Ein großer Süßwein ist etwas Erhebendes. Manchmal frage ich mich dann, ob ich überhaupt schon alt genug bin, um einen solchen Wein in seiner ganzen Würde erfassen zu können. Manchmal, wenn ich in kleinen Schlucken diesen konzentrierten Fruchtsaft trinke, frage ich mich aber auch, ob ich noch jung genug bin für eine derartige Leckerei. Meistens aber spreche ich ganz profitlich zu mir: „Wurde auch mal wieder Zeit!“ Heute möchte ich Euch einen großen Wein eines großen Meisters vorstellen, den ich zum Schluss allerdings auch einem grotesken Experiment unterzogen habe.
Der Winzer Mark Angeli ist ein Querkopf ersten Grades. Ursprünglich stammt er aus Korsika und hat später – soweit ich weiß – auf dem Festland als Bauingenieur gearbeitet. Über ein paar Schlüsselerlebnisse ist er dann zunächst beim Weinbau an sich und kurz darauf beim biodynamischen Weinbau mit allem Drum und Dran gelandet. Kurzerhand beschaffte er sich einen kleinen Hof (die Ferme de la Sansonnière) direkt am Rand der erstklassigen Lage „Bonnezeaux“ im Anjou, ein paar Kilometer südlich der Loire. Sein weinbaulicher Lehrmeister wurde Nicolas Joly mit seinem nicht allzu weit entfernt gelegenen Coulée de Serrant. Mit Nicolas Joly engagierte sich Mark Angeli auch von Anfang an in der Vereinigung „Renaissance des Appellations“, in der mittlerweile eine Vielzahl biologisch und biodynamisch arbeitender Betriebe nicht nur in Frankreich zusammen geschlossen sind.
Allerdings ging Mark Angeli schon immer einen entscheidenden Schritt weiter als die meisten anderen Winzer, die mit solchen Ideen sympathisieren: Er ließ sich Demeter-zertifizieren, arbeitet auf seinem Gemischtanbau-Hof weitgehend autark, lässt die Rebzeilen nur per Pferd, Pflug und Hand bearbeiten. Seine ungemein naturbelassene, damit aber extrem risikoreiche Art der Weinbereitung erforderte immer wieder kleine Kurskorrekturen wie die Zugabe von 20 mg Schwefel pro Liter, denn Essig möchte auch Mark Angeli seinen Kunden nicht anbieten. Dafür sind seine Weine auch zu teuer. Und so sieht Mark Angeli – mit großem Bedauern allerdings – seine Kundschaft auch nicht unter Landleuten in der Nachbarschaft, sondern nächstenfalls in Paris, eher aber noch in Skandinavien und in Japan, wo seine Naturphilosophie besonders geschätzt wird.
Mit den örtlichen Autoritäten steht er allerdings permanent auf Kriegsfuß. Erst wollten sie seinen Weinen die „Typizität“ der Appellation nicht zugestehen, woraufhin er öffentlich anmerkte, dass mit „typisch“ ja wohl Überertrags-Weine aus Industrieanlagen gemeint seien. Anschließend ließ er ein entsprechendes Statement auf die Rückseiten seiner Etiketten drucken. Mittlerweile geht er gar nicht mehr zur Appellationsprüfung und bringt seine Weine als „Vins de France“ auf den Markt. Als ich vor zwei Jahren bei Mark Angeli unangemeldet auf dem Hof stand, hatte ich deshalb ein etwas mulmiges Gefühl. Da kam er auch schon, der Bärbeiß, direkt von der Feldarbeit. Weine hätte er zu dieser Zeit auf dem Hof leider keine zu verkaufen, meinte er. Nachdem ich ihm aber gesagt hatte, dass ich schon oben in seinem Weinberg war und eigentlich eher der Philosophie wegen gekommen sei, da drückte er mir seine Streitschrift in die Hand: „La Colère des Raisins“, „die Wut der Trauben“. Einen Verlag hätte er dafür weder gefunden noch gesucht, aber für entsprechende Besucher hielte er ein paar Kopien bereit. Sprach‘s, verabschiedete sich und machte sich mit der Hacke wieder auf in den Weinberg.
Jetzt also zu diesem Prachtstück aus dem Jahr 1997. 100 Prozent Chenin blanc, hatte ich noch nicht gesagt, sollte aber den Loire-Kennern nicht neu sein. Wie reif die Trauben gewesen sein mussten – ohne Botrytis, soweit ich weiß – deuten schon die 13 vol% in diesem enorm fruchtzuckerhaltigen Getränk an. Bernsteinfarben eher als Golden steht der Wein im Glas, die Kirchenfenster sind beeindruckend. In der Nase kommen gleich Rosinen, getrocknete Aprikosen, Orangenschale und ein Hauch Tagetes, also etwas muffige Spätsommerblüten. An der Zungenspitze ist der Wein bereits ungemein viskos, wieder süße, getrocknete Aprikose, viele Gewürzeindrücke wie Senf, Curry und Kurkuma, dazu ein leichter Anklang nach Wiesenkräutern und irgendwie die Anmutung einer trocken-bitteren Baumrinde. Kein Kork, eher etwas Eichiges, aber zur genaueren Analyse müsste man vermutlich einen Biber befragen. Gehalten wird diese ganze süße und samtige Masse von einer feinen Säure, die den Wein trotz aller Reife nicht pappig werden lässt. Für diejenigen, die einen solchen Brummer von der Loire noch nicht getrunken haben, es ist (bei einer anderen Aromencharakteristik) eine Mischung zwischen einem Sauternes, der mehr Botrytis und weniger Säure hat, und einer ebenso großen Beerenauslese, die etwas schlanker und höher in der Säure sein mag. Eine große Sache jedenfalls, ganz ohne Zweifel.
Jetzt aber zum Experiment: Weil ich den Wein nicht mehr austrinken konnte vor meiner Abreise nach Lissabon, habe ich ungefähr ein halbes Glas voll in der Flasche lassen müssen, den Kork wieder draufgesetzt – und die Flasche einfach in der Wohnung stehen lassen. So, 30 Tage später, was ist passiert? Verblüffend wenig: Es gibt keinerlei Fehltöne, immer noch süß, Karamell, vielleicht etwas Waldhonig, gebrannte Mandeln, Senfmehl, nur die wiesenkräuterigen Noten sind verschwunden. Ein altersloser Wein in jeder Hinsicht und ein Meisterwerk. Irgendwie passt dazu, dass in diesem Fall auf dem Etikett kein böser Spruch steht, sondern eine Widmung an Pierre Desproges, einen früh verstorbenen politischen Kabarettisten.
Meine Punkte: Jeweils 8 für Eleganz und Charakter, macht 18,5 MP insgesamt. Ich hätte mir nur noch ein klein wenig mehr Säure gewünscht. Dieses Monument ist fast zu perfekt. Und wer Mark Angeli und sein extremes Nicht-Eingreifen kennt, der wundert sich noch mehr darüber, was uns Mutter Natur und ein großer Winzer hier zusammen geschenkt haben.
A propos geschenkt, das ist der Wein natürlich nicht. Ich habe dafür 45,60 € im Cave des Oblats in Lüttich gezahlt. Ich weiß ja, dass Ihr sowieso nicht hinfahrt und ich deshalb keine so große Angst haben muss, aber sie besitzen nur noch zwei Flaschen. Und eine davon könnte ich vielleicht noch mal zu meinem Siebzigsten benötigen.
Wenn es an Bibern zum Befragen mangelt, kann ich “gern” Kontakte herstellen.
Mit kollegialen Grüßen!
Ja bitte! Gestern war mir so, als hätte ich einen Biber im Bach gesehen. Hab leider verabsäumt, ihn wegen der Fassholzeignung anzusprechen.
Ich kann nur dazu raten, nicht anzusprechen. Die Folgen können unerhört sein!
Mein erster Loire-Wein war vor erst einigen Jahren ein Coulee de Sarrant , da war ich hin und weg. 2 Flaschen habe ich noch im Keller. Ob ich auf den 70er warte, bis ich ihn trinke? Eher nicht. Seitdem wähle ich Chenin Blancs gerne von Weinkarten und habe auch weniger teure im Keller. Über Angeli habe ich nur gelesen, aber noch nichts verkostet. 45 EUR scheinen mir für so einen prächtigen Wein angemessen, vor allem wenn man den Aufwand bedenkt, der dahinter steckt.
Ich persönlich rede mir ja den Mund fusselig, dass Chenin blanc eine der hierzulande unterschätztesten Rebsorten überhaupt ist. Aber nicht nur der Rebsorte, sondern der vielen guten Winzer wegen, die daraus mittlerweile tolle Weine in allen Preislagen bereiten. Bei Nicolas Joly war ich vor zwei Jahren auf dem Weingut. Es ist wie bei Mark Angeli: Ganz große, teils aber durchaus sperrige Weine. Also für den richtigen Moment. Wahrscheinlich ist der bei mir auch nicht mit 70, denn dann kann ich nur noch zwischen Apfelmost und Portwein unterscheiden 😉
Einer der bedauerlichen Effekte der Schließung von Fegers & Berts ist, dass es die Weine der Ferme de la Sassonière hier nicht mehr zu kaufen gibt. Die Weine von Mark Angeli sind ein weiterer Beweis des Potentials und der Größe des Chenins, wenn der richtige Winzer und die Natur zusammentreffen.
Leider wahr. Den letzten Wein von Mark Angeli, den ich bei FuB kaufen wollte, hatten sie gerade nach Schweden verschifft… So hat’s denn auch bei mir nicht zu einer würdigen Verabschiedung dieser Weinhandlung gereicht.
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