Keine Übertreibung ist zu groß, um das zu beschreiben, was Tokio zur Zeit der Kirschblüte ausmacht. Gelesen hatte ich davon zwar schon. Sakura heißt die Kirschblüte, und Hanami nennt man das Picknicken und Feiern unter den blühenden Kirschbäumen. Auf einer blauen Plastikplane sitzend. Aber davon zu lesen oder Fotos zu betrachten ist dann doch kein annähernd so starkes Erlebnis wie das Dabeisein. Hier folgen also ein paar visuelle Impressionen (wohl wissend, dass Ihr diese Bilder im Moment auch nur betrachten könnt, anstatt selbst unter einem solchen Baum zu sitzen) – und natürlich einige kulinarische Häppchen, denn Tokios Pâtissiers haben sich ebenfalls anregen lassen…
Wie bei meinem ersten Tokio-Aufenthalt auch, habe ich alter Langweiler mich wieder mal in Shinjuku niedergelassen. Das hat für mich einfach den Vorteil, einerseits mitten im Geschehen der Riesenstadt zu sein, andererseits mit dem Shinjuku-gyoen einen Park quasi vor der Haustür zu haben, der gerade zur Zeit der Kirschblüte in sämtlichen Reiseführern drei Sterne einheimst. Ein bisschen bezahlen für diesen Luxus muss ich allerdings auf andere Weise: Der Futon in meinem Zimmer ist von mieser Qualität, und so schlafe ich praktisch auf dem Betonboden, was mir in den ersten beiden Nächten ein wenig Kreuzschmerzen verursacht hatte. Mittlerweile geht es aber, und spätestens mit dem Betreten des Parks ist sämtliche Schlappheit verflogen.
Die japanische Zierkirsche trägt später keine essbaren Früchte, und so scheint sie auch nektarmäßig für die meisten Insekten ziemlich uninteressant zu sein. Summen tut es in den Bäumen jedenfalls wesentlich weniger als, sagen wir, in Effeltrich. Aber dafür ist die Blütenpracht schlicht überwältigend. Fast wage ich zu behaupten, dass ich so etwas Schönes noch nie gesehen habe.
Was den Shinjuku-gyoen so attraktiv macht, ist seine Auswahl an den verschiedensten Sorten. Manche blühen weiß, viele rosa, einige richtig dunkel, manche früh, andere spät, einige haben einblättrige Blütenkränze, während andere bauschig sind wie Pfingstrosen.
Diese fantastische Schönheit der Natur scheint auch auf die Menschen abzufärben. Überall blickt man in entspannte, fröhliche Gesichter, die staunend in den Blütenhimmel und in die strahlende Sonne blinzeln.
Die berühmte Yoshino-Kirsche ist in Tokio schon weitgehend verblüht, hier war der Höhepunkt vor einer guten Woche. Aber ehrlich gesagt machen sich die vom Wind verwehten Blütenblätter auch gut in den Bächen und Teichen des Parks.
Bei einigen der dunkler blühenden Sorten wird die Entfaltung erst im Laufe der nächsten Woche stattfinden. Wie ein Schneerausch sieht es dann allerdings wegen der gleichzeitig austreibenden Blätter nicht mehr aus.
Wer auf die gute Idee kommt, die Parks von Tokio ausgerechnet am Wochenende aufzusuchen, wird schnell feststellen, mit dieser Idee nicht allein gewesen zu sein. Da im Shinjuku-gyoen allerdings – anders als in Ueno Eintritt – zu bezahlen ist und alkoholische Getränke nicht mitgebracht werden dürfen, herrscht hier eher eine “ambiance bon enfant“, wie der Franzose sagen würde.
In Ueno selbst sieht das ganz anders aus. Hier fließen schon am Sonntag Vormittag beim Hanami Dosenbier und Sake in Strömen, das Publikum besteht größtenteils aus Schülern und Studenten. Allerdings blühen die Kirschbäume mittlerweile nicht mehr, und Asphalt als Untergrund wirkt irgendwie auch nicht so gemütlich wie Rasen.
Kulinarisch ist die Kirschblüte allerdings nach wie vor angesagt. Dieser sehr traditionelle Laden auf der ansonsten gar nicht traditionell wirkenden Shinjuku Dori ist ganz in Zartrosa getaucht.
Kanra bietet in der Sakura-Edition ein französisch inspiriertes Crêpe mit einer Füllung aus Bohnenmus an. Das Kirschblatt ist mazeriert in einem säuerlich-nelkig wirkenden Sud, ebenfalls die dekorierende Kirschblüte.
Minamoto Kitchoan präsentiert ein unauffällig wirkendes Küchelchen, das es aber in sich hat. Die Füllung besteht aus zart staubigem, gebackenem Eidotter wie in der portugiesischen Pâtisserie, das mit Kirschblütenwasser getränkt ist – ohne Alkohol.
Im Iwate-Antennashop habe ich dieses Daifuku erstanden, dessen Hülle aus Reismehlteig mit Kirschblütenwasser besteht. Die Füllung enthält fein gemahlene Kirschblüten und ebenso fein geschrotete junge Kirschblätter. Das Ganze ist übrigens nicht besonders süß, sondern eher feinherb, lässt sich aber – das muss ich zugeben – auch nicht wirklich appetitlich für ein Foto anrichten.
Miyabian hat sich für eine ähnliche Art Daifuku entschieden, aber diesmal ist der Reismehlteig nicht leicht ziehend, sondern puffig-locker, fast schaumig. Ein ungeheures Textur-Essen.
Eingehüllt ist die Packung von Miyabian übrigens in ein sehr hübsches Furoshiki, auf dem hängende Kirschblütenzweige abgebildet sind. Ein ähnlich schönes Tuch gibt es bei Minamoto Kitchoan auch, die Tücher gehören jeweils zum Set dazu.
Takano als Obstspezialist hat sich schließlich eine Kreation einfallen lassen, die man auch essen muss, um sie ganz zu verstehen. Unten im Töpfchen befinden sich zwei gelbe Süßkirschen. Im Kirschsaft-Kirschblütengelee darüber schweben Kirschblütenblätter. Das Ganze ist sehr zart gehalten und weit entfernt von gewöhnlichem”Wackelpudding”, der Löffel schmatzt nicht einmal beim Rausholen.
Allerdings kann man in vielen Geschäften und in den Ständen der Depachikas schon wieder ein neues Saisonmotiv erkennen, denn die Kirschblüte neigt sich auch dort so langsam ihrem Ende entgegen. Im Mai gibt es in Japan als jahreszeitliches Motiv diese geheimnisvoll aussehenden Blätter. Was es damit auf sich hat? Nun, entweder wisst Ihr es bereits, oder Ihr könnt es nachgoogeln – oder Ihr wartet einfach ab bis zum nächsten Artikel.
Tokio ist – Ihr könnt es Euch denken – schon wieder so fantastisch, dass ich Euch allen nur Folgendes ans Herz legen kann: Solltet Ihr jemals das Geld für eine neue Sofagarnitur beiseite gelegt haben, entscheidet Euch stattdessen lieber für einen Ausflug nach Japan. Es wird Eurer Seele besser tun, glaubt es mir. Und so schlimm sind die alten Cordbezüge dann ja doch noch nicht, oder?
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