt hinter der Strandpromenade befindet. Wenn man in solchen Zentren die Burger- und Pommes-Stände vermeidet, kann man manchmal für einen solchen Ort überraschende Entdeckungen machen. Der “Tesco-Lotus Food Court” in Bangkok hielt solche genauso bereit wie das schaurig-schöne “Colombo Center” in Lissabon mit seiner fettig-rustikalen “Sopa de Piedra”.
Und auch diesmal werde ich nicht enttäuscht. Oben seht Ihr ein Gericht aus der Yoshoku-Tradition, die mit Kaiser Meiji in Verbindung gebracht wird. Kaiser Meiji wollte Ende des 19. Jahrhunderts die kulturellen Errungenschaften anderer Nationen in die japanische Kultur integrieren, nachdem er selbst beispielsweise Gefallen am Burgunderwein gefunden hatte. In Wirklichkeit ging es in dieser außenpolitisch eher unfriedlichen Periode allerdings auch darum, diese fremdartigen Gerichte deshalb zu verspeisen, weil man in ihnen den Ursprung für den höheren Wuchs und die größere Körperkraft der Europäer sah. Und so ergaben sich mit der Zeit Speisen, die “westlich nachempfunden” waren und als “Yoshoku” bis heute Bestandteil der japanischen Küche sind. Wie das Gericht auf dem Foto oben heißt, weiß ich nicht. Ich weiß nur, woraus es besteht: Curryreis nach indischer Art, überbacken mit einer Art Edamer, getoppt von einem Spiegelei. Ein wenig wild, aber es gibt tatsächlich Energie für viele Stunden.
Nein, Ihr habt Euch nicht verguckt, und das oben ist auch keine Fotomontage. Es handelt sich tatsächlich um die wirkliche und wahrhaftige Freiheitsstatue. Im Jahr 1998 kam die originale Freiheitsstatue aus Paris zur Feier des “Französischen Jahres in Japan” nach Tokio, und nachdem sie am Ende des Jahres wieder zurück nach Paris musste, konstruierten die Japaner wegen der großen Beliebtheit, die die Statue inzwischen gewonnen hatte, einfach ein naturgetreues Abbild. Voilà, so einfach geht das.
Voilà, und so geht es auch. Das ist natürlich nicht die “Grande Arche” aus der Mitterand’schen Zukunftsvision La Défense, sondern eine freie Nachbildung namens “Telecom Center”. Zwischen diesen Gebäuden und den riesigen Parkplätzen führen überall Fußgängerachsen von einer Attraktion zur nächsten.
Hier dürfte sich die nächste Attraktion befinden, denn warum sollten die Besucher sonst wie gebannt nach oben schauen und mit sämtlich verfügbaren Geräten den Moment festhalten wollen? Ob da schon wieder ein kleiner Hubschrauber hereinschwebt?
Falsch geraten, es handelt sich bei der Attraktion um den “RX-78-2 Gundam”, angeblich lebensgroß und offenbar gerade in Action. Ich habe auch ein Video davon gedreht, aber nachdem der haushohe Roboter nur Dampf von sich geben und den Kopf ein wenig in den Nacken legen konnte anstatt herumzulaufen, habe ich mich dann doch für das Standbild entschieden.
Wenn man das heutige Japan auch nur in Ansätzen verstehen möchte, kommt man wahrscheinlich nicht um die Beschäftigung mit den Themen Science Fiction, Anime und Spielkonsolen herum, die in Japan quasi mitgeboren wurden und sich seit Jahrzehnten großer Beliebtheit erfreuen. Lange habe ich über solche Dinge nicht mehr nachgedacht, aber so peu à peu kommen Kindheitserinnerungen aus den späten 70ern wieder bei mir hoch. Als ich beim Ballwerfen in der Grundschule mal ein gebrauchtes Science Fiction-Buch aus der DDR gewonnen hatte statt eines Tierposters, habe ich vor Wut geheult. Später musste ich feststellen, dass das Buch sehr witzig und unterhaltsam war, und ich habe mich mit Verspätung für mein ungebührliches Betragen geschämt.
Von meiner Patentante bekam ich daraufhin ein Sachbuch für den wissensdurstigen Knaben geschenkt, in dem viel vom technischen Fortschritt und der Möglichkeit der menschlichen Besiedlung des Weltraums die Rede war. Da wurden riesige, zylinderförmige Röhren aufgezeichnet, die im Gleichgewicht der Kräfte um die Erde kreisen und in denen die Menschen bei Überbevölkerung, nach einem Atomkrieg oder zur Not auch freiwillig leben könnten. Weshalb ich Euch ausgerechnet hier mit solchen Erinnerungen malträtiere, liegt daran, dass die Gundam-Stories, also jene mit dem obigen Roboter, unter anderem in genau solchen O’Neill-Kolonien spielen. “Futuristic Island Life” auf Odaiba, ich erwähnte es ja schon.
Der einzige Ort auf Odaiba, an dem ich auch Touristen getroffen habe – genauer gesagt, eine russische Reisegruppe – ist das “Venus Fort” als Teil des Shopping- und Unterhaltungskomplexes “Palette Town”. Das “Venus Fort” sieht von außen ungemein langweilig aus, von innen allerdings ist es angeblich einer toskanischen Stadt nachempfunden mit Arkadengängen, einem Marmorbrunnen mit rosa Beleuchtung und einer Art Tiepolo-Himmel. Leider halten die Ladengeschäfte diesem architektonischen Wahnwitz nicht Stand: Es handelt sich durchweg um biederes Zeug, westliche Markenwaren zu erhöhten Preisen.
Dafür kann man wenigstens bei einem Klobesuch einen neuerlichen Touch “Futuristic Island Life” mitnehmen. Ehrlich gesagt habe ich bislang relativ selten stille Örtchen fotografiert, und Ihr könnt Euch auch zurecht fragen, was so etwas denn bitteschön auf einem Food-Blog zu suchen hat. Aber erstens geht es bei mir, wenn ich unterwegs bin, immer auch um andere Dinge als Essen und Trinken, und zweitens… schaut Euch doch bitte mal die Konsole links neben der Kloschüssel an. Ich gebe Euch als Japan-Erstbesucher einen gut gemeinten Rat: Probiert die ganzen Knöpfe am besten aus, bevor Ihr Euch hinsetzt. Ihr braucht dabei keine Angst zu haben, besonders aufzufallen, denn sobald Ihr die Kabine betretet, wird die Musik noch ein wenig lauter, damit hier niemand seinen Nachbarn bei der Konzentration stört.
Zur “Palette Town” gehört auch ein Riesenrad, das bei seinem Bau vor 14 Jahren das größte der Welt war. 115 m Höhe sind immer noch ganz beachtlich, aber der Ausblick leidet meiner persönlichen Meinung nach schon ein wenig darunter, dass das Rad auf einer künstlichen Insel und damit recht weit von der Tokioter Innenstadt entfernt liegt. Unter den 20 größten Riesenrädern der Welt befinden sich übrigens zwei U.S.-amerikanische und ein britisches (das “London Eye”) sowie 17 asiatische. Dieses Verhältnis von 17 asiatischen zu 3 amerikanischen Riesenbauten gibt es auch bei den Top 20 der höchsten Wolkenkratzer der Erde. Für die einen sind das Meisterwerke der Ingenieurskunst, für die anderen schlichtweg Sinnbilder männlichen Größenwahns.
Und so bin ich mir auch nicht ganz sicher, wie ich über meinen Besuch auf der Zukunftsinsel Odaiba urteilen soll. Falls Ihr nur für eine kurze Zeit in Tokio sein solltet, stellt Odaiba ganz sicher kein “Must” dar. Falls Ihr aber länger hier seid und einen sehr realen Blick auf das japanische Freizeitleben werfen wollt, dann fahrt am Wochenende bei schönem Wetter (aber nur dann) auf die Insel. Allerdings werdet Ihr auch hier nur einen Ausschnitt des japanischen Freizeitlebens sehen können: sehr brave Vorstadtfamilien, die mit ihren sehr kleinen Hunden spazieren gehen, dazu noch ziemlich brave junge Paare, die sich ein bisschen für Anime in jeglicher Form interessieren. Passend dazu gab die japanische Sängerin Yui Sakakibara, die vor allem als Synchronsprecherin und -sängerin derartiger Animes bekannt ist, während meines Inselbesuches um 16.30 Uhr hier ein Konzert. Unpassend dazu schien mir hingegen das Getränk zu sein, das ich aus einem Softdrink-Automaten zog: Fleischbrühe mit Zucker, vielleicht sogar mit Kohlensäure? Sollte jemand wissen, was sich in dieser Flasche befindet, bitte nicht verraten. Ich habe nämlich vor, am Ende meines Besuches einen kleinen Testfilm zu drehen, in dem ich fünf interessante Softdrinks vor laufender Kamera probieren möchte. Vielleicht gehört Mr. Meat hier ja dazu…
Zum Thema Anime – da kann es ja wohl nur eine einzige Wahl für die nähere Beschäftigung geben: http://en.wikipedia.org/wiki/Drops_of_God
Ich habe den ersten Band davon im Urlaub tatsächlich mit einem gewissen Gewinn gelesen…
Lustig, ich hatte im letzten Urlaub die ersten beiden Bände dabei und habe mir sozusagen extra für Tokio auch noch Band 3 & 4 gekauft. Allerdings habe ich gesehen, dass sie mittlerweile bei Band 21 angekommen sind… Ich fand die Story auch ganz interessant, in jedem Fall besser als jene von diesem hier, den ich vorher gekauft hatte (http://www.animenewsnetwork.com/encyclopedia/manga.php?id=8198).
Ich habe die Manga-Bände dann aber doch zu Hause gelassen, weil ich mich asiatisch fühlen wollte: mit kleinem Gepäck lang verreisen. 16,6 Kilo, Handgepäckstasche bereits inklusive. Okay, das war auf dem Hinflug… 😉