Dass einem außergewöhliche Bieretiketten sofort ins Auge fallen, ist nicht allzu häufig. Adler, Ranken, goldenes Geschwurbel oder eine selbstgemalte, pseudo-keltische Szenerie von großer Geschmacklosigkeit. Als ich jedoch am Bierregal vorbeikam und mich unvermittelt der Papierene anblickte, war mir sofort klar: Dieses Bier muss ich haben! Um ehrlich zu sein, schaut der Protagonist auf dem Etikett den Käufer gar nicht an, sondern er blickt in die Höhe, über eine imaginäre Kamera hinweg, hin zu seinen Schutzengeln. “Dass mir die Gegner diesmal nicht so arg in die Knochen treten”, ist sein erster Wunsch bei einem spontanen Feenbesuch. Aber was befindet sich jetzt in der Flasche?
Ein Bier natürlich, ein Bier aus London. Alastair Hook von der Meantime Brewing Company lernte die Kunst des Brauens in Weihenstephan, nicht die schlechteste Adresse also. Schon damals interessierte er sich für alle möglichen Bierstile, langweilig-fade Industriepilsener waren ihm ein Graus. Zurück in London machte er sich also daran, ein möglichst breites Spektrum von Bierstilen selbst zu brauen und auf den Markt zu bringen. Mit großem Erfolg übrigens, die Kunden scheinen regelrecht nach charaktervoll unterschiedlichen Bieren gelechzt zu haben. Eines dieser Biere ist das “Union”, ein untergäriges Lager im Wiener Stil.
Auf der Website schreibt Alastair dazu: “100 years ago Pilseners, Müncheners and Viennese lagers formed a trio of major lager styles brewed in central Europe 100 years ago. Gradually the lighter Pilseners swept all before them and Vienna style beers fell into an undeserved decline.” Interessanterweise scheint das Revival dieses Bierstils auch nicht von seiner früheren Heimat auszugehen. Ich habe bei ratebeer schnell mal die Top 25 unter der Stilrubrik “Vienna” durchgeklickt. Drei tschechische Biere sind darunter, ein deutsches, aber kein einziges österreichisches. Nun ist ratebeer natürlich kein repräsentatives Medium, aber ein wenig bezeichnend finde ich es schon.
Das “Union” zeigt sich amber- bis kastanienfarben mit einem schönen Rotstich. So gefällt es mir. Etwas verblüfft bin ich nach dem Öffnen allerdings über den quasi nicht vorhandenen Schaum und den etwas grob blubbernden Spund. In der Nase kommt die Röstmalzigkeit voll zum Tragen. Am Gaumen ist der Antrunk auch malzgeprägt, und eigentlich erwarte ich jetzt die weiterhin vollmundige, leicht süßliche Malznote, samtig und seidig. Stattdessen kommt eine wahrhaft furztrockene Materie und zum Ende eine nicht unkräftige Hopfung. Ich persönlich hätte wahrscheinlich darauf verzichtet, dunkles Lagermalz und Cascade-Hopfen zusammen zu bringen, aber Alastair empfiehlt als Speisenbegleitung auch kein Wiener Schnitzel, sondern dunkleres Fleisch, teiglastige Pizza oder einfach gar nichts – Zechen in geselliger Runde.
Mein Fazit lautet dann auch: Schön, dass sich jemand aus einer unerwarteten Ecke des Wiener Bierstils annimmt. Individuell und gelungen nach meinem Dafürhalten die Ausstattung der Flasche, rein gustativ hätte es aber schon etwas mehr Schmelz sein dürfen. 14 MP.
Ah, die Bemerkung vom Einstieg scheint noch nicht geklärt. Wer war denn jetzt der Papierene, der auf dem Etikett abgebildet ist, und warum wurde er so genannt? Es handelt sich um den Fußballer Matthias Sindelar, einen der genialsten Techniker, den die Welt des Ballsports je hervorgebracht hat (glaubt man den Reportagen). Im österreichischen Wunderteam der 1920er und 1930er Jahre war er für die demütigenden Tricks und als Mittelstürmer auch für die Tore zuständig. Wegen seiner schmächtigen Gestalt, die ihn zu einem körperlosen Spiel zwang, nannte man ihn – nun ja – den “Papierenen”.
Findet Ihr es übertrieben, dass ich von der Ausstattung und der Reminiszenz dieses Bieres so begeistert bin? (Vielleicht poste ich Euch mal ein paar belgische Schreckens-Etiketten zum Vergleich). Und, liebe Wien-Kenner, wer braut heute eigentlich in Wien ein gutes Bier auf diese Art?
Was fuer ein schoener Artikel! Sindelar, die Ikone des oesterreichischen Fusballs auf einem britischen Bieretikett – einfach toll.
Ich habe auch gelernt, dass es ein Wiener Lager gibt/gab. Ich kannte nur das Muenchner als Spezialitaet.
In Belgien und Britannien wird auch noch oft vom goldenen “Dort” als Lagerstil gesprochen, dem Dortmunder. Leider gibt es in Dortmund selbst kein einziges Bier mehr, das diesen Namen verdienen würde. Auch da kommen laut ratebeer die besten Interpretationen mittlerweile aus Kanada…