Nördlich des Zentrums von Tokyo gibt es ein Stadtviertel nahe der Bahnstation Nippori, von dem man sagt, dass es sich den Charakter alter Zeiten erhalten habe. Es heißt Yanaka. Die Hauptstraße wird mit einem Augenzwinkern als Yanaka Ginza bezeichnet. Die “echte” Ginza ist Tokyos Haupteinkaufsstraße mit den Flagship-Stores internationaler Modedesigner, aber für die Bewohner von Yanaka hat ihre eigene Ginza halt eine ebenso große Bedeutung, auch wenn man dort eher Tee, Haushaltswaren und mittlerweile auch ein paar touristische Andenken kaufen kann. Nur wenige Schritte abseits der Yanaka Ginza habe ich bei Nodaya den Wein erstanden, den ich Euch heute vorstellen möchte. Und der ist ebenso weit von einem Globalwein-Standard entfernt wie die Yanaka Ginza von ihrer berühmten Schwester.
Die Hitomi Winery wurde vor etwa einem Vierteljahrhundert von einem Modedesigner gegründet, der beschlossen hatte, ab jetzt seiner wahren Leidenschaft zu frönen. Ziemlich früh wurde auf konsequent biologischen Weinbau umgestellt und im Keller auf Spontangärung, auf geringe, bei einigen Weinen komplett fehlende Schwefelgaben (ohnehin Verzicht auf Additive) – und filtriert werden die Weine auch nicht. In Japan wurden die Weine bekannt unter der Bezeichnung nigori, was “trüb” bedeutet, und konsequenterweise heißt die Website des Weinguts auch nigoriwine. Hitomi ist mittlerweile auf der Raw vertreten mit seinen Geschöpfen und passt in diese Szene wahrscheinlich auch sehr gut. Vielleicht außer der Tatsache, dass man bei Hitomi nicht weniger als 40 verschiedene Weine produziert, alle in sehr geringen Mengen, bei denen sich noch dazu die Etiketten deutlich voneinander unterscheiden. Dieser Wunsch nach fast verwirrender Vielfalt kommt mir doch sehr japanisch vor.
Der Wein, den ich Euch vorstellen möchte, ist einer der zunächst etwas weniger wild wirkenden Gesellen. Jedenfalls wird auf dem Etikett nicht mit trüber Schwefelfreiheit geworben, sondern mit der mineralisch trockenen Art. Der “(Complete Respect) DeLa Soul” verweist im Namen nicht nur auf die legendären HipHopper (hier der Link zu der großartigen Version von Stakes is High bei der Suite for Ma Dukes), sondern auch auf die verwendete Traubensorte: Delaware. “Delawas?”, fragt Ihr Euch jetzt sicher, denn auch in einem gut sortierten Weinhandel werdet Ihr kaum auf Delaware-Weine stoßen.
Delaware ist eine amerikanische Rebsorte, eine natürliche Zufallskreuzung, die um 1850 herum “entdeckt” und dann zunächst beim Ort Delaware, Ohio angebaut wurde. Charakteristisch ist ihr Fox-Ton, weshalb sie auch außer im österreichischen Uhudler in Europa so gut wie nie vorkommt. In Japan wird die Delaware als Tafeltraube geschätzt, beim Wein jedoch eben wegen der gewissen Stinkeligkeit in der Regel verschmäht. Aber Hitomi wäre nicht Hitomi, wenn er nicht auch so etwas ausprobieren würde. Und das ist das Ergebnis:
Complete Respect DeLa Soul 2012, Hitomi Winery, 13 vol%, 100% Japanese Delaware, unfiltriert, 1.890 Yen (= derzeit knapp 14 €)
Ein Weißwein, falls ich das noch nicht erwähnt hatte. Etwas Sakenase, also eher Ananas, Reis, dazu grünliche Töne. Am Gaumen furztrocken mit einer starken Apfelsäure. Aromatisch kommt zunächst recht wenig, dann wird es leicht grasig, worauf der grünsäuerliche Rosenapfel folgt. Für den gemeinen europäischen Kritikergaumen, dem bei der Definition eines Spitzenweißen antrainierte Assoziationen nach Leflaives Puligny, Huets Vouvray oder Wittmanns Morstein einfallen, ist das Urteil über den Delaware klar: mager, sauer, unfruchtig. Irgendwie bin ich aber mit und auch dank meiner japanischen Erlebnisse ein bisschen vorsichtig geworden. Erst mal etwas dazu essen, denke ich mir.
Und schau an, der DeLa Soul entpuppt sich doch tatsächlich als ungemein versatiler Begleiter verschiedener, eher tonaler japanischer Speisen. Sushi-Miso-Sashimi-Udon, so etwas. Ich erinnere mich daran, dass mir mehrere Leute in Tokio gesagt hatten, eine zu deutliche Fruchtnote im Getränk würde zu solchem Essen nicht so gut harmonieren. Recht haben sie.
Dieser Delaware wirkt ein bisschen wie ein Sake mit Säure. Da wundert es mich nicht, dass Kunio Naito vom Cave de Re-Lax meint (klickt auf “Diary”, es lohnt sich, Kunio schreibt jeden Tag etwas): “fine acidity, comfortable after-taste, delicious!”
Und so gibt es – wie fast immer – mehrere Wahrheiten. Das zu erfahren und zu verstehen, ist wohl einer der großen Gewinne des Älterwerdens.