Weston-super-Mare, das man übrigens „Mähr“ wie Neitmähr ausspricht, befindet sich zwar nominell am Meer, aber irgendwie wirkt es manchmal nicht so. Man könnte es fast Brunsbüttel in Groß nennen. Ähnlich nämlich wie die Elbe bei Brunsbüttel bildet der Severn hier eine Trichtermündung, die sich zum Atlantik hin weitet. Das bewirkt zum einen, dass die leicht schlammigen Flussfluten die Farbe des „Meeres“ bei Weston nicht unerheblich prägen. Tauchclubs dürften hier die Ausnahme sein, die Sichtweite unter Wasser beträgt ungefähr einen halben Zentimeter.
Zum anderen verstärkt diese Trichterform die Auswirkungen der Gezeiten. Während es die Elbe aber auf lediglich vier Meter Unterschied zwischen Ebbe und Flut bringt, sind es hier bis zu 14 Metern. Das hört sich nicht nur viel an, sondern ist in der Tat der zweithöchste Tidenhub der Erde, getoppt nur noch von der Bay of Fundy in Kanada auf der anderen Seite des Atlantiks. Wenn die Kombination aus Fluthöchststand und Voll- oder Neumond aufeinander treffen, gibt es im Severn eine echte Gezeitenwelle namens „Severn Bore“, auf der Surfer regelmäßig kilometerweit flussaufwärts reiten können. Das Wasser bleibt zwar kalt und schlammig, aber who cares?
Allerdings ist der Unterschied zwischen Ebbe und Flut auch schon bei normalen Verhältnissen beachtlich. Jedes Jahr gibt es in Weston Todesfälle, wenn verblödete Touristen trotz überall stehender Warnschilder im Matsch versinken oder weit draußen von der Flut überrascht werden.
Das Wattenmeer bietet dafür aber sehr gute Bedingungen für Zugvögel aus der Arktis, die in der Severn-Mündung regelmäßig Station machen. Mit meinen beschränkten optischen Geräten habe ich bislang aber nicht mehr als einen Austernfischer neben den ganzen verschiedenen Möwenarten beobachten können. „Birdwatching“ ist in England immer noch eine große Nummer, und deshalb habe ich mir die November-Ausgabe der Zeitschrift, nun ja, „Bird-Watching“ gekauft. Nach der Lektüre wurde mir auch klar, weshalb die Engländer so verrückt nach Vogelbeobachtungen sind: Es ist nicht nur so, dass viele Zugvögel hier Station machen auf ihrem Weg von Nordeuropa in Richtung Afrika, es kommt sogar vor, dass nordamerikanische Vögel über den Atlantik fliegen, um an englischen Küsten zu überwintern.
Der „Star Bird of the Month“ im letzten Monat war ein unspektakulär grau-brauner Sperlingsvogel, der „Alder Flycatcher“. Er sollte allerdings von Kanada aus nach Südamerika gezogen sein und nicht an die englische Nordseeküste, wo ihn Birdwatcher John Carter voller Begeisterung gesehen und fotografiert hat. Ich muss zugeben, dass mich diese altmodisch und etwas skurril wirkenden Leidenschaften der Engländer sehr faszinieren.
Natürlich gehören sowohl Levi Roots‘ „Reggae Reggae Sauce“ als auch die ganzen rotgesichtigen und bei 5 Grad immer noch mit hochhackigen Sandaletten umherstaksenden Amy-Winehouse-Verschnitte zur heutigen Englishness, und das nicht minder als die Birdwatcher. Die englische Kultur scheint mir irgendwie immer noch ein paar mehr Refugien für Individualisten jeglicher Couleur zu bieten zu haben als wir auf dem Kontinent.