„Überall in Indonesien geht es aufwärts, nur in Jakarta geht es abwärts.“ Tief bin ich in den weißen Ledersessel eingesunken, hier im Chefbüro von UNHCR in Central Jakarta. Inwiefern es abwärts geht, möchte ich wissen, die Stadt mache doch einen enorm dynamischen Eindruck. „Ja,“ meint mein Gesprächspartner, „das ist Fluch und Segen zugleich. Nie zuvor hat es so viel Geld in Indonesien gegeben. Und niemals gab es eine Mittelschicht – ich spreche hier von Menschen mit einem Jahreseinkommen von 4.000 US$ – die sich so viel leisten konnte. Aber die Infrastruktur hält mit dieser Entwicklung nicht Schritt, der Verkehrskollaps, die unzureichenden Wohnverhältnisse bei ständiger Zuwanderung vom Land, auch die schlechte Bildungssituation. Grundsätzlich bin ich optimistisch, aber es dauert sicher noch 20 Jahre, bis sich hier in Jakarta die Verhältnisse harmonisiert haben.“ Ihr merkt schon, diesmal wird es nicht primär um Essen gehen, denn ich habe wieder einmal einen meiner berüchtigten Stadtrundgänge gemacht. Angefangen hat alles noch ganz offiziell mit diesem Termin.
Indonesien, was ist das überhaupt? Zunächst einmal ein erstaunliches Staatsgebilde. Über 17.000 Inseln gibt es, 360 verschiedene Volksgruppen, und von Sumatra im Westen bis nach Papua-Neuguinea im Osten ist es weiter als von Hamburg nach Afghanistan. Und doch hat man sich auf eine gemeinsame Sprache geeinigt, Bahasa Indonesia, das für die meisten Menschen außerhalb der Haupt(stadt)insel Java weiterhin nur als Zweitsprache fungiert. Was Indonesien ausmacht, konnte ich gerade bei meinem Mittagessen in einer dieser Brathütten erleben: Da kommen offenbar ein Inder, ein Chinese und ein Melanesier herein, aber das sind keine Expats aus der Softwarebranche, sondern sozusagen Inpats, alles Indonesier. Ein Wunder, dass dieses geographisch so zerfaserte Staatsgebilde einigermaßen konfliktfrei funktioniert.
“Da unten steht ein Polizeiauto,” reißt mich mein Gastgeber aus meinen siestahaften Träumen, “das haben uns die Indonesier für die Objektbewachung zur Verfügung gestellt. Es steht immer dort, Tag und Nacht. Das tut es vor allem deshalb, weil die Regierung kein Geld dafür hat, den Tank zu befüllen. Eine symbolische Unterstützung also, mehr nicht. Aber ich finde es sehr wichtig, dass man in Indonesien langsam bereit ist, solche Verantwortung zu übernehmen, wenn auch zunächst nur symbolisch. Die Bevölkerung ist die viertgrößte der Welt, das Bruttoinlandsprodukt wächst jedes Jahr um sechs Prozent. Da wird es Zeit, dass sich Indonesien auch auf politischer Ebene als wichtige Macht begreift.”
Allerdings haben nicht alle gleichermaßen an diesem Aufschwung Anteil. Ein Viertel der Bevölkerung lebt weiterhin unter der Armutsgrenze, während die SUVs auf Jakartas Straßen mittlerweile zum Alltagsbild gehören. Kaum ein Auto, so scheint mir, ist hier älter als zwei Jahre. Die romantischen Klapperkisten, mit denen in vielen Ländern noch herumgeschaukelt wird – in Jakarta komplette Fehlanzeige. Wer sich keinen neuen Toyota leisten kann (und im letzten Jahr sind immerhin 800.000 Neuwagen in Indonesien zugelassen worden), besorgt sich zumindest ein Moped. Davon wurden im letzten Jahr 8 Millionen Stück verkauft. An jeder Straßenecke stehen die Mopedmänner und rufen “Djek, Djek!”, was eine Mitfahrmöglichkeit auf dem Hintersitz bedeutet. Alles Kleinunternehmer, kaum jemand irgendwo registriert. Aber die staatlichen Institutionen zahlen schlecht, da muss man auf andere Weise für den Unterhalt sorgen.
Unten auf der Straße treffe ich einen alten, zahnlosen Mann, der mir eine Ampel zeigt, als ich gerade versuche, eine achtspurige Straße auf indonesische Art zu überqueren. Der Mann spricht ausgezeichnet Englisch und ist gerade auf dem Weg zu seiner Arbeit. “Meiner zweiten Arbeit”, ergänzt er, früher hätte er für das Tourismusministerium gearbeitet. Aber die staatliche Rente ist nicht gerade einträglich, und so macht er jetzt im hohen Alter noch Führungen durch die Hauptmoschee, die Istiqlal. “Public relations”, nennt er das augenzwinkernd. Ich schließe mich ihm an und sehe, dass er den verschiedenen Wärtern, Angestellten und möglicherweise selbsternannten Beschützern des Moscheefriedens kleine Geldbeträge zusteckt. Den erkauften Eintritt, was nichts anderes bedeutet, als dass er hier seinen Geschäften nachgehen darf, holt er sich nachher wieder von den Touristengruppen zurück. Sein Provisionsanteil dürfte dabei der höchste sein, aber die Wärter sprechen nun einmal kein Englisch und kommen auf diese Weise auch nicht an die Touristen heran. Immerhin besitzen sie aber eine Autoritätsposition, in der sie von anderen kleinere Gebühren einnehmen können. Wahrscheinlich mussten sie oder ihre Eltern auch dafür zahlen, dass sie überhaupt in die Wärtertruppe aufgenommen wurden.
Die Möglichkeit, selbst Genehmigungen jedwelcher Art ausstellen zu können, ist vielleicht auch der Grund, weshalb Polizei und Militär hier besonders schlecht bezahlt sind. Diese ganzen Verknüpfungen von Nepotismus und “eine Hand wäscht die andere” sind selbstverständlich Korruption, und an der Spitze, wo es um richtige Beträge geht, hört der ganze Spaß auch auf. Aber in den unteren Regionen könnte man durchaus von Servicegebühren für alle Dinge sprechen, die auf diese Weise vielleicht gar nicht so arg anders geregelt werden, als wenn es strikt einzuhaltende gesetzliche Regelungen dafür gäbe (mit offiziellen Gebühren, versteht sich). Jedenfalls ist das alles mit seiner ganzen Netzwerkerei ein erstaunlich stabiles Gebilde, alles andere als gerecht und fair, aber doch funktionstüchtig.
A propos funktionstüchtig, das sind nämlich die klimatisierten Busse der Gesellschaft “Transjakarta”. In Ermangelung eines Massentransportsystems und bei chronisch verstopften Straßen sind diese Busse mit ihren eigenen Spuren die einzige Möglichkeit, zuverlässig von einem Teil der Stadt in den anderen zu kommen. Ich hielt mich für ziemlich schlau, in der Rush Hour auf diese Weise an all den stehenden Autos vorbeizufahren. Allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich von einer Linie zur anderen wechseln musste. Alles, was ich bis dahin an Zeit gespart hatte, stand ich jetzt in einer mehr als 100 Meter langen Schlange. Da aber außer der Wurst alles ein Ende hat, konnte ich dann doch endlich weiterfahren bis zu meinem heutigen Freizeitziel, dem Zoo von Jakarta.
Wie bitte, dem Zoo? Das sind doch in solchen Ländern immer ganz traurige Ansammlungen engster Käfige. Ja, aber. In Jakarta ist das alles anders. Der Zoo ist hier nämlich ein riesiges Gelände, tropisch wuchernd, unüberschaubar, mit vielen Essständen, Picknickplätzen, sogar mopedbefahrenen Straßen und einer eigenen Moschee. Und ehrlich gesagt wollte ich nach dem ganzen Tropen-Großstadt-Overkill von Bangkok und Jakarta mal wieder einen ruhigen Platz und ein wenig Grün sehen. Andererseits hat die dürftige Finanzierung diesen ungeheuer staatssozialistisch anmutenden Park auch seiner großen Tiere beraubt. Zum Glück standen also die engen Käfige mit den Schildern “Leopard, Tiger, Puma” leer. Die Hauptattraktion befindet sich nahe beim Eingang. Es sind – unglaublich aber wahr – Pelikane, wirklich prachtvolle Südhalbkugel-Exemplare.
Gerade der hintere Parkbereich wird dann immer mehr zu einer tropischen Wandelroute. Die Affeninsel im künstlichen See ist so riesenhaft groß, dass man auf ihr gar keine Affen sehen kann. Dafür dient der See anderen Zwecken: Ein paar Angler haben es sich hier gemütlich gemacht, einer angelt sogar im Krokodilgraben. Und es werden tatsächlich mittelgroße, runde Fische gefangen. Plötzlich fängt es an zu donnern, und kaum habe ich mich ins Schleichkatzenhaus (sehr nett: der Binturong) gerettet, rauscht ein Tropensturm hernieder, wie es ihn nur hier geben kann. Sofort bilden sich überall kleine Bäche aus Wasser und rötlicher Erde. Nur die großen Spinnen unter dem Dach reparieren ganz gemächlich ihre Netze, denn nach Kassenschluss findet hier noch eine Fütterung der anderen Art statt. Als ich wieder draußen über die Wege patsche, treffe ich dann doch im Schweinegehege ein paar Tiere, die mit dem Regen ausgesprochen einverstanden sind.
Meine heutigen Esserlebnisse waren übrigens nicht berauschend. Ich nahm in einem Etablissement Platz, das – wie ich nachher feststellte – eigentlich eine Autowerkstatt ist. Weil die Reparaturen aber möglichst sofort erledigt werden und der Kunde nicht deshalb extra wieder mit dem Taxi nach Hause fährt, gibt es eine Art Warterestaurant. In jenem nimmt man verschiedene Speisenvariationen zu sich, hier als “Paket 1”, “Paket 2” und so weiter bezeichnet. Mein “Paket 2” bestand aus einem frittierten Hühnerflügel, einem Erdnussbarren, einem Tofustück, einer scharf-sauren Suppe und natürlich Reis. Gut, ich beschwere mich schon nicht, fand aber die Spieße mit Erdnusssauce vom ersten Abend deutlich schmackhafter.
Morgen werde ich übrigens selbst zu Gast in einer indonesischen Behörde sein – und mehr Glück beim Essen haben. Ich war dort nämlich schon einmal in der Nähe, mit gefülltem Magen allerdings, und die Straßenstände sahen sehr vielversprechend aus. Und keine Angst, der Artikel wird dann wieder komplett foodlastig. Oder interessiert Euch solches “Beiwerk” wie heute auch?
Ja!
Das ist der bislang kürzeste Kommentar, aber ich weiß, was Du meinst ;).
Hallo Matze,
dein heutigen Beiwerk-Bericht finde ich super. Wahrscheinlich deshalb, weil er ein klein wenig in die Richtung geht mit der ich mich in Bezug auf SOA beschäftige.
Respekt vor deinen Spaziergängen. Hab auch schon deine Post über den Bangkok Spaziergang gelesen. Bei mir endet so eine Kombi: tropische Stadt+körperliche Anstrengung+Luftverschmutzung immer in bösen Kopfschmerzen 😉
Ich habe bloß immer Probleme, wenn ich die erste Nacht an einem neuen Ort verbringe. Danach akklimatisiere ich mich schon irgendwie. Allerdings sind es hier in Jakarta auch nur 30 Grad (okay, natürlich auch eine entsprechende Luftfeuchtigkeit) im Gegensatz zu den 35 in Bangkok…
Sehr schöner Bericht – bin nur zufällig darauf gestossen! Ich lebe jetzt schon seit eineinhalb Jahren hier – ich habs noch nicht in die Moschee geschafft 😉
Kleiner Essenstipp – man fährt öfter an diesesn Sederhana-Restaurants vorbei… sensationell leckeres Essen aus Sumatra, allerdings sehr scharf.
Viel Spaß noch!
Vielen Dank! Schärfe schreckt mich übrigens nicht ;). Habe gerade nachgeschaut, “sederhana” bedeutet “einfach”, also wohl ein Sammelbegriff für einfaches, alltagstypisches Essen, nehme ich an.
Die Moschee ist (kann man ja schon von außen sehen) natürlich alles andere als ein osmanischer Prachtbau, sondern eher funktionell und eben im Stil der Fünfziger gehalten. Als ich dort war, war nicht viel los, aber der Mann sagte mir, dass zum Freitagsgebet regelmäßig 20-30.000 Menschen kommen würden. Interessant fand ich übrigens auch, dass Frauen- und Männerbereich nur so halb voneinander getrennt sind. Es gibt zwar eine Art Alu-Banderole zwischen beiden, aber bei meinem Besuch haben die Frauen teilweise auch im Männerbereich gebetet.
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