Wenn einen dieses ganze Schöne, Malerische und “Authentische” an Istanbul nervt, muss man sich auf den Weg nach Bagdad machen. Wohin bitte? Nein, ich sagte nicht “direkt nach Bagdad”, sondern auf den Weg dorthin. Den Bahnhof Haydarpaşa auf der asiatischen Seite erreicht man problemlos mit der Fähre von Karaköy aus. Dieses prachtvolle Gebäude aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts war der Startpunkt der legendären Bagdad-Bahn. Bahn-Nostalgiker dürfen jetzt noch ein wenig seufzen, während ich mich in die Vorortbahn namens “Banliyö Treni” setze und ein paar Stationen bis nach Suadiye fahre. Jetzt bin ich auf der Straße nach Bagdad.
Die Bağdat Caddesi ist eine nicht weniger als 14 Kilometer lange Straße, die einst tatsächlich als Ausfallstraße für die Kutschen in Richtung Bagdad genutzt wurde. Heute ist sie mit dem Auto zwar dreispurig, jedoch nur noch in eine Richtung zu befahren. Trotzdem herrscht hier eigentlich immer Stau. Auf der Straße wie auf den beachtlich breiten Bürgersteigen. Denn die Bağdat Caddesi ist – so weit vom Zentrum – die wichtigste Einkaufsstraße von Istanbul mit dem mit Abstand größten Umsatz. Dass sich an den Tischen der Cafés, die die Straße gelegentlich säumen (ich spreche von Starbucks und Konsorten), so viele glatte Gesichter mit geraden Nasen hinter Gucci-Sonnenbrillen befinden, kommt nicht von ungefähr. In der zweiten Reihe der Straße tummeln sich nämlich etliche Körperkunstsachverständige, Augenlaserer und Faltenbügler; Privatkliniken, die Istanbul bei einer bestimmten Klientel einen guten Ruf eingebracht haben.
Überrascht halte ich bei meinem Bummel inne, als ich plötzlich das Schild “Havelka – Wiener Wein- und Bierhaus” sehe. Kann das sein? Sollte es sich hier um einen nur marginal falsch geschriebenen Ableger des legendären Café Hawelka in Wien handeln, aufgemacht vielleicht von den unehelichen Enkeln? Schnitzel, Würstel und Baget (= Baguette) soll es auch geben, also warum nicht diesem gastlichen Ort auf halbem Weg nach Bagdad einmal einen Besuch abstatten. Gut, einen Grünen Veltliner gibt es nicht, dafür einen französischen (Chardonnay) und einen italienischen (Pinot Grigio) Landwein. Die angebotenen Biere heißen Efes, Beck’s und Foster’s, hm. Das Wiener Schnitzel besteht aus Hühnerbrust, und der Rest war mir dann auch nicht mehr so wichtig. Welch groteske Idee auch, ist man hinterher ja immer schlauer, in dieser Gegend ein echtes Wiener Kaffeehaus vermutet zu haben.
Da ich an und für sich kein großer Shopping-Freak bin und mich Tommy Hilfiger, Pierre Cardin oder Vakko weitestgehend kalt lassen, ähnelt mein Weg nach Bagdad eher einem Gang nach Canossa. Obwohl, nein, übertrieben. Hier ist Istanbul einfach hemmungslos modern, nur halt völlig austauschbar. Wäre da nicht pro Kilometer ein Kestane-Händler, dies könnte irgendwo sein auf der Welt zwischen Melbourne und Miami.
Großartig hingegen ist ein Spaziergang nur rund 200 Meter parallel zur Bağdat Caddesi an den Ufern des Marmara-Meers. Die exklusiven Geschäfte haben natürlich auch Geld in den Stadtteil nahe des Fenerbahçe-Stadions gebracht, die Wohnlage direkt am Meer tut ihr Übriges. Da konnte die Stadtverwaltung nicht zurückstehen und hat auf etwa fünf Kilometer Länge eine schöne Promenade geschaffen. An einigen künstlich angelegten Buchten gibt es sogar Sandstrand. Allerdings ist die Atmosphäre hier nicht so angestrengt hip, wie man es in dieser Gegend vermuten könnte, also kein zweiter Bundespressestrand. Die Kinder tragen keine Designerklamotten, das Meer ist echt, und ein Glas Tee kostet 50 Cent.
Fazit meines kleinen Ausflugs in Richtung Bagdad: Für unsereins gibt es da wenig zu holen, eine kulinarische Indifferenz, und das in dieser Stadt! Was mich allerdings immer wieder und mit allem versöhnt, sind Sonne, Meer und Möwen. Und davon gibt es hier reichlich.
Übrigens: Jeden Dienstag fährt ein Zug von Haydarpaşa nicht nach Bagdad, aber nach Teheran. Knapp drei Tage Fahrtzeit, etwa 50 € one way in der Ersten Klasse.
Ja welch eine Überraschung – am vergangenen Samstag waren wir auch am Haydarpaşa-Bahnhof. 🙂
Gruss vom Muger