
Der große Billy Wagner sagte einst bei einer Probe zu mir: »Ich weiß auch nicht, aber irgendwie schmecken die mit zunehmender Flaschenreife immer ähnlicher.« Gemeint waren in diesem Fall fruchtsüße Rieslinge aus den 1960er Jahren, und recht hatte er eindeutig. An diese Situation musste ich neulich wieder denken. Um das in stark begrenztem Rahmen noch einmal nachzuprüfen, bin ich tief in den Keller hinabgestiegen und habe drei gereifte trockene Rieslinge hochgeholt. Eine Karstadt-Sonderabfüllung von Nico Espenschied, den damals ganz neuen Schwarzen Herrgott von Stefan Schwedhelm und das Halenberg-GG von Emrich-Schönleber. Letzterer war seinerzeit der Topstar, Platz 4 in ganz Deutschland hinter dreimal Keller. Fand jedenfalls der Gault-Millau. Was ich heute dazu sage, wird der Blindtest zeigen. Ich bin gespannt wie Bolle.
Bedingungen der Flaschenreife bei mir
Vorweg einfach noch ein paar technische Details. Alle drei Rieslinge besitzen 13 vol%, was angesichts des damals noch nicht voll durchgestarteten Klimawandels ja doch ziemlich üppig erscheint. Tatsächlich aber wurde 2007 oder auch 2012 noch wesentlich oechsle-reifer gelesen als heute. Gekauft hatte ich die Weine im schlichten Einzelhandel. Den La Roche für 13,99 € bei Karstadt (klar, 14 € glatt geht da nicht), den Herrgott für 11 € bei Karl Kerler, beides in Nürnberg, und den Halenberg für 29,50 € beim Weinladen Schmidt in Berlin. Die Flaschenreife erhalten haben sie im Gewölbekeller, fürs Etikett unangenehm feucht, ansonsten aber absolut top mit gleichbleibender Kühle rund ums Jahr. Das GG ist mit einem Naturkork versehen, die beiden anderen mit einem Schrauber. Auch das könnte eine Variable sein, denke ich mir spontan. Nun aber los mit dem ersten Kandidaten.
Wein #1 – Nico Espenschied La Roche 2012

»Meisterstreich«, das war damals eine einmalige Aktion irgendeines weinverrückten Verantwortlichen bei Karstadt/Perfetto. Sechs Weine interessanter und aufstrebender deutscher Weingüter wurden eigens dafür abgefüllt. Auf diese Weise (wenn ich mich nich täusche) erschien Nico Espenschied vom rheinhessischen Weingut Espenhof zum ersten Mal namentlich persönlich auf dem Etikett. Bis heute ist der Riesling La Roche der Spitzenweiße von Nico geblieben. Den 2021er gibt es für 22 € im Online-Shop des Weinguts.
Die Flasche ist mit einem Schrauber verschlossen, was vielleicht erklärt, weshalb der Wein nicht nur unglaublich frisch wirkt, sondern auch noch ganz leicht perlt. In der Nase eine enorm helle Mineralik, Zitrone, Kräuternoten. Im Mund knallt die Säure ganz schön rein, aromatisch geht es fast in Richtung Limette. Viel leichter als der Alkohol auf dem Etikett andeutet, aber trotzdem nicht nur easy drinking, sondern durchaus mit Schmelz und Zug. Das ist ein fantastisch lebendiger Wein, total jung, der im ersten Durchgang wegen der knackigen Säure echt begeistert. Mit zunehmender Dauer und auch zum Essen ist jedoch genau das die Herausforderung: Entweder man mag es, oder eben nicht. Mein Platz 2.
Wein #2 – Schwedhelm Schwarzer Herrgott 2011

Auch Stephan Schwedhelm stand 2011 wie Nico Espenschied noch am Anfang seiner Karriere. 2006 war er aus Geisenheim auf den elterlichen Hof zurückgekommen und hatte dort erstmal den Keller übernommen. Der Gault Millau führte das Weingut 2013 zum ersten Mal ohne Punkte sozusagen im Anhang. Und auch der Schwarze Herrgott, heute zusammen mit dem Kreuzberg im Zentrum eines wahren Booms, war seinerzeit noch keine große Nummer. Kalt, exponiert, auf der Grenze zwischen Pfalz und Rheinhessen gelegen, wurde selbst H.O. Spaniers brandneues GG mit eher defensiven 91 Punkten bedacht. Stephan Schwedhelms Riesling gibt es übrigens immer noch, der 2023er steht für 23,95 € im Online-Shop.

Durchaus expressiv in der Nase kommt der Herrgott daher, ausgestattet mit einer verblüffend dunklen Mineralik, Orangenschale, Baumrinde, nasser Stein. Im Mund gibt’s dank Schrauber auch wieder ein leichtes Perlen, dann aber eine enorm salzige Note, so etwas wie dunkel getrocknete Salzzitrone und Orange. Viel wuchtiger als der La Roche, schwermütiger, solo richtiggehend anstrengend nach zwei Schlucken. Das ist schon ein echter Charakterkopf, den man heute vielleicht ein bisschen weniger reif lesen würde. Braucht immer noch viel Luft, entwickelt sich dann aber über Tage. Mein Platz 3, aber trotzdem ein richtig guter Wein.
Wein #3 – Emrich-Schönleber Halenberg GG 2007

Anders als die beiden Geheimtipps vorher, stand der Halenberg von Emrich-Schönleber schon in voller Blüte. Werner Schönleber gehörte zu einer wahrscheinlich nicht mehr als zwei Handvoll starken Riege von Spitzenwinzern, die den trockenen deutschen Riesling ins Gespräch und auf die Karten der Top-Restaurants brachten. Der 2007er kam beim Gault Millau wie erwähnt auf Platz 4, der Nachfolgejahrgang gar auf Platz 2. 2007 war übrigens wie 2011 und 2012 ein eher warmes Jahr für damalige Verhältnisse. Heute steht das Halenberg-GG 2023 als aktueller Jahrgang für 60 € im Shop. Damals gab es übrigens auch namentlich noch den »kleinen« Halenberg (heute »Halgans«), der als 2008er meinen Riesling-Quertest gewonnen hatte.

In der Nase Zitrone, leicht heller Pfirsich, gewisse Honignoten, Akazie vielleicht, mit Abstand der eleganteste Wein schon hier. Im Mund ist alles die pure Ausgewogenheit. Schon die Säure wirkt feiner, die Materie sofort unglaublich souverän, entspannt. Hier gibt es nicht die vibrierende Pikanz des La Roche, aber auch nicht diese komplexe Mineralität des Herrgotts. Dafür besitzt der Halenberg eine sensationelle Feingliedrigkeit, einen zarten Weinbergspfirsich in der Frucht, alles ist so wahnsinnig idealtypisch rieslinghaft. Wer das Expressive, Freche, Brutale an einem Riesling liebt, kommt hier nicht auf seine Kosten. Das ist ein Wein, der tatsächlich allen gefällt. Aber auch ein richtig großes Vergnügen.
Fazit Flaschenreife

Was die Farbe anbelangt, gibt es zwischen den Weinen überraschenderweise kaum Unterschiede. Alle erstrahlen in mittlerem Zitronengelb.
Ebenso überraschend fand ich die Jugendlichkeit der Weine. Keiner der drei hatte irgendeinen Anflug von Firn, Petrol war nur sehr gemäßigt spürbar. Und das nach anderthalb Jahrzehnten Flaschenreife. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass mein Keller sehr kühl und feucht ist. Möglicherweise hat aber auch die Tatsache einen Einfluss, dass ich die Weine sehr frisch gekauft habe. Zwar nicht ab Hof, sondern bei Händlern, aber eben unmittelbar nach ihrem Marktstart.
Während man die Frische beim Schrauber auch erwartet (es perlte ja sogar noch leicht), war der Halenberg mit einem Naturkork verschlossen. Das stellte gleichzeitig einen Nachteil und einen Vorteil dar. Der Kork war nämlich komplett hinüber. Brösel für Brösel musste ich ihn herausholen, und ich überlege mir ernsthaft, ob ich mir einen Durand zulegen muss. So ein furchbares Getue möchte man ja auf jeden Fall vermeiden, egal ob bei einem schönen Essen zu zweit oder wenn Gäste da sind.
Als ich es endlich geschafft hatte, hat mich allerdings die Verschlussart wieder versöhnt. So harmonisch, finessenreich, super ausgewogen habe ich einen Schrauberwein noch nie erlebt. Weder früher noch hier. Kork kann idealerweise die Flaschenreife zu einem Höhepunkt führen, andererseits wissen wir alle, welche Risiken er birgt.
Zum Essen entpuppten sich alle drei Rieslinge für mich persönlich als eher schwierig. Es gab Toast mit Ziegenkäse, es gab Sardinen, kleine und feine kalte Dinge. Der La Roche war mir da zu säurelastig bei gleichzeitig präsenter Frucht. Da hätte ich mir eher einen Typ Romorantin gewünscht. Die beiden anderen brachten mir zu viel Frucht und Süße hinein. Solo verkostet, war der Halenberg aber schon großartig.
Und damit zum Schluss endlich die Antwort auf die Eingangsfrage, ob Flaschenreife die Weinqualität verschleiert. In diesem Fall eindeutig Nein. Der La Roche hatte unglaublich viel Frische, bot dann aber im direkten Vergleich deutlich weniger Tiefe und Souveränität als der Halenberg. Und der Herrgott war zwar sehr charakterstark, aber dann doch irgendwie ein bisschen unentspannt. Der Topwein zeigte sich also schon beim ersten Schluck – ohne Diskussion. Vielleicht war die Flaschenreife unter den gegebenen optimalen Bedingungen doch zu kurz (immerhin »nur« knapp 16 Jahre), vielleicht würde der Halenberg aber auch nach 30 oder 40 Jahren noch brillieren. Gesetzt den Fall, es ist nicht alles durch den Kork evaporiert.
Alles in allem war das jedenfalls ein wunderbarer »Test«, denn auch nach dem Beschreiben und Bewerten blieb noch genügend zum Genießen übrig…
