Schon immer. Wenn jemand behauptet, irgendetwas “schon immer” gemacht zu haben, dann ist das in aller Regel schlichtweg falsch. So auch hier. Ich habe nicht “schon immer” Pilze gesammelt. Aber mein Vater hat mich auf die Kuhweide mitgenommen, als ich gerade so laufen konnte. Einen der größten Triumphe meiner Kindheit erlebte ich, als ich mit unserem Nachbarn Kurt K. unterwegs war und mit drei großen Plastiktüten (ja, Plastik, es waren die Siebziger…) voller Wiesen-Champignons zurückgekommen bin. Solche Pilze suche ich zwar immer noch, aber im Laufe der Jahre sind auch ein paar ungewöhnlichere Varianten hinzugekommen, wie Ihr gleich sehen werdet.
2017 ist ein großes Jahr für Pilze. “Das Pilzjahr meines Lebens”, wie Charlie auf Facebook nicht unzutreffend kommentierte. Oder vielmehr: Es ist ein großes Pilzjahr gewesen, denn wer im November noch auf Pilzjagd geht, wird alte, ausgezehrte und in der Regel madige Exemplare vorfinden, an denen man sich gut den Magen ausrenken kann. Das muss ich ohnehin vorwegschicken: Pilze sind nicht ganz ohne. Man sollte nicht irgendwelche pflücken und dann mit Hilfe eines Pilzbuches versuchen, die vermeintlich essbaren zu verwerten. Besser ist es, von vornherein eine Positivliste zu haben und nur das aus dem Wald zu holen, was man auch wirklich schon vor Ort erkennen kann.
Stichwort Wald. Auf dem oberen Bild seht Ihr Hokusais berühmten Farbholzschnitt “Der Traum des Pilzsammlers“. Der Sammler scheint direkt mit seiner Kutsche an den Waldrand gefahren zu sein. Von dort aus führt ein schmaler Pfad durch moosiges Gelände in den lichten Nadelwald hinein. Am Boden ist es feucht, aber nicht nass, und durch die Baumwipfel lugen Sonnenstrahlen. In dieser Idealwelt habe ich alle Waldpilzsorten dieses Artikels gefunden.
Was immer dazugehört: Pilzmesser, Papiertüte (ich nehme gern solche für Kompost, die sind reißfester), vielleicht noch Gummistiefel, wenn es ganz arg wird. Das sind Dinge, die Ihr das ganze Jahr über im Kofferraum lassen könnt. Sie nehmen wenig Platz weg und sind garantiert immer dann da, wenn Ihr sie braucht. Natürlich kann man auch einen Pilzkorb nehmen, aber ich heiße ja nicht Rotkäppchen. Das Messer nimmt man übrigens deshalb, um den Pilz nicht herauszureißen und das fragile Wurzelgefüge zu beschädigen. “Der Pilz” als Gesamtorganismus ist ja eigentlich das unterirdische Geflecht. Was oben herausschaut, sind lediglich die Fruchtkörper. Jetzt aber los mit der fröhlichen Sortenparade.
Teil A – Pilze, die alle mögen
Steinpilz – Boletus edulis. Korrekterweise müsste ich in der Mehrzahl sprechen, denn es gibt mehrere Sorten Steinpilze, die auch noch leicht unterschiedlich gefärbt sein können. Der dicke Stiel und die feinen Röhrchen unter dem Hut sind aber eigentlich unverwechselbar. Mit einer Ausnahme: Hellbrauner Hut, weißliche Röhrchen, das kann auch ein Gallenröhrling sein. Wer sich nicht sicher ist, einfach mal ein kleines Stückchen davon abbeißen. Der Gallenröhrling ist nicht giftig, aber deutlich bitter, und ein einziges Exemplar davon kann das ganze schöne Steinpilzragout zum unfreundlichen Akt werden lassen.
Wiesen-Champignon – Agaricus campestris. Genau, das ist die Sorte, die man genormt und industriell verpackt auch in den Supermarktregalen findet. Freilebende Champignons sind aber nicht nur weitaus aromatischer, sie existieren auch in unterschiedlichen Reifestadien. Charakteristisch für die reiferen Exemplare sind immer die rosafarbenen Lamellen. Lamellenpilze sind übrigens wesentlich zahlreicher in ihrer Sortenvielfalt als Röhrlinge (ungefähr 20mal so viele Sorten) und deshalb auch wesentlich leichter miteinander zu verwechseln. Ich pflücke deshalb nie helle Lamellenpilze, wenn sie nicht wirklich wie ein Wiesen-Champignon aussehen.
Echter Pfifferling – Cantharellus cibarius. Wieso “echt”? Weil es auch noch den Falschen Pfifferling gibt, der wesentlich häufiger ist, insgesamt aber deutlich leuchtender in der Farbe, dazu mickriger im Wuchs. Ich habe den Falschen allerdings auch schon gegessen, weil ich den Echten relativ selten finde in meinem bevorzugten Revier.
Riesen-Schirmpilz – Macrolepiota procera. Kennt man auch unter dem Namen “Parasol”. Am liebsten auf Magerrasen, riesig groß, bleibt wochenlang stehen und wird dadurch nicht besser. Im Knöllchenstadium, also bevor sich der Hut ausbildet, ist der Pilz eigentlich am schmackhaftesten, aber auch dann bereits relativ anstrengend im Goût. Das Lustigste, was man mit Riesen-Schirmpilzen machen kann, sind (panierte) vegetarische Schnitzel. Das ist mit ein bisschen Saucenbeilage tatsächlich eine vollständige Mahlzeit.
Maronen-Röhrling – Xerocomus badius. Praktisch nie madig, färbt sich manchmal leicht bläulich an der Schnittstelle und besitzt keine Mykorrhiza, also keine Baumpatenschaft. Dadurch können Maronen auch einmal ziemlich einsam im Wald herumstehen. Die Huthaut wird unter feuchten Bedingungen leicht schleimig, und ohnehin ist es bei so alten Exemplaren wie auf dem Foto oben besser, die Röhrchen vor dem Braten zu entfernen.
Rotfuß-Röhrling – Xerocomellus chrysenteron. Wir gehen über zur B-Kategorie der Speisepilze. Das sind die Sorten, die von Pilzsnobs stehen gelassen werden, weil sie a) ein leicht schwammiges Fleisch besitzen und b) ziemlich häufig madig sind. Ich mag Rotfuß-Röhrlinge wegen ihres milden Aromas aber ganz gern.
Gold-Röhrling – Suillus grevillei. Auch Kategorie B, weil das Fleisch ein bisschen schwammig ist (jedenfalls deutlich schwammiger als beim Steinpilz), weil die Huthaut garantiert schleimt, und weil Gold-Röhrlinge dort, wo sie wachsen, oft in großen Mengen vorkommen. Einmal abgepflückt, ist die Tüte nach zwei Minuten voll. Ich glaube, das langweilt den Pilzfreak.
Teil B – Pilze für Freaks
Kuh-Röhrling – Suillus bovinus. Offiziell wahrscheinlich Kategorie C, also akzeptabel, bevor man verhungert. Mit diesem Pilz wird das Ganze allerdings endgültig zu einer wilden Pilzjagd, und das ganz bewusst. Die folgenden Sorten pflücke ich jeweils ihrer besonderen Eigenschaften wegen, und das ist nicht primär der Geschmack. Hier kommt nämlich ein Element mit ins Spiel, das wir in unserer traditionell deutschen Pilzküche nur sehr wenig beachten: die Textur.
Unser Ideal ist der Steinpilz, weil “viel dran” ist, weil er gebraten eine halbfeste Konsistenz besitzt und angenehm mild-nussig schmeckt. Ich sage jetzt nicht away with that, möchte aber darauf aufmerksam machen, dass es auch anders geht. Zum ersten Mal richtig bewusst geworden ist mir das in einem buddhistischen (= vegetarischen) Tempelrestaurant in China. Da gab es eine Nudelsuppe mit Pilzen. Aber was für irre Dinger das waren! Weich und hart, zäh und gelatinös, wie eine Kappe aussehend und wie eine Strubbelfrisur. Natürlich waren auch die Geschmäcker entsprechend unterschiedlich, aber was mich am meisten fasziniert hat, das war das unterschiedliche Mundgefühl.
Solltet Ihr also zufällig ein avantgardistisches Nordic Cuisine-Restaurant in Berlin-Mitte führen, dürften die folgenden Pilzsorten für Euch besonders interessant sein. Oder nein, dann kennt Ihr sie wahrscheinlich schon. Alle anderen aufgeschlossenen Essinteressierten möchte ich aber ebenfalls ein wenig zum Experimentieren einladen. Ihr wisst gar nicht, was für wildes Zeug kostenlos vor Eurer Haustür schlummert!
Jetzt aber noch einmal zurück zum Kuh-Röhrling: Beim Garen nimmt dieser grobröhrige Pilz eine Konsistenz an, die ein bisschen an Gelkissen erinnert. Er ist gleichzeitig wabschig und dennoch von einer gewissen Zähigkeit, wenn man das Stück durchbeißen möchte. Passt nicht zu allem, aber wenn man weiß, welche Eigenschaften ein solcher Pilz hat, kann man doch sehr viel damit machen.
Semmel-Stoppelpilz – Hydnum retandum. Die Franzosen nennen ihn “pied de mouton”, also Schafsfuß, und sind sehr erpicht darauf. Hierzulande gehen die Meinungen auseinander. Aber es handelt sich auch um eine wahrhaft extravagante Sorte. Statt Lamellen oder Röhrchen trägt der Pilz kleine Stoppeln auf der Hut-Unterseite und ist damit wirklich kaum zu verwechseln. Bei älteren Exemplaren pinsele ich allerdings die Stoppeln ab. Mir gefällt der Pilz deshalb, weil sein Fleisch sehr fest ist. Das bedeutet, dass er draußen auch nasserem Wetter trotzen kann und zusätzlich in der Pfanne kaum schrumpft. Die Festigkeit des Fleisches ist auch nicht strunkhaft, sondern vielmehr gleichmäßig und kompakt. Man könnte Skulpturen daraus schnitzen.
Fichtenreizker – Lactarius deterrimus. Genau umgekehrt verhält es sich bei diesem Exemplar, deren irgendwie ungut wirkendes orange-grünliches Erscheinungsbild Ihr bestimmt schon in Fichtenwäldern gesehen habt. Der Fichtenreizker stammt aus der Familie der Milchlinge, benannt nach dem Saft, den die Pilze nach dem Anschneiden abgeben. In diesem Fall ist der Saft orangefarben und ist beispielsweise imstande, auch Reis mit einzufärben. Die Konsistenz des Fichtenreizkers würde ich beinahe als cräckig bezeichnen: Die Außenseite ist ziemlich fest (auch er kann längeren Regen vertragen), wenn man sie jedoch durchgebissen hat, stellt sich innen ein luftig-saftiges, aber gleichzeitig leicht sprödes Mundgefühl ein.
Schopf-Tintling – Coprinus comatus. Das Exemplar auf dem oberen Bild ist die maximale Größe, die ein Schopf-Tintling haben sollte. Größere Exemplare zerfließen nämlich sofort in der Pfanne und gelten zusätzlich als ungenießbar. Sehr junge Schopf-Tintlinge sind fester, und wenn man sie quer durchschneidet, bilden die einzelnen Schichten ein interessantes Muster verschiedenfarbiger konzentrischer Kreise. Man kann sie sogar roh essen, nur leicht mit Salz und Pfeffer gewürzt.
Flaschen-Stäubling – Lycoperdon perlatum. Unverwechselbar durch seine Außenhaut, deren Perlen sich beim Transport beinahe von selbst ablösen. Auch Flaschen-Stäublinge sollte man nur ganz jung ernten. Gebraten erinnern sie mich irgendwie an mein Barbapapa-Radiergummi aus der Grundschulzeit. Zum einen natürlich von der Form her, aber irgendwie fühlen sie sich außen auch gummiartig an, sind dann aber innen sehr weich, fast cremeartig, wie aus der Molekularküche. Richtig kleine Exemplare sollte man besser im Ganzen zubereiten, etwas größere kann man in Scheiben schneiden. Auch dann wirkt der Kontrast zwischen leichtem Gummi außen und absoluter Softheit innen interessant.
Krause Glucke – Sparassis crispa. Die Krause Glucke ist für Bewohner von Kiefernwäldern natürlich kein Geheimtipp, aber spektakulär bleibt sie allemal. Krause Glucken wachsen immer direkt unten am Baumstamm und bilden dann einen Fruchtkörper, der eher nach einer sehr alten Kohlsorte aussieht. Geschmacklich gibt es nichts zu meckern, auch texturmäßig ist so ein Monstrum sehr angenehm, weil keineswegs so zäh wie vermutet. Aber die Säuberung dauert immer ziemlich lang, weil in diesem Kraushaar der ganze lose Wald steckt.
Gemeine Stinkmorchel – Phallus impudicus. Was denn, sowas soll man essen können? Aber ja, allerdings ist das eher ein Genuss für Fortgeschrittene. Oder für total offene Einsteiger, ganz wie man will. Die Stinkmorchel kann man nur pflücken, wenn sie noch ganz jung ist, und zwar in Form des so genannten Hexeneis. Sieht aus wie ein etwas schmuddeliger Golfball, ist erstaunlich schwer und unter der Schale von einer Gallertschicht umgeben. Jene würde ich entfernen, denn innen besteht das Hexenei aus einem grün-bräunlichen (das sind die Sporen) und einem hellweißen Bereich, dem zukünftigen Stiel. Junge Stinkmorcheln schmecken weniger nach Pilz als vielmehr gemüsig, Richtung Radi.
Wenn es jetzt ans Verarbeiten geht, mache ich mir selbst ehrlich gesagt keine so große Arbeit. Ich führe ja auch kein Avantgarde-Restaurant. Meistens bin ich am späten Nachmittag im Wald, manchmal auch in der Mittagspause, und fast immer habe ich bereits Hunger, wenn ich mit den Pilzen in die Küche komme. Keine guten Voraussetzungen also für aufwändige Zubereitungen. In den allermeisten Fällen brate ich deshalb die Pilze in der Pfanne, je nach Sorte eine halbe Zwiebel dazu, zwei Eier darüber, Salz, Pfeffer, vielleicht ein bisschen Thymian, fertig. Dazu Butterbrot.
Wenn ich mehr Zeit habe, bereite ich gern verschiedenartige Nudelsaucen zu. Das kann man auch getrennt nach Sorten machen.
Vegetarisches “Schnitzel” aus einem Riesen-Schirmling. Geht natürlich auch, dazu grüner Salat.
Sollte ich Euch jetzt aber Appetit auf gewagtere Kreationen gemacht haben, noch ein kleiner Hinweis: Der Pilz unten auf dem Bild, der Klebrige Hörnling, ist nicht wirklich lecker. Sondern seinem Namen entsprechend leicht klebrig und fest wie Hartgummi. Aber er sieht großartig aus und kommt in Nadelwäldern auch relativ häufig vor. Wenn Ihr das Euren Gästen schon nicht als Hauptspeise vorsetzen mögt, als Dekoelement auf dem Teller taugt es allemal. Und gibt Anlass für ein sicher interessantes Gespräch.
Falls Ihr meine Vorschläge außerhalb von Steinpilz und Pfifferling für reichlich übertrieben haltet, kein Problem. Immerhin habt Ihr jetzt ein gutes Dreivierteljahr Zeit, über Eure künftigen Pilzambitionen noch einmal nachzudenken…
Hallo Matze!
Wie immer ein Beitrag der dem gemeinen Leser alles abverlangt…..aber gut…..hast Du gemeine Leser!?!?. Wie auch immer…..dieses Jahr ist auch für mich das Pilzjahr schlechthin!!! In diesem Jahr findet jeder Pilze! Man muss einfach nur in den Wald gehen. Erfahrung im Pilzsuchen ist eher nicht von Nöten…..wenn man denn jemanden dabei hat, der einem all die gesuchten Pilze bestimmen kann. Ich habe in diesem Jahr extrem viele Steinpilze gefunden…..und in einer Qualität, die mich beim aufschneiden oft sprachlos gemacht hat. Schneeweiß von Innen und keinerlei Befall von Maden. Absolute Spitzenqualität……und ich konnte jeden Tag in den Wald gehen und habe über 2 Monate hin perfekte Steinpilze gefunden (anderes sammele ich nicht…..sorry)….ich kann im Moment keine Pilze mehr sehen…….;-)
Hoffe wir sehen uns demnächst mal wieder. 501….???….oder wann immer Du in der Nähe sein solltest, dann melde Dich!
Ja, ich habe dieses Jahr auch mehr als genug Pilze gegessen 😉
Dabei habe ich gar keine so richtig spektakulären Funde gemacht, weil nach einem Zehn-Mitunten-Spaziergang in der Mittagspause die Tüte ja schon voll war…
Jetzt fliege ich erstmal wieder nach Asien, aber 501 nächstes Jahr werde ich gern kommen. Ist diesmal wieder mit Grillen, oder wie war das 😉
Den klebrigen Hörnling frittieren, salzen, bisle Thymian – Klasse Deko, mega Geschmack!!
Pingback: Essen in Hamburg - Fünf Gänge in der Hobenköök - Chez MatzeChez Matze
Pingback: BIOFACH 2023 - acht interessante Entdeckungen - Chez MatzeChez Matze