Jeder Japan-Besucher wird im Laufe seiner Reise den einen oder anderen Tempel aufsuchen. Für mich war es gestern zum ersten Mal soweit, und ich muss zugeben, dass es mich sehr beeindruckt hat. Und zwar nicht wegen der (erwarteten) ruhig-kontemplativen Atmosphäre, sondern – ganz im Gegenteil – wegen der fröhlich-aufgeregten Stimmung dort. Ich möchte versuchen, Euch ein bisschen von dieser Stimmung mitzugeben, und das geht am besten mit vielen Fotos. Gegessen wird zum Schluss übrigens auch noch.
Eigentlich ist der Senso-ji, auch unter dem Namen “Asakusa Kannon” bekannt, ein buddhistischer Tempel, der älteste von Tokio. Von der ursprünglichen Version aus dem Jahr 645 ist allerdings nichts mehr zu sehen. Dafür wurde später ein Shinto-Schrein direkt neben dem Tempel erbaut, so dass sich buddhistische und shintoistische Elemente hier stark mischen. Von der ganzen Atmosphäre her kam es mir deutlich shintoistischer vor, also wenig andächtiges Schweigen, stattdessen viel aktionsreicher Volksglauben, ähnlich wie bei unseren religiösen Stätten im Mittelalter oder auch heute noch an manchen volks-katholischen Wallfahrtsorten. Folgen wir also den beiden historisch gewandeten Damen auf ihrem Weg durch den Tempelbezirk; wir werden sie später wiedertreffen.
Bevor man den eigentlichen Tempel betritt, gilt es erst, sich ein wenig zu präparieren. Es gibt dafür zwei unterschiedliche Reinigungsrituale, die aber offenbar nicht alle Besucher des Tempels gleichermaßen wahrnehmen. Eines davon ist die Reinigung mit Hilfe von Rauch. Dafür nehme man ein bereit liegendes Päckchen Räucherstäbchen und zünde dieses an einer Feuerstelle mit glühenden Kohlen an.
Dann stecke man das Räucherstab-Päckchen mit der rauchenden Seite nach oben in einen mit Sand gefüllten Räuchertopf. Wenn genug Tempelbesucher dies getan haben und der Wind entsprechend weht, klappt das mit der Reinigung ziemlich gut.
Man kann sich auch mit Wasser reinigen, was uns irgendwie geläufiger ist. An einem Brunnen stehen kleine Pfännchen dafür bereit. Mit dem in diese Pfännchen gefüllten Wasser aus den Drachenmäulern kann man sich dann den Mund ausspülen. Viele Leute waschen sich allerdings auch ganz profan die Hände damit.
Für den nächsten Schritt stellt man sich auf der Treppe an, die zum eigentlichen Tempel führt. Oben angekommen, wirft man ein Geldstück in eine Art Rost und verbeugt sich kurz. Ich hatte es oben schon klimpern gehört und deshalb einen ganzen Schwung kleiner Münzen aus dem Portemonnaie geholt. Falsch gedacht, es wird nur eine einzige Münze geworfen, deren Wert man allerdings selbst bestimmen kann. Alu klingt auf den Eisenstäben dabei nach argem Geiz.
Direkt vor dem Heiligtum gibt es noch einmal einen größeren Rost, und man kann beim Beten und Verbeugen auch ein bisschen länger verharren. Ich hatte aber das Gefühl, dass dieser Schritt nicht von allen Tempelbesuchern wahrgenommen wird. Übrigens war ich ein wenig überrascht, dass vielleicht nur jeder Hundertste hier am Tempel ein phänotypischer Nicht-Japaner ist. Ich hatte mit einem wesentlich höheren Touristenanteil gerechnet. Aber die meisten Japan-Touristen scheinen auf einer Gruppenreise hier zu sein, und wenn gerade kein Bus irgendwo gehalten hat, dann gibt es halt nur eine Handvoll Australier und ein paar Expats mit ihren Familien.
Der größte Spaß vor allem für Teenager und Twens scheint bei einem Tempelbesuch das Konsultieren des Orakels zu sein. Dafür nähert man sich mit einem bestimmten Wunsch diesem Schubladenschrank und wirft 100 Yen in den Schlitz vor den Fächern.
Hier treffen wir auch die beiden jungen Damen vom Eingang wieder und passen genau auf, um dann nachher nichts falsch zu machen. Nach dem Geldeinwurf nimmt man also die silberne Box und schüttelt sie, dass es nur so klappert. In dieser Box befinden sich ein paar Dutzend Stäbe, auf die jeweils eine (japanische) Nummer geschrieben ist. Wenn man glaubt, genug geschüttelt zu haben – und dabei nicht den Wunsch vergessen – kippt man die Box nach unten, und aus einem kleinen Loch am Boden fällt einer der Stäbe heraus.
Jetzt schön konzentrieren und die Nummer auf dem Stab mit den Nummerierungen der Schubladen vergleichen. Mit ein wenig Geduld findet Ihr dann die richtige Schublade und holt Euch einen der darin liegenden Zettel heraus.
Jetzt müsstet Ihr nur noch lesen können, was auf diesem Zettel steht. Die junge Dame auf dem Foto hat allem Anschein nach etwas Erfreuliches über ihre Zukunft lesen dürfen. Bei mir sah das nur so la-la aus: Mein Wunsch würde nicht in Erfüllung gehen, mir würde allerdings auch kein Unglück zustoßen. Eine größere Reise sollte ich vermeiden, eine Hochzeit absagen, mit dem Arbeiten aufhören und mich allgemein gelöst und abwartend verhalten. Der Menge der Zettel im Schubfach nach zu urteilen, scheine ich allerdings nicht der einzige zu sein, dem eine derartige Zukunft geweissagt wird. Es geht hierbei auch nicht um eine wortwörtliche Auslegung, sondern vielmehr darum, die Elemente in seinem Leben, auf die sich die Aussagen beziehen könnten, einfach ein bisschen zu überdenken. Übrigens – und um eventuellen Fragen zuvorzukommen – ich habe beim Tempelbesuch eine ganze Reihe von traditionell gekleideten Menschen gesehen, nicht nur die jungen Frauen auf den Fotos.
Obwohl am Schubladenschrank stand, dass man die Zettel mit nach Hause nehmen möge, haben viele Leute die Zettel gefaltet und an eine Art Gittergerüst in der Nähe geknotet. Ich habe das auch getan und dabei festgestellt, dass es durchaus kunstvollere Techniken gibt als meinen Schnürsenkelknoten.
Ein wahres Wunder gab es danach noch im Tempelgarten zu bestaunen: einen blühenden Kirschbaum, jetzt im Oktober. Ich hatte schon davon gelesen, dass eine bestimmte Sorte manchmal auch im Herbst zu blühen beginnt, wenn es dann noch ungewöhnlich warm sein sollte. Gestern waren 29 Grad im Schatten, und es gab seit dem echten Sommer offenbar noch keine einzige kühle Periode. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch soll allerdings ein Taifun über Tokio hinwegstürmen, mal schauen, wie das Wetter danach sein wird.
So viele Rituale machen irgendwie hungrig, und zum Glück gibt es entlang der Straßen vom und zum Tempel eine große Anzahl sehr traditioneller Essstände. Die meisten produzieren dabei typische Tempelsnacks, süß wie salzig. Am meisten hat mich die Tatsache beeindruckt, dass es sich dabei nicht etwa um reine Verkaufsstellen handelt, sondern dass alles in den kleinen Buden noch selbst hergestellt wird. Schaut Euch doch mal den kleinen Film an, den ich dabei gedreht habe:
Der Mann im Film stellt die sogenannten “Ningyo-yakis” her. “Yakis” heißen die mit Bohnenpaste (= “anko”) gefüllten Küchlein ganz allgemein, und “Ningyo” bedeutet “Puppe”, weil die Modeln in diesem speziellen Fall in Form eines Gesichts gestaltet sind.
So sieht ein solcher Ningyo-yaki von innen aus. Die Füllung besteht aus Azuki-Bohnen-Paste, der Teig außen herum ist ein leicht süßer Eierteig, eine Mischung aus Waffel- und Sandkuchenteig, würde ich sagen.
An anderen Ständen gibt es auch andere Formen, manchmal auch andere Füllungen. Hier habe ich einen “Taiyaki” gekauft, wobei “Tai” der Name für die Rote Seebrasse ist, also wieder auf die Form Bezug genommen wird. Die kreisrunden Kuchen heißen “Dorayaki”, denn sie erinnern in ihrer Form an den Gong (= “Dora”). Die Füllung meines Taiyakis bestand übrigens aus Kastanien- statt aus Bohnenmus, eine jahreszeitlich bedingte Variation.
Ihr werdet überall in den Gassen derartige Stände entdecken. Natürlich schmeckt alles frisch am besten, weshalb ich jeweils nur einen oder zwei der kleinen Snacks gekauft habe.
In diesem Fall (also der Stand vom oberen Bild) bestand das Küchle aus etwas zäherem, weißem Teig, also entweder mit Eischnee statt Eigelb bereitet oder mit Reismehl. Nach dem Eintauchen in Sesam- (links) bzw. Grünteeteig (rechts) werden die Bollen übrigens noch einmal ganz kurz in heißem Fett ausgebacken – aber niemals so, dass sie danach triefen würden.
Ich bin ja ein großer Freund von salzigem Knusperkram. Nachmittags zum Grüntee oder abends zum Bier gibt es einfach nichts Besseres. Die “Sembei” auf dem Bild oben, also die traditionellen Reiscracker, sollen in Tokio übrigens anders sein als in Kyoto, wie ich gelesen habe. Die Kyoto-Version sei saku saku, also eher knusperig-fein, während die Tokio-Version kari kari sei, wesentlich härter und knackiger. Den richtig guten Geschmack bekommen die Cracker nur, wenn sie über echtem Feuer gegrillt werden. Aus diesem Grund werde ich mir in Europa wahrscheinlich nie wieder solche Dinger nachkaufen, weil sie mich nur enttäuschen können.
Vier Versionen von Sembei gab es am Stand: die “normalen” Ungewürzten, diejenigen mit Sesamkörnern und zweimal in Nori eingewickelte Sorten, einmal “salty” und einmal “very salty”. Letztere scheinen dann am besten als Schnapsbegleiter geeignet zu sein.
Mindestens genauso geschmackvoll wie der Inhalt sind die Papiertüten und Tragetaschen, die man an diesen historischen Ständen bekommt. Eigentlich viel zu schade, um im Müll zu landen.
Die Perspektive auf der oberen Tasche mit der Tempellaterne und den ziegelgedeckten Häusern des alten Edo könnte doch direkt von einem Holzschnitt stammen.
Um hier aber keinen übertriebenen Romantizismus aufkommen zu lassen: Solche Stände wie der auf dem oberen Bild mit kreischbunten Anhängern und viel Plastik sind in der Tempelstraße von Asakusa eigentlich viel häufiger als die alteingesessenen Läden. Das führt dann vielleicht dazu, dass man bei einem Kurzbesuch des Tempels, von Menschenmassen und Andenkenkitsch geblendet, gar nicht richtig realisiert, wie viel vom alten Tokio tatsächlich noch in dieser Gegend steckt. Und wer das erste Mal im Gruppentrab hier durchgeschleust worden sein sollte, möge doch einfach noch einmal in Ruhe wiederkommen. Ich finde, dass es sich sehr lohnt. Und mit dem Blick aus der Tempelgasse auf den Skytree, der für mich irgendwie ganz verblüffend dem Blick aus einem arabischen Suq auf ein Minarett ähnelt, verlassen wir Asakusa ein bisschen reicher an Erinnerungen und ein bisschen ärmer an Münzgeld.
P.S. Falls Japanologen hier mitlesen sollten: Ich muss vermutlich nicht gesondert darauf hinweisen, dass ich selbst keiner bin. Philosophisch-philologische Ungereimtheiten und eventuelle Fehlschlüsse bitte ich daher zu verzeihen (und mir diese in den Kommentaren bitte mitteilen, denn ich möchte schon noch schlauer werden im Laufe der Zeit…).
Hab’ schon mein Köfferchen für die “gemeinsame” Weiterreise gepackt.
Als ehemaliger Japanologe gibt es da nicht viel auszusetzen. Ausser dass “Yaki” nicht unbedingt ein Gebäck bezeichnet, sondern irgend etwas Gebratenes, Gegrilltes, Gebackenes, oder auch Gefeuertes, wie Keramik.
Am günstigesten zum Werfen in den Klingelkasten sind die 5-Yen Münzen, wurde mir mal erklärt. Das hat was mit der Aussprache “GO-EN” zu tun, was auch noch irgendwas anderes bedeutet, was mir aber nicht mehr einfallen will.
Die ungünstigen Orakelsprüche werden an die Bäume geknotet, damit der Wind die Sprüche mitnimmt. Die guten nimmt man mit nach Hause.
Im selben Viertel hättest du auch gegrillte Neunaugen essen können, einer der wenigen Orte in Japan, wo es die gibt. Werden wie die japanischen Aale gegrillt, sind aber nicht so saftig und fettig.
Ich bin schon gespannt, was du als nächstes entdecken wirst…
Ah, interessant. “Yaki” ist also mehr die Technik, und die Silben davor beschreiben die Form. Die 5-Yen-Münzen sind vom Aussehen her die letzten “alten”, also mit chinesischen Zahlen. Und ein Loch in der Mitte haben sie auch, vielleicht klingt das ja besonders schön ;).
Neunaugen habe ich so auf den ersten Blick nicht entdeckt, aber man läuft ja schnell mal irgendwo vorbei. Ich hatte übrigens mal welche in Lissabon gegessen, sehr interessante Textur und auch nicht zu sumpfig: http://chezmatze.wordpress.com/2011/03/28/grusel-am-montag-neunaugen-risotto/
Die Fotos vom Risotto sehen ja sehr interessant aus…
Anbei noch eine kleine linguistische Hilfe beim Menü-Karten enträtseln:
焼 - yaki kennst du ja schon. Steht etwas davor, bezieht sich das auf die Aart der Zubereitung, steht es dahinter dann definiert es das zubereitete.
Beispiel: tai-yaki > Kuchen in Fisch (Tai)- form
yaki-tori > gegrillter Vogel (als Spieß)
蒸 - mushi : gedämpft
煮 – ni : gesimmert
揚 – age : frittiert
和 - ae : gemischt (meist “Salat”-ähnliche Gerichte)
炒 - itame :gebraten
Vielleicht irgendwann mal mehr…
Au weh, alles Kanjis ;). Vielen Dank dafür!
Für den Fall, dass Du noch kulinarische Oberliga-Ambitionen entwickeln solltest – mir wurde diesbezüglich folgender Link ans Herz gelegt:
http://theskinnybib.com/2013/02/08/tokyo-kyoto-food-best-sushi-kaiseki-tempura-restaurants-guide-japan/
Ansonsten wünscht noch viel Spaß
der Marqueee
Danke für den Link! Ja, ich beginne so ganz langsam, ein bisschen mehr zu verstehen. An meinem ersten Tag bin ich spontan in die Isetan Food Hall gegangen und fühlte mich komplett überfordert. Aus dieser Erfahrung heraus würde ich als Erstbesucher auch ganz anders vorgehen, aber das schreibe ich natürlich erst zum Schluss ;). Tokio ist – und das sage ich als jemand, der Paris sehr liebt – noch einmal einen ganzen Zacken schärfer als alles, was ich bislang gesehen habe. Natürlich fehlen hier (bis auf Koreaner und Chinesen) die großen Einwanderercommunities mit ihren Food-Traditionen wie eben in Paris oder London oder gar New York. Aber irgendwie hat jeder Spitzenkoch und Spitzenhersteller der Welt hier eine Dépendance. Und dann gibt es natürlich diese ungemein ausgefeilte japanische Küche. Schlichtweg irrwitzig, was es da alles gibt. Ein Glück, dass ich noch ein wenig bleiben darf…
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