Das Weingut Dr. Becker ist quasi ein alter Hase bei mir im Natürlichen Dienstag. Ich merke das immer daran, wenn meine Software meckert, dass ich dasselbe Keyword schon einmal verwendet habe. Und tatsächlich, quelle surprise, es gab hier bereits einen Wein von Lotte Pfeffer-Müller und Hans Müller, nämlich einen Orange Wine. Diesmal gehen wir bei dem vornehmlich für seine Weißen bekannten Gut noch einmal tiefer in den Farbkeller und holen einen echten Rotwein hervor. Es ist der Spätburgunder des Jahrgangs 2017 aus der Pure-Linie. Für einen alteingesessenen VDP-Betrieb ist das ganz schön viel stilistischer Wagemut. Aber wer Lotte und Hans kennt, findet so etwas schlichtweg absolut passend.
Spätburgunder Pure vom Weingut Brüder Dr. Becker
Immerhin rund 20% der Ernte würden sie über ihre Pure-Weine verkaufen, erzählt mir Lotte Pfeffer-Müller. Weshalb das Weingut übrigens Brüder Dr. Becker heißt, ist schnell erklärt. Die Söhne des Gründers Franz Becker (deshalb Becker und Brüder) hatten beide promoviert (deshalb Dr.). Mittlerweile ist der Betrieb zwar dreimal in Frauenhand weitergegeben worden, weshalb es heute weder Brüder noch Becker gibt, aber den Namen wollte offenbar bislang niemand ändern.
Wir befinden uns bei dieser Folge des ROTEN DEUTSCHLANDS in Rheinhessen, und zwar in der Verlängerung des Roten Hangs nach Süden. Ludwigshöhe heißt der Ort. In der Ebene dominiert der Auelehm, direkt hinter dem Weingut beginnen die Lössterrassen, und je weiter man nach oben kommt, desto kalkiger wird der Untergrund. Wie alle Weine in der Pure-Linie stammt auch der Spätburgunder aus streng selektierten Trauben. Weil später kein Schwefel zugefügt wird, muss das Lesegut nämlich in absolut gesundem Zustand sein. Ungeschönt und unfiltriert ist der Wein ebenfalls, denn auch die Hefen spielen eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung des Weins. Als Abrundung sei noch erwähnt, dass wir es hier mit einem seit langem bio-zertifizierten Betrieb zu tun haben. Lotte und Hans sind Mitglied bei Ecovin und Demeter.
Wie schmeckt der Wein?
Im Prinzip handelt es sich, erzählt mir Lotte, bei den Trauben um den Marienfelser Klon, “also nichts Besonderes”. Allerdings gäbe es dazwischen auch Reihen mit Rebmaterial, das aus dem Burgund stammt und seinerzeit offenbar falsch geliefert worden war. Für den jetzigen Spätburgunder wird alles zusammen verarbeitet, soll künftig aber auch getrennt ausgebaut werden.
Ein sehr helles Rot fließt ins Glas, so hatte ich das erwartet. In der Nase ist das ein duftiger Wein. Ich denke an Süßkirsche, an eingelegtes Kirschblatt wie beim Sander Lössterrassen, der ja nur ein paar Kilometer von hier entfernt entsteht. Es gibt aber auch diesen raffinierten Ton, der in Frankreich gern als rose fanée bezeichnet wird, verwelkte Rose. Von Gäraromen und wildem Zeug keine Spur. Am Gaumen kommen zunächst eine schön präsente Säure und ein mittleres, feinkörniges Tannin. Aromatisch bleiben wir bei Süßkirsche und Walderdbeere, alles aber natürlich komplett ohne Zucker. Das ist zart und nachhaltig, duftig und von großer Finesse. In Zeiten von Hemingway hätte man einen solchen Wein vielleicht als feminin bezeichnet.
Lotte meint, dass ihre Weine den echten Naturwein-Freaks vielleicht ein bisschen zu unwild seien. Das mag schon sein. Aber erstens ist das hier ein echter Naturwein, und zweitens hat ein bisschen Eleganz im Glas noch niemandem geschadet.
Wo kann man ihn kaufen?
Kaufen kann man den Spätburgunder Pure vom Weingut Dr. Becker natürlich vor Ort, aber auch im Online-Shop. Der Nachfolgejahrgang 2018 kostet dort 17,50 €.
Weil die Weinberge praktisch direkt hinter dem Weingut beginnen, drehe ich noch eine kleine Runde über die Höhen zwischen Ludwigshöhe und Dienheim. Ich muss dabei an das denken, was Lotte mir gesagt hat. Ich hatte sie gefragt, wie sie die Regulierung oder Zertifizierung von Naturweinen sehen würde. Wir überlegen und diskutieren anschließend ein wenig hin und her, welche Kriterien man heranziehen könnte, welche Grenzwerte möglicherweise sinnvoll wären.
Nach einer Weile macht Lotte jedoch so ein Gesicht wie seinerzeit mein alter Mathelehrer, bevor er zu sagen pflegte: “Wir ziehen jetzt einen ordnenden Strich halber Länge.” Lotte scheint also auf eine Art Fazit gekommen zu sein. “Nun ja”, sagt sie, “ich habe viel in Verbänden gearbeitet, für Regeln gekämpft und für ihre Einhaltung. Mit der Zeit habe ich aber ein gewisses Unbehagen gegen immer engere Regulierungen entwickelt.” Eigentlich käme man ihrer Idealvorstellung näher, wenn man sich einfach drei Prinzipien zu eigen machen würde: Selbstachtung, solidarisches Verhalten, anderen ihren Platz lassen.
Das ist, wenn ich das so sagen darf, ein zutiefst humanistischer Ansatz. Der allerdings eine aufgeklärte und wache Haltung von allen Beteiligten erfordert. Aber irgendwie passt er genau zu diesem Betrieb. Vielleicht schmecken mir die Weine vom Weingut Brüder Dr. Becker sogar noch besser, seitdem ich das weiß…